Der hölzerner Engel

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Thea hatte ihm schweigend zugehört, und während sie ihn betrachtete, seine schlanke Gestalt nur wenig größer als sie, das blonde, kurz geschorene Haar und die grauen Augen, die sie zwar etwas zerknirscht, aber dennoch voller Eifer anblickten, dachte sie plötzlich an ein anderes Gesicht: dichtes, dunkles Haar, eine breite Stirn, die lange gerade Nase und schwarze Brauen über braunen Augen, mit kleinen, gelben Sprenkeln darin.

Maik hatte all seine Überzeugungskraft aufgewandt, als er plötzlich bemerkte, dass sie völlig abwesend zu sein schien, fuhr er sie unbeherrscht an:

»Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?«

Thea schrak zusammen, fasste sich aber schnell: »Natürlich! Du schreist ja laut genug!«

»Aber du scheinst mich trotzdem nicht verstanden zu haben!«, brüllte er sie an.

Thea schenkte ihm einen langen, eisigen Blick, zuckte die Schultern und ging davon. Er schnappte zornig nach Luft und folgte ihr.

»Hör mal, was fällt dir ein, mich hier einfach so stehen zu lassen?«

Sie war die Treppe hinaufgegangen, verschwand in ihrem Schlafzimmer und drehte den Schlüssel hörbar um. Maik Lohberg stand einige Zeit unentschlossen im Flur, abwartend, ob sie es sich nicht doch noch anders überlegte, dann, nach einer vertanen Viertelstunde, verließ er geräuschvoll das Haus und fuhr mit dröhnendem Motor davon.

Als Thea den Wagen wegfahren hörte, überlegte sie, wie sie die nächsten Tage ihres Urlaubs in Ruhe ohne derartig lästige Störungen verbringen sollte. Maik würde nicht locker lassen. Sie war sich nicht so sicher, wie sie sich vorhin gegeben hatte. Hätte er sie in den Arm genommen, wäre er so sanft und zärtlich gewesen, wie sonst, dann hätte sie wohl eingelenkt. Aber ihm ging es ja nur um sein Ansehen, um seinen Ruf. An sie hatte er dabei nicht gedacht, dass jedenfalls hatte sie genau gespürt. Überhaupt hatte sie Maik nie so kennengelernt. Er hatte sich nicht einmal richtig bei ihr entschuldigt. Sie musste unbedingt mit Onkel Franz sprechen. Nur zu dumm, dass der gerade auf Mallorca war. Doch dann kam ihr eine Idee.

Entschlossen ging sie ans Telefon.

»Peng, Peng! Du bist tot! « Der Junge hatte leuchtend rotes Haar und war fünf Jahre alt. Er tobte mit einer Plastikpistole durchs Haus.

»Zum Donnerwetter! Gib das Ding her!«, brüllte Alfons Weiß und lief hinter seinem Sohn her. Der Kleine rannte hinaus in den Garten. Bevor er unter einem Nussstrauch verschwinden konnte, hatte sein Vater ihn am Pullover erwischt. Er packte den sich heftig wehrenden Jungen mit festem Griff und entwand ihm die Pistole. Sven zappelte und trat seinem Vater vor das Schienbein. Weiß klemmte sich den Jungen unter den Arm und brachte ihn ins Haus.

Andrea Weiß hatte mit gerunzelter Stirn ihre rothaarigen Kampfhähne beobachtet. Als sie jetzt im Wohnzimmer aufkreuzten, baute sie sich, die Hände in die Hüften gestemmt, vor ihnen auf.

»Ihr benehmt euch, wie kleine Kinder.« Mit einem zornigen Blick auf ihren Mann, der seinen Sohn nun wieder auf die Füße gestellt hatte, schnappte sie sich die Pistole.

»Sven, woher hast du die Pistole?«

»Gefunden.«

Sven schaute auf seine Fußspitzen. Andrea ging vor ihrem Sohn in die Hocke.

»Eine Pistole ist etwas ganz Gefährliches. Ich möchte nicht, dass du damit spielst.«

Sie schloss ihrem Sohn in die Arme und drückte ihn fest an sich. Alfons stand unentschlossen neben den beiden. Sven schaute seine Mutter trotzig an.

»Papa hat auch eine Pistole!«

»Ich bin Polizist!«

Alfons Weiß hatte sich ebenfalls hingehockt. In diesem Moment erklang ein gedämpftes Hupen.

»Das ist Jupp«, schrie Sven, und die Pistole war vergessen. Er rannte hinaus. Seine Eltern sahen einander etwas ratlos an. Kurz darauf kam Josef Tann mit Sven auf der Schulter herein. Er setzte ihn lachend ab und meinte: »Du bist ganz schön schwer geworden!«

Er fasste in seine Tasche und holte ein kleines Polizeimotorrad hervor. »Schau mal, was ich dir mitgebracht habe.«

Sven nahm das Fahrzeug und betrachtete es ausgiebig. »Wow, man kann sogar den Lenker bewegen.« Er setzte sich auf die Erde und schob das Krad hin und her.

»Sven, was sagt man denn?«, erinnerte ihn seine Mutter vorwurfsvoll.

»Danke, danke!«, alberte Sven herum und fuhr energisch fort: »Ina kriegt das nicht! Das gehört mit!«

»Natürlich gehört es dir«, bestätigte Josef Tann. »Alfons wir müssen los.«

Weiß gab seiner Frau einen Kuss, und zu seinem Sohn sagte er schelmisch mit dem Finger drohend:

»Bleib artig und pass auf Mama und Ina auf.«

Als sie im Auto saßen, frotzelte Tann: »Knies gehabt?«

»Knies? Nee, das nicht! Aber der Kleine hat seine Trotzphase. Andrea kriegt ihn nicht in den Griff.«

»Andrea?! Ich hatte eher den Eindruck, du kriegst ihn nicht in den Griff!«, lachte Tann.

»Egal, der Bengel macht im Moment nur Theater. Hatte sich von seinem Freund eine Plastikpistole ausgeliehen, um seine Mutter zu ärgern.«

Weiß lenkte den Wagen vorsichtig um einen abgestellten LKW herum. Die stark gewundene Straße war hier sehr schmal und wurde beidseitig von hohen Linden gesäumt. An einigen Bäumen waren Spuren von Kollisionen zu sehen. Die Fahrbahn war schlecht, alle dreihundert Meter standen Warnschilder. Trotzdem wurde die Straße von Motorradfans gern als Rennstrecke benutzt.

»Was du immer hast. Ich finde Sven ist eben ein richtiger Junge«, meinte Tann.

»Kannst ihn dir ja mal ausleihen«, brummte Weiß. Als er Tanns Grinsen sah, setzte er hinzu: »Ina war jedenfalls in dem Alter nicht halb so schlimm.«

»Ina war genauso ein Racker. Wenn ich an die Geschichte mit der Maus denke.« Tann schmunzelte.

Ina Weiß war im Alter von vier Jahren mit einer Maus in der Tasche ins Wohnzimmer gekommen und hatte sie bei ihrer Mutter auf dem Schoß laufen lassen. Das Mäuschen wollte sich instinktiv verstecken und war Andrea Weiß in den Ausschnitt gehüpft. Riesenspektakel im Hause Weiß war die Folge.

Alfons Weiß sah seinen Kollegen verärgert an. Die Mausgeschichte hatte eine ganze Zeit lang zur Erheiterung der Bekannten und Verwandten gedient. Seine Frau hatte kurzerhand die Koffer gepackt und war drei Wochen bei ihrer Mutter geblieben. Weiß wurde ungern daran erinnert.

Tann lehnte sich zurück und genoss es, sich fahren zu lassen. Er hatte die Seitenscheibe geöffnet und der Fahrtwind blies herein. Sie fuhren in Richtung Autobahn.

Der Hof Osthager lag etwa drei Kilometer von der Autobahnbrücke entfernt, an der sich Susanne Gressmer umgebracht hatte. Es war warm. Kommissar Weiß hatte den Wagen vor der Scheune abgestellt. Tann stieg aus und ging zielstrebig auf die eine kleine Seitentür zu. Weiß blieb im Wagen.

In der Scheune war es heller als erwartet. Von der anderen Seite ließen nachträglich eingebaute große Fenster viel Licht herein. Es herrschte ein ziemliches Durcheinander. Der Boden war von Sägespänen und Holzstücken übersät. Vor einem schweren Holztisch in der Mitte stand ein schlanker, junger Mann. Sein dunkles, lockiges Haar war fast schulterlang. Er arbeitete ohne aufzusehen weiter, als Tann eintrat. Interessiert betrachtete Tann eine fast lebensgroße Madonna.

»Gut Arbeit!«, lobte er. »Ist die Figur für eine Kirche bestimmt?«

Der junge Mann hob seinen Kopf und nickte. Tann ging nun direkt zu ihm hin zeigte seinen Ausweis.

»Tann, Kommissar Tann. Sind Sie Georg Osthager?« Ein weiteres Nicken war die Antwort. Tann hielt ihm ein Foto hin.

»War dieses Mädchen schon einmal hier in der Werkstatt?«

Osthager betrachtete das Foto und gab es ihm zurück.

»Ja, sie war hier. Mit ihrer Freundin.«

»Wollte sie etwas kaufen, oder kamen die Mädchen nur um sich umzusehen?« Osthager hatte seinen Meißel auf den Tisch gelegt und zuckte mit den Schultern.

»Ob sie etwas gekauft haben, weiß ich nicht«, sagte er bedächtig jedes einzelne Wort betonend.

»Waren sie häufig da?«

Wieder nickte Osthager und Tann überlegte, wo er ihn schon einmal gesehen hatte.

»Frau Gressmer sagte, ihre Tochter habe von Ihnen einen hölzernen Engel geschenkt bekommen. Stimmt das?«

Gerade als sein Gegenüber antworten wollte, öffnete sich die Tür und eine erboste Stimme erscholl:

»Machen Sie, dass Sie wegkommen, und lassen Sie meinen Bruder in Ruhe.«

Bekleidet mit einem karierten Hemd, einer Latzhose und Gummistiefeln erschien ein weiterer Mann in der Scheune. Er trug eine Mistgabel in der Hand und baute sich vor Tann auf.

»Sie sind schon der Zweite in dieser Woche, der meinem Bruder etwas ans Zeug flicken will.«

Tann hob abwehrend die Hände und zog seinen Ausweis hervor.

»Ich habe nur ein paar Fragen an Ihren Bruder. Vielleicht können Sie mir auch weiter helfen.«

Tann zeigte das Bild von Susanne Gressmer.

»Ist Ihnen etwas aufgefallen, als dieses Mädchen hier war? Hatte sie vielleicht einen Freund dabei?«

Georg Osthager begann wieder mit seiner Schnitzarbeit. Sein Bruder schaute einmal kurz zu ihm hin und meinte dann:

»Das Mädchen war ein paar Mal bei uns. Sie fühlte sich hier wohl. Meistens war eine Freundin dabei. Oft kam sie auch allein. Schorsch mochte sie.«

Er hatte leise gesprochen. Sein Bruder arbeitete weiter.

»Im Zimmer des Mädchens wurde ein hölzerner Engel gefunden. War der von Ihrem Bruder?«

Tann betrachtete prüfend das Gesicht seines Gegenübers.

Schorschs Bruder war von kräftiger Statur, er trug sein Haar kurz. In seinem Gesicht rührte sich kein Muskel. Er überlegte lange, bis er antwortete.

»Das ist durchaus möglich. War ein nettes Mädchen die Susanne. Schorsch hat öfter was verschenkt.«

 

Tann wendete sich zur Tür.

»Danke für die Auskunft.« Er war schon fast draußen, da fiel ihm noch etwas ein. »Wie war noch einmal Ihr Name? Nur fürs Protokoll.«

»Kurt Osthager, und das da ist mein Bruder Georg«, antwortete Osthager knapp. Tann verließ die Werkstatt.

Weiß stand an sein Auto gelehnt.

»Ich hab schon gedacht, du kommst gar nicht mehr raus! Was wolltest du da eigentlich? Der Fall Gressmer ist abgeschlossen.«

»Ich weiß!« Ohne ein weiteres Wort stieg Tann ein.

Erst als sie einige Kilometer gefahren waren, sagte er: »Vor drei Tagen war ich beim Pfarrer, um ihn ein wenig auszuhorchen. Nachdem was ich gehört habe, wollte ich mir ein Bild machen, das ist alles.«

»Und was hast du gehört?«, erkundigte sich Weiß.

»Georg Osthager hatte vor fünf Jahren einen schweren Unfall. Er ist mit seinem Motorrad mit voller Geschwindigkeit auf einen Traktor aufgefahren. Er hat lange im Krankenhaus gelegen. Zum Glück nur leichte Kopfverletzungen, wohl dank des Helms. Schwerste Verletzungen im Unterbauch. Beckenbruch, Milzriss und so weiter. Sein Studium konnte er nicht mehr fortsetzen.«

Alfons Weiß überholte einen Mercedes und schimpfte:

»Verdammt, Opa, wenn du spazieren fahren willst, dann nimm dein Fahrrad!«, fluchte er und fuhr fort: »Und was hat er studiert?«

»Literatur und Kunstgeschichte. Der Pfarrer hat gesagt, früher hat er auch gemalt. Nach einer Rehabilitationsmaßnahme hat er mit dem Schnitzen angefangen.«

Tann holte eine Mineralwasserflasche aus seiner Tasche und nahm einen kräftigen Schluck.

»Trotz allem verstehe ich nicht, was du von ihm gewollt hast. Er kann doch nichts dafür, dass die kleine Gressmer von der Brücke gesprungen ist!«

Tann zuckte die Schultern. »War nur so ‹ne Idee.«

Alfons Weiß fuhr auf den Parkplatz.

»Durch deine Ideen kommen wir jetzt zu spät zur Besprechung. Das erklärst du Brunger«, knurrte er.

Tann trottete neben ihm her und dachte, dass Lehrerinnen einem ganz schön zu schaffen machen können.

Die Sportstunde war ausgefallen. Veronika Brauer war verärgert. Immer die interessantesten Stunden wurden gestrichen. In der sechsten Klasse war der Deutschlehrer erkrankt und Frau Brant musste ihn vertreten. Veronika nahm ihre Sporttasche und ging zum Fahrradständer. Sie war mit Hilke Reichert verabredet. Hilke war neu in der Klasse. Ihre Eltern waren geschieden, und sie wohnte seit einigen Wochen mit ihrer Mutter in einem Mehrfamilienhaus in der Wortstraße. Veronika wartete nicht lange. Im Laufschritt kam Hilke heran und keuchte verärgert:

»Der Klausen meint, ich müsste viel nachholen. Dabei waren wir in Oelde im Englischen wesentlich weiter. Das bisschen Mathe hol ich schon auf.«

»Mach dir nichts draus, der Klausen hat sich immer so wichtig. Die Einzige, die bei dem ankommt, ist Marita«, sagte Veronika beschwichtigend und fuhr fort:

»Marita, wie lautet noch gleich der Satz des Pythagoras?!« Hilke lachte schallend. Veronika hatte ihren Lehrer perfekt imitiert.

»Toll, ich wusste gar nicht, dass du das kannst!«

Sie nahmen ihre Räder und fuhren Richtung Stadtpark. An der großen Rasenfläche stellten sie ihre Räder an eine Bank und setzten sich gemütlich ins Gras. Hilke war in Gedanken noch bei Herrn Klausen und ihren Aufgaben. Sie nahm ihre Tasche und kramte einen Zettel heraus.

»Was der mir alles aufgeschrieben hat.« Sie schüttelte den Kopf.

»Komm, steck das weg!«, sagte Veronika und setzte leise hinzu, »Susanne hätte den Klausen ausgelacht.«

»Susanne? Ist das die, die sich umgebracht hat?« Hilke hatte jetzt auch leise gesprochen. Veronika nickte.

»War meine beste Freundin. Ich hab keinen Schimmer, warum sie das gemacht hat. Komisch nicht?«

»Hatte sie denn Angst vor ihren Eltern?«

Hilke dachte daran, wie ihr Vater immer ausgerastet war, wenn sie mit einer schlechten Note heimkam.

»Susanne hatte nie Angst. Sie war super in der Schule. Marita war schon richtig sauer. Immer wenn sie eine Zwei oder Eins bekam, hatte Susanne garantiert auch eine. Die beiden waren immer im Wettstreit. Mir hat sie oft geholfen.«

Veronika war ins Schwärmen gekommen. Hilke spürte, wie ihr die Freundin fehlte.

»Vielleicht hatte sie ein Geheimnis. Etwas was niemand wissen durfte«, sinnierte sie.

Veronika legte sich lang ins Gras und verschränkte die Arme unter ihrem Kopf. Sie betrachtete ein Flugzeug, welches winzig klein und lautlos über ihnen dahin zog. Hilkes Worte beachtete sie nicht. Ihre Gedanken waren bei Susanne.

»Ihre Mutter ist in der Klapse. Sie ist völlig durchgedreht. Ist auch egal. Es ist vorbei.«

Hilke legte sich ebenfalls hin und betrachtete den Himmel. So lagen die Mädchen eine ganze Zeit. Plötzlich sprangen beide fast gleichzeitig auf.

»Es ist gleich zwölf. In zehn Minuten beginnt die Deutschstunde.«

Hilke packte als Erste ihre Tasche. Veronika stand aufrecht und schaute über die Wiese zu einem Paar hinüber. Sie beschattete die Augen, um besser sehen zu können. Das Paar war aber schon hinter dem nächsten Gebüsch verschwunden. Langsam nahm Veronika die Hand herunter.

»Wenn mich nicht alles täuscht, waren die beiden dort drüben Herr Klausen mit Marita.«

»Quatsch! Warum sollte Herr Klausen mit Marita spazieren gehen? Der ist doch verheiratet, oder?«

Hilke hatte ihr Rad geholt und die Tasche darauf verstaut. Veronika nahm ebenfalls ihre Tasche und legte sie auf den Gepäckträger ihres Rades.

»Natürlich ist er verheiratet. Aber seine Frau ist fast einen ganzen Kopf kleiner als er«, sagte Veronika nachdenklich.

»Na und, vielleicht trägt sie Highheels. Komm wir müssen los.«

Die Mädchen fuhren eilig in Richtung Gymnasium davon.

Die Deutschstunde hatte bereits begonnen, als sie in die Klasse stürmten. Frau Zobel, eine magere Endfünfzigerin, blickte tadelnd von ihrem Heft auf.

»Meine Damen, wenn Sie schon unpünktlich sind, dann stören Sie nicht Ihre Mitschüler.«

Frau Zobel sprach alle Schüler der beiden letzten Klassen mit »Sie« an. Die Mädchen grinsten einander an und setzten sich schnell auf ihre Plätze.

Die Klasse hatte »Andorra« vom Max Frisch gelesen. Das Thema sollte in Bezug zur Gegenwart von den Schülern diskutiert werden. Um den richtigen Einstieg zu geben, hielt die Lehrerin einen Prolog zur Judenverfolgung im Dritten Reich. Hilke stieß Veronika an und zischelte: »Marita ist nicht da.«

Kaum hatte sie es ausgesprochen, öffnete sich die Tür und die blonde, lange Mähne von Marita Zimmer wehte herein. Die Lehrerin, zum zweiten Male in ihrer Arbeit unterbrochen, reagierte gereizt.

»Zum Donnerwetter! Was ist denn heute los? Wo kommen Sie denn noch her?«

Marita Zimmer bekam einen hochroten Kopf und setzte sich schnell auf ihren Platz. Eine Antwort gab sie nicht. Die Lehrerin erwartete es auch wohl nicht, denn ohne weitere Erklärung fuhr sie mit ihrer Stellungnahme fort.

Veronika und Hilke sahen sich an und grinsten. Zu gern hätten sie gewusst, was Marita aufgehalten hatte.

Donnerstag. Markttag. In der Einkaufszone blühten die Bäume. Es war sonnig und mild. Gemütlich bummelte Cäcilia Brand über die Königsstraße zum Berliner Platz.

Es gab dort immer einen Stand, an dem man eingelegte Oliven und Tomaten, besonders leckeren Fetakäse und andere würzige Köstlichkeiten kaufen konnte. Der junge Mann hinter der Theke begrüßte sie herzlich. Sie kaufte häufig bei ihm. Die Ware wurde in kleinen, runden Holzfässern angeboten. Diesmal empfahl der Verkäufer Champignons, gemischt mit grünen Pfefferschoten eingelegt in Olivenöl. Cäcilia Brant war begeistert. Ein Plastikschälchen wurde gefüllt und mit einem Deckel dicht verschlossen.

»Hm! Eingelegte Champignons«, erscholl eine Stimme.

Der Verkäufer erkannte Tann und lachte.

»Herr Kommissar, lecker, möchten Sie probieren?« Ohne die Antwort abzuwarten, wog er ein weiteres Schälchen ab.

»Hallo, Jos, im Dienst?«, fragte Cil und verstaute die Champignons in ihrem Einkaufskorb.

»Hey, Cil.« Er grinste breit, ohne auf ihre Frage einzugehen, schaute in ihren Korb und meinte: »Ich glaube, wir gehen das nächste Mal zum Griechen.«

»Hast du frei?« Cil ließ nicht locker.

Er schüttelte den Kopf. »Nachtdienst.«

Sie hängte ihre Tasche über die Schultern.

»Kann man nichts machen. Viel Spaß dabei.«

Er hatte seine Ware bezahlt und hechtete er hinter ihr her. »Warte.« Sie blieb stehen. »Wie wär’s mit übermorgen? Dann hab ich abends frei.«

»Geht in Ordnung.« Sie lächelte.

»Ich hol dich ab«, sagte er.

Plötzlich ein schriller Schrei. Wie von der Tarantel gestochen stob er durch die Marktstände davon. Sein Schälchen mit Pilzen hatte er fallen lassen. Cil hob die Tüte auf und legte sie in ihren Korb.

Langsam folgte sie ihm. Hinter den Marktständen hatte sich ein Menschenauflauf gebildet. Cil sah Jos inmitten des Trubels. Er kümmerte sich um eine ältere Frau.

»Er hat sie von hinten umgestoßen und ihr die Handtasche entrissen«, berichtete die Frau neben ihr gerade.

Eine andere fiel aufgeregt ein: »Mit dem Fahrrad ist er auf sie zu gefahren.«

Jetzt wich die Menge auseinander. Zwei Polizisten kamen mit dem Fahrrad. Cil war sich sicher, dass Jos die Fahrradstreife informiert hatte. Die Uniformierten nahmen die Personalien auf und erkundigten sich bei den Umstehenden nach dem Vorfall. Sofort hatten mehrere Passanten das Interesse verloren. Die Menge löste sich auf. Der herbeigerufene Krankenwagen hatte keine Schwierigkeiten durchzukommen.

Cil sah, dass die Überfallene am Kopf blutete und einen Arm merkwürdig baumeln ließ. Sie war bemerkenswert ruhig. ›Wahrscheinlich der Schock‹, dachte Cil. Die Frau wurde von Jos gestützt, bis der Krankenwagen sie zum Krankenhaus brachte. Jos kam kurz darauf zu Cil.

»Wartest du auf jemanden?«

Sie nickte. »Du hast deine Pilze verloren.«

Sie holte das Schächtelchen aus ihrem Korb und reichte es ihm.

»Danke, daran habe ich gar nicht mehr gedacht.«

Sie gingen gemeinsam durch die Marktstände zurück.

»Wie ist es passiert?«, erkundigte sich Cil.

»Das übliche Spielchen. Sie hatten es auf die Handtasche abgesehen. Die alte Dame hat Glück gehabt. Leichte Schürfwunden, Arm gebrochen. Das ist schon der sechste Vorfall in vier Wochen. Immer dieselbe Masche. Junger Mann überholt in schneller Fahrt eine Frau und entreißt ihr die Tasche. Durch den Ruck werden die Frauen in der Regel zu Boden geschleudert. Dabei entstehen zum Teil erhebliche Verletzungen. In einem Fall hat eine alte Dame einen Schädelbruch erlitten, weil sie unglücklich mit dem Kopf auf einen Blumenkübel aufgeschlagen ist.«

Cil hatte still zugehört. »Habt ihr eine Ahnung, wer dahinter steckt?«

»Vielleicht ist es einer, vielleicht sind es mehrere. Die Täter sind so schnell, dass die Geschädigten sie nur schlecht beschreiben können. Dunkle Haare, schlanke Figur, jungenhaftes Aussehen, Jeanshose, T-Shirt. Das trifft auf so viele zu.«

Cil hatte in einer Seitenstraße geparkt. Sie schloss den Kofferraum auf und stellte ihren Korb hinein. Josef Tann wendete sich zum Gehen.

»Bis dahin! Ich hol dich ab.«

»Lass dir‘s gut gehen«, antwortete sie und ließ den Kofferraumdeckel zu fallen.

Es war kurz nach zehn Uhr abends, als bei der Leitstelle der Gütersloher Polizei ein Notruf einging. Eine verschreckte Frauenstimme war zu hören. Hastig berichtete sie über einen Einbruch bei ihren Nachbarn. Der Beamte, der das Gespräch entgegennahm, hatte Mühe die Dame zu beruhigen, um Namen und Anschrift zu erfahren.

Kurz darauf fuhr ein Streifenwagen los.

Kommissar Tann erschien eine knappe halbe Stunde später in der Alsenstraße. Der Polizeiwagen parkte vor dem hell erleuchteten Haus der Familie Gressmer. Einige Nachbarn standen herum.

Tann erkundigte sich bei seinem uniformierten Kollegen, der an der Eingangstür Posten bezogen hatte.

Frau Siemer, die Nachbarin, hatte gegen zehn Uhr im Nachbarhaus die Rollläden herunterlassen wollen. Im Haus herrschte ein schreckliches Durcheinander und sie verständigte sofort die Polizei.

Frau Siemer saß im Wohnzimmer. Sie war sehr blass. Auf Tanns Frage, wann sie das letzte Mal im Haus gewesen war, antwortete sie aufgeregt:

»Heute Morgen, Herr Kommissar. Jeden Morgen habe ich die Rollläden hochgezogen. Und nun das! Was wird nur Herr Gressmer sagen?! Er ist zur Kur.«

 

»Nun beruhigen Sie sich erst einmal, Frau Siemer. Wie können wir Herrn oder Frau Gressmer erreichen?«

Tann hatte sich in einen Sessel gesetzt. Zwei Männer der Spurensicherung waren gerade angekommen. Frau Siemer schaute ihnen interessiert zu. Sie wandte sich wieder an den Kommissar.

»Frau Gressmer ist im Krankenhaus. Herr Gressmer hat mir seine Adresse und Telefonnummer aufgeschrieben. Ich habe den Zettel dort drüben auf die Anrichte gelegt.«

Sie stand hastig auf, ging zur Anrichte und schaute sich suchend um. Alle Schubladen waren aufgezogen und der Inhalt zum großen Teil einfach auf den Boden gekippt worden. Tann trat zu ihr.

»Fassen Sie bitte nichts an, Frau Siemer. Unsere Leute werden den Zettel schon finden. Wissen Sie den Kurort?«

»Natürlich, Bad Oeynhausen.«

»Das hilft uns bereits weiter. Sie können jetzt nach Hause gehen, Frau Siemer. Wenn noch Fragen sind, werde ich mich an Sie wenden.«

Er geleitete die Frau hinaus. Draußen war es still. Die Anwohner hatten sich in ihre Häuser zurückgezogen.

Tann hatte sich Handschuhe angezogen und untersuchte die Sachen vor der Anrichte. Nach kurzer Zeit wurde er fündig.

Die Kollegen von der Spurensicherung waren schon fort. Tann hatte alle Räume angesehen, zuletzt das Zimmer der verstorbenen Tochter. Hier herrschte die größte Unordnung. Kopfschüttelnd verließ Tann den Raum. Das Durcheinander ließ darauf schließen, dass der Einbrecher etwas gesucht hatte. Aber was? Der Schmuck von Frau Gressmer lag verstreut auf dem Boden des Schlafzimmers.

Noch einmal überprüfte er das Schloss an der Haustür. Die Kollegen hatten keinerlei Hinweise auf ein gewaltsames Eindringen gefunden. Der Einbrecher musste im Besitz eines Schlüssels gewesen sein. Tann erinnerte sich, dass der Schlüssel von Susanne Gressmer verschwunden war. Hatte ihn jemand gefunden? Unwahrscheinlich. Er konnte sich eher vorstellen, dass jemand den Schlüssel die ganze Zeit gehabt und die Abwesenheit der Hausbesitzer genutzt hatte.

Die Nacht war warm. ›Richtiges Biergartenwetter‹, dachte Tann. An der Haustür hatte sich sein Kollege Klaus Mersch postiert. Ein weiterer Kollege saß im Wagen.

»Klaus, ich fahr ins Büro den Bericht machen.«

Mersch hatte es sich auf den Treppenstufen gemütlich gemacht. »Alles klar!«, rief er und Tann fuhr davon.

Gernot Gressmer traf gegen fünf Uhr in der Frühe vor seinem Haus ein. Tann erwartete ihn bereits. Gressmer begrüßte ihn nur kurz und ging hinein, um den Schaden zu begutachten. Tann folgte ihm wortlos. Nachdem Gressmer einige Zeit damit verbracht hatte, die einzelnen Räume zu inspizieren, ließ er sich im Wohnzimmer entnervt in einen Sessel fallen.

»Schrecklich! Die haben alles durchwühlt!«, stöhnte er.

»Ist Ihnen schon bewusst, welche Dinge fehlen?«

Tann hatte sich an die Anrichte gelehnt und betrachtete den Hausbesitzer aufmerksam. Gressmer hob hilflos die Arme.

»Bei dem Chaos! Wie soll ich da wissen, was fehlt?«

»Ist der Schmuck Ihrer Frau denn noch vollständig?«

»Ich glaube, ja. Schon komisch! Dabei hat meine Frau die Stücke extra versichern lassen!«

Tann horchte auf. »Interessant! Haben sie Fotos?«

»Sie sagen es! Dass ich nicht selbst darauf gekommen bin.« Er stand auf und ging zur Anrichte. »Die Fotos hatte meine Frau ganz unten in der Schublade.«

Er bückte sich und kramte eine Plastikhülle aus der Schublade.

Tann betrachtete die Fotos etwas abwesend. Er war erschöpft und müde von der langen Nacht. Das Gefühl, irgendetwas übersehen zu haben, wirkte sich auch nicht gerade motivierend aus.

»Herr Gressmer, die Spurensicherung hat ihre Arbeit erledigt. Sie können alles wieder einräumen. Einer unserer Beamten wird hier bleiben und Sie unterstützen. Bitte prüfen Sie alles genau. Wenn Fragen sind, in unserer Leitstelle ist immer jemand erreichbar.«

Er hinterließ die Telefonnummer und machte sich auf den Heimweg.

Zwei Tage später waren die Ermittlungen abgeschlossen. Die Polizei stand vor einem Rätsel. Fingerabdrücke waren ausschließlich von der Nachbarin und den Eheleuten Gressmer festgestellt worden. Nachdem Gressmer mit Unterstützung seiner Schwester aufgeräumt hatte, fehlte augenscheinlich nichts, nur eine teure chinesische Vase war zerbrochen. Einbruchspuren konnten nicht festgestellt werden.

Hauptkommissar Brunger hatte seine Leute zur Lagebesprechung zusammen getrommelt. Brunger gehörte zur Kriminalpolizei Bielefeld und war vom Präsidium für die Aufklärung von Mordfällen nach Gütersloh abgeordnet worden. Er leitete die Einsatztruppe im Fall Gressmer. Die Hände tief in den Taschen seiner schwarzen Jeans vergraben, marschierte er auf und ab, bis alle Platz genommen hatten.

»Der Fall Gressmer ist mir ein Rätsel. Keine Einbruchspuren, keine geraubten Gegenstände. Hat einer der Anwesenden eine Idee, was da geschehen ist?« Brunger beobachtete seine Kollegen aufmerksam.

»Vielleicht war es Gressmer selbst oder seine Frau, um die Versicherungssumme kassieren«, fiel Klaus Mersch ein. Erheiterndes Gelächter.

»Was will er denn kassieren, wenn nichts fehlt?«, knurrte Alfons Weiß.

»Also, meine Herren. So dumm finde ich die Idee gar nicht«, fiel Brunger ein. »Gressmer hat ein Alibi, aber seine Frau ist noch nicht befragt worden. Sie könnte theoretisch tagsüber das Chaos veranstaltet haben. Tann, Sie fahren noch einmal zu Gressmer. Danach besuchen Sie die Frau. Irgendwas ist da faul. Am besten machen Sie sich gleich auf den Weg.«

Tann erhob sich. »Okay, dann will ich mal los.«

Tann traf Gressmer im Vorgarten. Er trug derbe Gartenhandschuhe und beschnitt den Rosenstrauch.

»Tag, Herr Kommissar. Gibt’s noch was?«, fragte er, ohne mit der Arbeit einzuhalten.

Tann sah, wie sich beim Nachbarhaus die Gardine bewegte und meinte: »Es ist besser, wenn wir hineingehen.«

»Bin sofort soweit«, brummte Gressmer, griff seinen Korb und ging zur Haustür. Seine groben Gartenschuhe zog er aus und ging auf Socken ins Haus. Tann folgte ihm.

Etwa eine Stunde später besuchte Tann Frau Gressmer im Landeskrankenhaus. Er fand sie im Park. Sie machte einen zufriedenen Eindruck. Als Tann auf ihre Tochter zu sprechen kam, lächelte sie sanft:

»Susanne ist so ein nettes Mädchen.«

Sie sah durch die Bäume des Parks hindurch zum Himmel, als könne sie ihrer Tochter zuwinken. Tann verabschiedete sich schnell.

Ein kurzes Gespräch mit dem Arzt bestätigte ihm, dass Heidelinde Gressmer völlig verwirrt in ihrer eigenen Welt lebte. Seine Frage, ob Frau Gressmer zwischenzeitlich das Krankenhaus verlassen hätte, wurde verneint, allerdings räumte der Arzt ein, dass sie durchaus die Möglichkeit gehabt hätte.

Nachdenklich fuhr Tann zur Einsatzzentrale zurück. An seinem Schreibtisch wartete eine Menge Arbeit auf ihn. Sein Abschlussbericht war gerade fertig, als ihm etwas Wichtiges einfiel.

Gressmer war überrascht, als Tann vor der Tür stand.

»Herr Gressmer kann ich das Tagebuch Ihrer Tochter einmal sehen?«

»Natürlich! Kommen Sie.«

Auf dem Nachttisch in Susannes Zimmer lag der Holzengel. Von dem Tagebuch keine Spur.

»Es hat hier gelegen, neben dem Engel.« Gressmer schaute sich suchend um.

»War es vor dem Aufräumen noch da?«, erkundigte sich Tann und half bei der Suche.

Gressmer schaute ihn erstaunt an. »Sie glauben doch nicht etwa, der Einbrecher hat es mitgenommen?«

Tann nickte. »Könnte durchaus sein!«

»Und wozu wurde dann alles durchwühlt?«

»Keine Ahnung! Vielleicht hat der Dieb noch etwas anderes gesucht.«

Tann ging ans Fenster und schaute in den Garten. Der Rasen war geschnitten. Alles sah äußerst gepflegt aus.

»Beschäftigen Sie einen Gärtner?«, fragte Tann beiläufig.

Gressmer schaute erstaunt auf. »Ein Rentner aus der Nachbarschaft. Hat Langeweile. Der macht das gern. Fast umsonst.«

Tann grinste. Er wusste, dass viele Dinge unter der Hand erledigt wurden. Die Schattenwirtschaft blühte gerade im Kleingewerbe.

»Kommt der Mann regelmäßig?«, erkundigte er sich.

»So ein-, zweimal im Monat. Im Winter gar nicht.«