Der hölzerner Engel

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Sie verlor den Faden und hielt abrupt inne. Der Mann hatte sich aufgesetzt und starrte sie an. Er hatte große braune Augen mit kleinen, gelben Tupfen darin.

Erschrocken über ihren Wutausbruch senkte Thea den Kopf und schwieg. Langsam und wankend erhob sich der Mann. Er war fast einen ganzen Kopf größer als Thea. Unter dem Schmutz war sein Gesicht kalkweiß geworden. Seine Hände zitterten. Er versuchte eine knappe Verbeugung, die aussah, als suche er irgendwo Halt und sagte:

»Ich, äh ich wollte Sie nicht erschrecken. Würden Sie … könnten Sie mich bis zum nächsten Gasthof mitnehmen?«

Thea betrachtete ihn stirnrunzelnd. ›Na, der muss ja gebechert haben‹, dachte sie. Wie er wohl hierhergekommen war? Was ging sie das an?! Aber mitnehmen? Stets hatte Onkel Franz sie beschworen, nur ja keine Anhalter mitzunehmen. Und nun? Der Mann brauchte Hilfe. Wie ein Verbrecher sah er eigentlich nicht aus. Obwohl man sich da natürlich sehr täuschen kann, dachte sie mit dem Anflug eines Lächelns. Der Mann hatte sich nun etwas gefangen und deutete ihr Lächeln als Zustimmung.

»Ich würde Sie selbstverständlich bezahlen«, beteuerte er.

Sie musterte ihn erstaunt und meinte sarkastisch: »Wenn Sie Geld hätten, ganz bestimmt!«

Dann ging sie ohne weitere Worte um den Wagen herum, setzte sich hinters Steuer und schaute ihn abwartend an. Als er zögerte, fauchte sie:

»Die Tür müssen Sie schon selbst aufmachen.«

Er klopfte sich den Schmutz so gut es ging von der Kleidung und schwang sich wortlos auf den Beifahrersitz. Thea setzte ihre Sonnenbrille auf, fuhr den Wagen zurück auf die Straße und mit einem kleinen Hüpfer brauste der Käfer davon. Der Mann saß tief in die Polster gedrückt und Thea betrachtete ihn aus den Augenwinkeln.

»Wie heißen Sie eigentlich?«, fragte sie dann so unvermittelt, dass er zusammenschrak. Er war scheinbar eingenickt.

»Roland, Roland Winters!«, antwortete er und versuchte ein Lächeln.

Thea konzentrierte sich auf die Straße, denn es kam ihr gerade ein Lastwagen entgegen, dann meinte sie:

»Freut mich, ich bin Thea Mehrwald.«

Jetzt erst schaute der Mann sie richtig an. Er sah ihr halblanges Haar im Wind flattern und bemerkte die Tränenspuren auf ihrem Gesicht.

»Haben Sie geweint?«, fragte er ohne Umschweife.

Sie sah ihn entsetzt an und murrte, den Blick zurück auf die Straße gerichtet:

»Das geht Sie nichts an!« Eine Zeit lang fuhr sie schweigend, dann lächelte sie und lenkte ein: »Wo soll ich Sie hinbringen?«

Ihr Begleiter hatte mithilfe des Seitenspiegels versucht sein Aussehen etwas zu verbessern, allerdings ohne sichtbaren Erfolg.

»Ich weiß es nicht«, gestand er und blickte Thea unsicher an.

Ohne den Blick von der Straße zu lassen, schnaubte sie: »Was heißt, Sie wissen es nicht? Haben Sie kein Zuhause?«

Herr Winters hob resignierend die Hände. »Ich kenne mich nicht aus, ich bin hier absolut fremd und weiß überhaupt nicht, wie ich in diese Gegend gekommen bin.«

Mit quietschenden Reifen und einem kräftigen Ruck brachte sie den Käfer abrupt zum Stehen.

»Was wissen Sie nicht?«

Sie hatte ihre Sonnenbrille abgenommen und funkelte ihn zornig an. Er war bei ihrem heftigen Bremsmanöver mit dem Kopf gegen die Frontscheibe gestoßen, fasste an seine schmerzende Stirn und stöhnte:

»Oh, Mann! Sind Sie verrückt!«

»Wer hier verrückt ist, das wird sich gleich rausstellen«, fauchte sie, griff über ihn hinweg und öffnete die Tür.

»Verschwinden Sie aus meinem Wagen, aber dalli! Für Landstreicher habe ich nichts übrig!«

Roland Winters sah sie entsetzt an und hob abwehrend die Hände:

»Bitte, lassen Sie mich weiter mitfahren. Ich erkläre es Ihnen. Ich war mit Freunden Kegeln, anschließend sind wir noch in einer Bar gelandet, da hat es mir absolut nicht gefallen, und so habe ich mich in eine andere Bar bringen lassen. Irgendwann bin ich komischerweise in einem Auto wach geworden. Als ich gefragt habe, was los ist, habe ich einen Schlag auf den Kopf gekriegt. Am Straßenrand bin ich schließlich zu mir gekommen. Mein Geld, meine Scheckkarte, meine ganzen Papiere waren weg. Mir war schrecklich schlecht, und so habe ich mich zunächst unter dem Strauch zusammengerollt. Dann sind Sie gekommen. Bitte nehmen Sie mich weiter mit. Ich muss dringend zu Hause anrufen!«

Skeptisch blickte Thea ihn an.

»Das Telefongeld wollen Sie sicher von mir haben?! Wo wohnen Sie denn?«

»In der Nähe von Hannover.«

»Na, ja. Dann ist es ja kein Auslandsgespräch«, meinte Thea lakonisch und startete ihren Wagen erneut.

Von nun an herrschte Schweigen. Thea verfluchte insgeheim ihre soziale Ader. Nun hatte sie diesen Kerl am Hals. Kurzerhand entschloss sie sich, ihn einfach mit zum Wochenendhaus zu nehmen. Dort würde man weiter sehen. Roland Winters drückte sich tief in den Sitz und beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Sie gefiel ihm. Wenn ihm bloß nicht so schlecht wäre.

Mit einem Male stöhnte er: »Anhalten, bitte.«

Bremsen kreischten und der Käfer kam gerade noch rechtzeitig zum Stehen. Winters sprang mit einem Satz heraus und übergab sich im Graben. Missbilligend schaute Thea ihm zu, wartete, bis er zitternd wieder einstieg und fuhr kommentarlos weiter. Sie erreichten eine malerische, an den Berg geduckte Siedlung aus kleinen, hübschen Häuschen. Thea fuhr langsam eine kurvenreiche Straße hoch, bog rechts in einen Hof ein und parkte den Wagen unter einem Abdach.

»Wir sind da!«, sagte sie überflüssigerweise.

Sie wuchtete einen großen Frühstückskorb vom Rücksitz und ging einen schmalen, mit Rosen gesäumten Weg zum Haus. Winters folgte ihr zögernd.

»Na, kommen Sie endlich«, spornte sie ihn ungeduldig an, und als sie im Hausflur standen, wies sie auf eine Treppe:

»Die Treppe rauf, gleich die erste Tür rechts ist das Bad, ich schau mal, ob ich etwas zum Anziehen für Sie finde.«

Er war so verdutzt, dass er ihr noch nachschaute, als sie schon mit dem Korb verschwunden war. Sie steckte den Kopf durch die Tür und fuhr ihn an:

»Nun machen Sie schon, oder meinen Sie, ich serviere Ihnen in dem Aufzug Ihr Frühstück?«

Er beeilte sich und kam aus dem Staunen nicht heraus, als er das Bad betrat. Es war raumhoch gekachelt, modern eingerichtet und verfügte über Dusche und Badewanne. Auf der Konsole fand er alles, was er brauchte, Rasierzeug eingeschlossen. Gerade als er in der gläsernen Kabine den Schmutz von seinem Körper schrubbte, öffnete sich die Tür einen Spaltbreit, ein schlanker Arm legte ein Häufchen Stoff auf den Hocker und Theas Stimme erklang:

»Ein paar Sachen für Sie. Beeilen Sie sich, das Frühstück ist fertig.«

Wie spät war es eigentlich? Ein Blick zu seinem Arm zeigte nur zu deutlich, dass man ihm auch die Uhr gestohlen hatte. Nach dem Duschen rasierte er sich und hoffte, nicht plötzlich mit einem grimmigen Ehemann konfrontiert zu werden. Eigentlich war sie dafür zu jung. Sicher war sie nicht älter als zwanzig. Die Sachen, die sie hingelegt hatten, passten leidlich. Wer der Mann auch war, er war kleiner und dicker. Er kämmte sein dunkles Haar ordentlich und wurde sich schmerzhaft der Beule auf seinem Kopf bewusst, wenigstens blutete die Wunde nicht mehr. Es ging ihm zum Glück nicht mehr schlecht. Im Gegenteil, er freute sich auf das Frühstück. Selbst ohne Uhr wusste er jetzt, dass es bald Mittag sein musste. Langsam ging er die Treppe hinunter. Unten stand eine Tür offen und Theas Stimme erscholl aus einem Raum, wahrscheinlich war das die Küche:

»Mein Gott, Sie brauchen aber lange.«

Entschlossen ging er hinein. Es war wirklich die Küche, modern mit allem Schnick- Schnack ausgestattet. In einem hübschen Erker aus Glas, der aussah wie ein kleiner Wintergarten mit Blick auf einen grünen Hang, stand ein runder, reich gedeckter Holztisch mit bequemen Stühlen. Thea hatte gerade Kaffee eingeschenkt. Roland Winters blieb stehen.

»Wunderschön haben Sie es hier!«, meinte er anerkennend.

Thea wies auf einen Stuhl, auf dem er Platz nehmen sollte.

»Schön, dass es Ihnen gefällt. Möchten Sie Orangensaft?«

Winters setzte sich und nickte. »Ja, danke. Sie haben ein tolles Frühstück zusammengestellt. Machen Sie das immer so.«

Thea lachte. »Klar doch! Immer wenn ich jemanden auf der Straße auflese!«

Sie frühstückten schweigend. Winters stellte fest, dass seine Retterin sich umgezogen hatte, und ihr Haar war ordentlich gekämmt. Es war fast schulterlang, glatt und hatte die Farbe von frischreifen Nüssen. Ihr Gesicht war schmal, und Augen hatte sie, von einem ganz hellen Blau mit einem dunklen Rand um die Iris, aber irgendetwas machte ihren Blick dunkel und traurig. Das Lächeln erreichte ihre Augen nicht.

Thea hatte festgestellt, dass ihre Zufallsbekanntschaft jetzt nach der Dusche recht sympathisch aussah, und war erfreut, mit welch großem Appetit er zugriff.

Irgendwann erdrückte sie das Schweigen.

»Wenn Sie telefonieren möchten, das Telefon steht in der Diele neben der Eingangstür.«

Er nickte und stand auf.

»Ich helfe Ihnen aber noch beim Abräumen.«

Sie reagierte nicht darauf, und nachdem sie alles weggeräumt hatten, erledigte er sein Telefonat. Als er zurückkam, hatte Thea die Glastüren weit aufgemacht und sich im Garten in die Sonne gesetzt. Roland Winters kam näher und blieb unentschlossen neben ihrem Stuhl stehen. Thea nahm ihre Sonnenbrille ab und blinzelte ihn an.

»Wollen Sie sich nicht setzten?« Ihre Hand wies einladend auf den Stuhl neben sich und sogleich fuhr sie fort: »Na, was haben Ihre Leute gesagt?«

Roland Winters setzte sich.

»Mein Vater war zum Glück nicht zu Hause. Nur meine Schwester. Sie will meine EC--Karte sperren lassen, leider kann sie mich erst morgen abholen. Können Sie mir ein Hotel empfehlen?«

 

Thea hatte ihre Sonnenbrille wieder aufgesetzt und schaute gedankenverloren über den Hügel in den blauen Himmel.

»Ich weiß nicht.« Sie überlegte. »Vielleicht können Sie ja hier übernachten. Das Haus hat zwei Schlafzimmer.«

Roland Winters war überrascht, aber er ließ sich nichts anmerken.

»Wenn Sie die Möglichkeit haben«, erwiderte er gedehnt. »Was wird Ihr Mann dazu sagen?«

Abrupt drehte Thea sich zu ihm um: »Mein - was?«

Sie begann schallend zu lachen, lachte und lachte, bis ihr die Tränen kamen. Es dauerte einen Moment, bis Roland Winters begriff, dass sie wirklich weinte. Erschrocken strich er ihr vorsichtig und etwas linkisch übers Haar:

»Aber … aber …«, stotterte er, »ich wollte doch nicht … Hab ich etwas Falsches gesagt?«

Er konnte den plötzlichen Gefühlsausbruch nicht einordnen, verstand jedoch bald, dass nicht er die Ursache ihres Kummers war. Nach ein paar Minuten wischte sich Thea entschlossen durchs Gesicht und versuchte zu lächeln.

»Es ist … ist nicht Ihre Schuld«, schluchzte sie und unvermittelt stellte sie ihm die Frage:

»Sagen Sie, bitte ehrlich, finden Sie mich hässlich?«

Er war verdutzt und wollte abwinken, doch in diesem Moment hörten sie einen Wagen vorfahren, der ihm die Antwort ersparte.

»Oh Gott!«, flüsterte sie, »das ist Maik. Schnell verstecken Sie sich.«

In dieser Sekunde läutete es. Sie wischte sich hastig die Tränen ab und ging zur Haustür. Winters verschwand hinterm Haus in einem Gebüsch, von dem aus er die Terrasse übersehen konnte. Ein gut gekleideter, junger Mann, der Winters merkwürdig bekannt vorkam, trat auf die Terrasse und redete auf Thea ein:

»Sei doch nicht gleich eingeschnappt! Wir können doch wegen solch einer Lappalie die Hochzeit nicht abblasen! Die Einladungskarten sind schon verschickt! Thea, wie stellst du dir das vor?«

Thea warf sich in ihren Gartenstuhl und setzte ihre Sonnenbrille auf. Ihre Stimme klang hohl, als sie antwortete:

»Ich weiß nicht, was du von mir willst! Heirate meinetwegen Beate! Sie scheint ja sowieso bei dir ein und aus zu gehen.«

Maik Lohberg legte sich jetzt richtig ins Zeug.

»Thea, bitte! Lass dir doch erklären. Das mit Beate, das war doch nur Spaß. Ich liebe nur dich.«

Er beugte sich über sie, um sie zu küssen. Sie gab ihm eine Backpfeife, dass es nur so klatschte.

»Verschwinde!«, schrie sie, »oder ich hole die Polizei.«

Einen kurzen Moment blieb er stehen und schaute sich ratlos um, dann rannte er davon. Kurz darauf verriet das Geräusch seines Wagens, dass er wegfuhr. Thea nahm die Sonnenbrille ab und wischte sich durch das Gesicht.

»Puh, den wären wir los«, sagte sie.

Winters kam aus seinem Versteck hervor. »War das … äh.«

Er stotterte, weil er nicht so recht wusste, was er sagen sollte.

»Das war mein Verflossener, wir wollten heiraten«, vertraute ihm Thea an.

»Haben Sie sich gestritten?«, erkundigte sich Winters.

Thea schaute ihn an und entschloss sich, ihm die Wahrheit zu sagen, warum wusste sie selbst nicht.

»Ich habe ihn mit einer anderen erwischt«, eröffnete sie ihm.

Winters war überrascht ob ihrer Ehrlichkeit:

»So kurz vor der Hochzeit? Das war sicher alles nur ein Missverständnis, vielleicht war alles ganz harmlos!«, wollte er Thea trösten.

Thea schaute ihn zornig an. »Harmlos! Na, wenn das harmlos war, dann … dann …«

Und wieder rollten die Tränen. Roland Winters hätte sie am liebsten in den Arm genommen, traute sich aber nicht und versuchte sie zu beschwichtigen:

»Nicht weinen. Bitte nicht weinen.«

Thea schniefte und kramte ihr Taschentuch hervor. Als sie sich beruhigt hatte, sagte er leise:

»Sie haben so schöne Augen, viel zu schade für Tränen.«

Sie antwortete nicht. Sie saßen einige Zeit in Gedanken versunken nebeneinander. Nach einem prüfenden Blick, der Roland Winters ganzes Aussehen umfasste, fragte Thea plötzlich: »Können Sie schwimmen?«

Irritiert über ihren Stimmungswandel, konterte er scherzhaft: »Gibt es hier einen Gartenteich?«

Jetzt lachte Thea und ihre Stimme klang amüsiert: »Nein, aber in dreihundert Metern Entfernung liegt ein Stausee. Was ist, kommen Sie mit? Ich brauche dringend Abkühlung.«

Ohne seine Antwort abzuwarten, sprang sie auf, und kam nach einigen Minuten mit einer Tasche über dem Arm wieder.

»Kommen Sie, ich hab Handtücher und eine Badehose für Sie dabei.«

Der Weg zum See führte über einen kleinen Trampelpfad hinterm Gartentor an einer Wiese entlang und dauerte nur gut fünf Minuten. Kaum angekommen entledigte Thea sich bis auf einen knappen Bikini ihrer Kleider und sprang beherzt ins kühle Nass.

Roland Winters schaute ihr bewundernd nach. Sie war schlank wie eine Tanne, von fast jungenhaftem Aussehen und ihre Haut bronzefarben. Sie schwamm sicher und mit kräftigen Stößen weit hinaus. Schnell schlüpfte er in die Badehose, die sie ihm mitgebracht hatte, und folgte ihr. Das Wasser war eisig, aber schon nach wenigen Minuten hatte er sich daran gewöhnt. Nach zwei Stunden, von denen Thea eine nur mit Schwimmen zugebracht hatte, gingen sie gemächlich zurück. Sie verstanden sich gut und waren ohne Formalitäten zum Du übergegangen.

Das kleine Häuschen verfügte über jegliche Annehmlichkeit, die man auch in normalen Häusern findet. Nach dem Abendessen, das sie gemeinsam zubereitet hatten, erkundigte sich Roland: »Wem gehört das Haus, deinen Eltern?«

Thea beugte sich über die Spülmaschine, um das Geschirr einzuräumen und antwortete, ohne aufzusehen: »Meinem Onkel, er ist oft hier. Meine Eltern sind tot.«

›Verdammt, wieder ins Fettnäpfchen getreten‹, dachte Roland, laut sagte er: »Oh, das tut mir leid. Ich hab es nicht gewusst.«

Thea richtete sich auf und ließ die Tür der Spülmaschine zuschnappen.

»Schon gut. Ist heute nicht mehr so schlimm. Ich war siebzehn, da sind sie mit dem Auto verunglückt. Jetzt hab ich nur noch Onkel Franz. Von ihm sind die Sachen, die ich dir zum Anziehen gegeben habe.«

Roland schaute sie an. »Ist er nett? Ich meine deinen Onkel.«

Thea lächelte und ihr Gesicht wurde weich. »Er ist fantastisch. Ich wohne bei ihm auf dem Hof. Ich habe dort meine eigene Wohnung.«

Sie gingen hinaus auf die Terrasse und genossen die letzten Sonnenstrahlen. Roland Winters konnte sich Thea gut auf einem Pferderücken vorstellen und fragte sie: »Reitest du?«

»Leidenschaftlich gerne!«

Sie verstummte und schnell fiel er ein, um sie abzulenken:

»Toll, ich reite auch gern.«

Sie antwortete nicht und wieder war dieser traurige Ausdruck in ihrem Gesicht. Roland Winters verfluchte in Gedanken Maik Lohberg, trotzdem, irgendwo in seinem Innern freute er sich über den Ausgang. Bisher hatte er die Richtige noch nicht gefunden. Vielleicht war es doch nicht so schlimm, dass er in der Bar überfallen wurde, denn sonst hätte er Thea wohl niemals kennengelernt. Zwar war sie keine dieser oberflächlichen Schönheiten mit üppiger Oberweite und blonder Mähne, die die Titelblätter der Illustrierten zierten, aber auf ihre Art durchaus reizvoll. Ihr Gesicht hatte eine etwas breite Stirn und die Wangenknochen standen ein wenig vor, doch die blauen Augen wurden von dichten, langen Wimpern verdeckt und die Brauen bildeten schmale Bögen, die über der Nase fast zusammenstießen. Die gerade geformte Nase ließ das Gesicht etwas streng erscheinen, doch ihr kleiner Mund mit den vollen Lippen war sanft geschwungen, und wenn sie lächelte, erschienen zwei winzige Grübchen auf ihren Wangen, die ihr Gesicht angenehm verzauberten.

Im Moment war sie mit ihren Gedanken weit weg, und eine steile Falte zwischen ihren Brauen kündete davon, dass diese Gedanken keineswegs freundlicher Natur waren. Um sie abzulenken, erkundigte er sich nach ihrem Onkel.

»Ist dein Onkel Landwirt?«

Irritiert schrak Thea auf und lachte dann laut.

»Landwirt?! Um Gottes willen, nein. Er ist Arzt. Er hat einen Verwalter für den Hof.«

Winters war überrascht. »Wo liegt der Hof oder darf das niemand wissen?«

Thea lachte immer noch. »Natürlich nicht, in der Nähe von Gütersloh. Direkt an einem kleinen Dorf beim Industriegelände führt die Straße zu uns. Das Haus liegt etwa drei Kilometer vom Ort entfernt.«

Winters hakte gleich nach: »Dein … äh, dieser Maik, hat der auch einen Hof?«

»Maik? Nein! Er hat ein Haus in der Stadt. Maik ist Anwalt«, erklärte sie kurz und stand dann auf. »Mir ist kalt. Ich werde etwas fernsehen.«

Winters antwortete nicht. Er war sich jetzt sicher, Lohberg schon mit einer Frau gesehen zu haben. Sein Vater hatte den Namen Lohberg einmal erwähnt im Zusammenhang mit Grundstücksverhandlungen.

Roland Winters sen. war Besitzer der ROWI-Werke, er Roland Winters jun. sollte diese Werke einmal erben. Bisher hatte ihn das nicht sonderlich begeistert. Er hatte an der Ruhruniversität in Bochum studiert und war seit einem Jahr Diplombetriebswirt. Nach dem Abitur hatte er erst eine Ausbildung zum Wergzeugmechaniker absolviert, ungern, auf Wunsch seines Vaters, um sich besser im Herstellungsbereich auszukennen. Aber er hatte meistens den verwöhnten Sohn gespielt, sehr zum Ärger seines alten Herrn. In der letzten Zeit hatte er es außerordentlich schlimm getrieben. Er war nun dreißig Jahre alt, und seine Kneipenbummel nahmen immer groteskere Formen an. Dass er so betrunken war, und nicht einmal mehr wusste, mit wem er zusammen war, und wie er in diese Gegend gekommen war, war der absolute Höhepunkt. Wenn er Anzeige erstatten wollte, würde er der Polizei keinerlei Hinweise geben können, da er sich weder an den Namen der Bar erinnern konnte, in der er zuletzt gewesen war, noch an die Personen, die ihn ausgeraubt hatten.

Er hatte auf Wunsch seiner Schwester eine Druckerei auf einem Industriegelände in der Nähe von Schloss Neuhaus besichtigt. Danach war er mit dem Geschäftsführer in die Dorfkneipe gegangen. Sie hatten mit mehreren jungen Männern gekegelt. Der Druckingenieur hatte sich längst verabschiedet. Er hatte einen Taxidienst beauftragt, seinen Wagen nach Hannover zurückzubringen. Dann hatten sie weiter gefeiert. Später war er mit den anderen Männern durch etliche Kneipen gebummelt. Er konnte sich an keinen von ihnen richtig erinnern.

An diesem Abend auf der Terrasse des kleinen Häuschens im Sauerland schwor er Besserung. Vielleicht, wenn Thea wirklich diesem Anwalt den Laufpass gab, könnte er sich ja revanchieren und sie einmal zu einem Essen einladen.

Er saß so in Gedanken versunken auf der kleinen Terrasse, dass er gar nicht bemerkte, dass es allmählich dunkel wurde. Erst als der Mond als dünne Sichel hinter den hohen Bäumen auftauchte, raffte sich Winters auf und ging hinein.

Drinnen war alles still. Im Halbdunkel sah er sich nach einem Schalter um. Als er Licht gemacht hatte, entdeckte er einen Zettel auf dem Wohnzimmertisch.

›Ihr Zimmer ist rechts neben dem Bad. Thea‹

Er war erstaunt über die förmliche Anrede, war es nur ein Versehen oder sollte es einen besonderen Abstand verdeutlichen? Verärgert knüllte er den Zettel zusammen. Sie glaubte doch wohl nicht, dass er die Situation ausnutzen würde. Er schloss leise die Terrassentür und löschte das Licht. Langsam tastete er sich durch den fast dunklen Raum zur Treppe. Oben angekommen sah er eine Tür rechts neben dem Bad weit geöffnet. Ein weiterer Hinweis nur ja nicht im falschen Raum zu landen.

Bestimmt hatte sie auch noch ihre Tür verschlossen! Roland Winters zog geräuschlos die Zimmertür hinter sich zu, die gute Stimmung, die ihn den ganzen Nachmittag begleitet hatte, war dahin.

Am anderen Morgen wurde er schon früh durch das Gurren einer Taube geweckt. Zu seinem Erstaunen hatte er tief und traumlos geschlafen. Hastig stand er auf. Es war schon taghell. Zu dumm, dass er keine Uhr hatte! Aber sicher war es schon sieben.

Leise schlich er aus dem Zimmer ins Bad. Nach der Morgentoilette ging er gleich nach unten. In der Küche hörte er Thea rumoren.

»Na, gut geschlafen?«, erkundigte sie sich fröhlich, als er eintrat.

Sein Blick fiel auf die Küchenuhr. »Oh, so spät schon?«, fragte er schuldbewusst, denn es war fast acht.

Es duftete nach frischem Kaffee und in einem Korb standen knusprige Brötchen auf dem Tisch. Einladend wies Thea auf den Stuhl neben sich und lächelte.

 

»Im Urlaub muss man schließlich ausschlafen, oder?«

Sie hatte sich schon ein Brötchen mit Marmelade geschmiert und biss herzhaft hinein. Zögernd nahm er Platz, und Thea schenkte Kaffee ein.

»Milch und Zucker?«

Er nickte und verspürte augenblicklich einen entsetzlichen Hunger. Das Frühstück war genau nach seinem Geschmack. Es gab neben Marmelade auch verschiedene Sorten Wurst und Schinken, Tomaten und ein gekochtes Ei für jeden.

»Tolles Frühstück«, bemerkte Roland anerkennend.

»Ein gutes Frühstück verträgt jeden Tag, hat mein Onkel immer gesagt, und ich glaube, er hat recht«, schmunzelte Thea.

»Ein kluger Mann, Ihr Onkel!«, murmelte Roland, absichtlich förmlich, da er sich plötzlich an ihren Zettel vom Abend vorher erinnerte.

»Oh, so förmlich heute?«, belustigte sich Thea. »Ich dachte, wir waren per du.«

Roland hatte gerade den Mund voll, das gab ihm Zeit. Als er dann mit einem Schluck Kaffee nachgespült hatte, meinte er mit unschuldiger Miene:

»Oh, Pardon, Thea, ich glaube, ich bin heute noch etwas verschlafen.«

Er lächelte ihr zu und Thea fragte sich, warum zum Teufel dieser Typ überraschend rot wurde und, um ihre eigene Verlegenheit zu verbergen, stand sie auf und lenkte ab:

»Möchtest du noch etwas Kaffee?«

Roland beeilte sich, zuzustimmen.

Nach dem Frühstück ging er auf die Terrasse und genoss die warme Sommerluft. Es war ein strahlend schöner Tag und irgendwie bedauerte er, dass er schon bald abgeholt werden sollte. Just in diesem Augenblick fuhr ein Wagen vor und auch ohne hinzuschauen, erkannte er am Klang den knallroten Porsche seiner Schwester. Schnell ging er ins Haus, um sich von Thea zu verabschieden. Den missbilligenden Blick seiner Schwester wollte er ihr ersparen. Marianne konnte manchmal so gnadenlos direkt sein.

Zu spät! Thea war schon hinausgegangen und blickte interessiert auf den roten Flitzer. In ihrem etwas verblichenen Jogginganzug wirkte sie wie ein Aschenputtel gegen die elegante Dame, die gerade aus dem Auto stieg. Als Roland Thea bei ihr stehen sah, hatte er das Gefühl, sie beschützen zu müssen. Zum Teufel mit diesen aufgedonnerten Frauen, die alle anderen wie Mauerblümchen aussehen ließen. Verärgert strebte er an Thea vorbei, auf seine Schwester zu: »Marianne, du bist schon da! Dann kann es ja gleich losgehen.«

Marianne Winters nahm lässig ihre Sonnenbrille ab und blickte neugierig um sich.

»Hallo, Brüderchen! Welch hübsches, kleines Haus.«

Sie wandte sich an Thea. »Kann ich es mir mal ansehen?«

Thea lächelte freundlich. »Ja, natürlich. Kommen Sie nur herein.«

Sie sah Rolands Gesichtsausdruck und wusste nicht so recht, wie sie ihn deuten sollte. Aber er ließ ihr keine Zeit zu überlegen und sagte:

»Bitte, Marianne, warum denn der Aufwand, lass uns gleich fahren.«

Sein bestimmtes Auftreten brachte ihm einen vernichtenden Blick von Thea ein, und seine Schwester zog einen Flunsch: »Also wirklich, Roland, soviel Zeit werden wir gewiss haben.«

Sie zog ihre grellrot geschminkten Lippen zusammen und fuhr sich mit ihren rotlackierten Nägeln durch ihre blondierte Mähne und schüttelte sie. Dann grinste sie belustigt und meinte spöttisch:

»Keine Sorge, ich werde Vater nichts von deinem Liebesnest verraten.«

Roland Winters wurde rot und Thea schnappte nach Luft.

Marianne ließ sich dadurch nicht stören, stelzte auf ihren hochhackigen Schuhen zielstrebig auf Thea zu, reichte ihr die Hand und drängte:

»Ach, bitte würden sie mir das Häuschen einmal zeigen? So etwas habe ich mir seit einer Ewigkeit gewünscht.«

Thea nickte und beide gingen ins Haus. Verärgert blieb Roland draußen stehen. Lange würde sich Marianne bestimmt nicht aufhalten. Und er hatte recht! Kaum zehn Minuten später kamen die beiden Frauen wieder heraus. Jetzt war der Kontrast besonders deutlich. Es gab Roland Winters einen Stich, seine elegante Schwester mit ihrem perfekten Make-up und dem eng anliegenden, hellgrauen Kostüm neben Thea zu sehen. Theas blaue Augen glitzerten dunkel und auf ihren Wangen hatte sich ein zartes Rot ausgebreitet. Nun lächelte sie Marianne zu und ihre feinen Grübchen ließen das Gesicht aufleuchten, und in diesem Moment sah sie so zauberhaft jung aus, dass Roland Winters sie verwirrt anstarrte.

Thea reichte Marianne die Hand und verabschiedete sich.

»Besuchen sie mich doch einmal. Gleich hier in der Nähe ist ein wundervoller Stausee. Man kann dort herrlich schwimmen und faulenzen.«

Marianne öffnete die Fahrertür und antwortete: »Vielleicht, ich überleg es mir, danke.«

Sie schwang sich hinters Steuer. Roland beeilte sich Thea ebenfalls die Hand zu geben und meinte etwas steif: »Danke. Äh, ich, ich werde mich bei dir melden.«

Dann stieg er schnell ein, und als Marianne den Wagen mit Schwung zurücksetzte, sah er nur Theas etwas erstauntes, lächelndes Gesicht mit den Grübchen und dachte:

›Verdammt, ich habe sie nicht einmal nach ihrer Telefonnummer gefragt‹.

Seine Schwester betrachtete ihn belustigt.

»Roland, du hast dich doch nicht etwa in dieses Kind verknallt!«

Verärgert knurrte er: »Du spinnst ja.«

Dann wandte er sich ab, um ihren forschenden Augen zu entgehen und ließ sich den Fahrtwind durchs Gesicht blasen.

Thea hatte dem roten Porsche nachgeschaut. Was hatte dieser Roland Winters nur? War es ihm peinlich, mit ihr gesehen zu werden? Verstimmt ging sie ins Haus.

Roland Winters war ihr anfangs so sympathisch gewesen, aber nun!? Seine Schwester war so nett zu ihr gewesen, hatte aber nach einem kurzen Blick in die unteren Räume gemeint, ihr Bruder habe es wohl eilig und sich schnell verabschiedet. Marianne Winters hatte ihr gefallen, solch eine Schwester hätte sie auch gern gehabt, zum Bummeln und Einkaufen, zum Ausgehen und überhaupt. Aber Roland hatte sich benommen, als müsse er etwas vor seiner Schwester verbergen. So etwas Blödes! Wenn sie eine Schwester hätte, würde sie ihr alles erzählen.

Als Thea jetzt so mit ihren Gedanken beschäftigt durch den Flur ging, fiel ihr Blick auf ihr Bild in dem großen Dielenspiegel. Sie erfasste mit einem Male ihr ganzes Aussehen, den alten Jogginganzug, ihr strähniges Haar und dachte an die elegante Erscheinung von Marianne Winters.

Das war es also! Er hatte sich für sie geschämt! Was bildete der Typ sich eigentlich ein? Schließlich war es früh am Morgen und sie hatte Urlaub. Zur Arbeit ging sie auch nicht so salopp.

›Männer!‹, dachte sie grimmig. Entschlossen ging sie nach oben ins Bad und stellte sich unter die Dusche.

Kaum hatte Thea sich das Haar getrocknet und sich angezogen fuhr wieder ein Wagen vor. Natürlich Maik! Mit einem riesigen Rosenstrauß, der sein schlechtes Gewissen noch deutlicher machte, stapfte er herein.

»Was willst du?«, empfing Thea ihn, ohne ihm die Blumen abzunehmen.

»Thea, es tut mir leid!«

Er machte ein zerknirschtes Gesicht. Thea betrachtete ihn spöttisch und meinte kühl:

»Wenn du meinst, dass ich es mir überlege, hast du dich geirrt. Am besten du heiratest Beate, dann brauchst du nicht einmal die Gäste auszuladen.«

Sichtlich nach Fassung ringend legte Maik den Rosenstrauß auf den Wohnzimmertisch und holte tief Luft.

»Thea! Was sollen denn die Leute denken? Mein Vater wird entsetzt sein!«

Thea sah ihn stirnrunzelnd an.

»Wenn das deine einzigen Sorgen sind, kann ich dir leider nicht helfen. Mir ist es nämlich egal, was die Leute sagen! Und dein Vater ist mir auch egal!«

Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, wusste sie, dass es stimmte. Es ging doch hier nur um sie beide, oder?

Maik schien da anderer Ansicht, sein Gesicht nahm eine rote Färbung an, und als er nun sprach, spürte man deutlich den verhaltenen Zorn:

»Ich weiß nicht, wie du dir das vorstellst! Wir sind doch nicht allein auf der Welt. Die Gäste, der Pfarrer, dein Onkel … « Jetzt wurde er eifrig, als sei ihm eine Idee gekommen. »Du kannst das doch deinem Onkel nicht antun, Thea. Als Chefarzt steht er doch im Mittelpunkt des Interesses. Bitte, Thea!«