Please Kill Me

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Paul Morrissey: Nico war absolut spektakulär. Sie hatte definitiv Charisma. Und sie war interessant. Sie war unverwechselbar. Und dann hatte sie diese wunder­bar tiefe Stimme. Sie sah umwerfend gut aus. Sie war groß. Sie war eine Erschei­nung. Ich sagte:„Sie ist großartig, und sie sucht einen Job. Wir nehmen sie in die Band auf, weil die Velvets unbedingt jemanden brauchen, der singen kann und hinter dem Mikrofon die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen weiß. Sie sollte Lead­sängerin werden, und die Velvets könnten immer noch machen, was sie wollten.“

Al Aronowitz: Nico hat mich benutzt. Sie hat mich ziemlich angemacht, weil ich eben jeden kannte und mit allen Umgang pflegte. Ich meine, mir ist jeder in den Arsch gekrochen, und Nico hat mich immer scharf gemacht und mir ihre Möse versprochen, aber mich nie rangelassen. Für sie war ich einfach immer nur das einfältige Arschloch. Sie hat es mit jedem getrieben, aber ich war meiner Frau treu. Nico sagte zu mir:„Los, lass uns einen Ausflug machen.“ Also machten wir einen Ausflug zur Delaware­Schlucht, und sie hatte ein Fläschchen LSD dabei, das sie aus der Schweiz herausgeschmuggelt hatte, und tauchte ständig ihren kleinen Fin­ger hinein. Sie hat mir auch welches gegeben, und irgendwann waren wir total stoned, und dann wollte sie bei einem Motel anhalten. Ich sagte: „Klar doch.“

Wenn eine Frau sagt, dass sie gern bei einem Motel anhalten möchte, was bedeutet das für einen Mann? Aber für sie bedeutete das überhaupt nichts – es ist mir wirklich ein Rätsel, warum sie bei einem Motel anhalten wollte. Wir haben die Nacht nebeneinander und unter einer Bettdecke verbracht, aber sonst ist nichts passiert, denn sie hatte ihre Liebhaber immer am liebsten im halb toten Zustand – wie Lou Reed. Alle haben sie einen Teil von Nico bekommen, außer mir, hahaha. Bob Dylan hatte keine Affäre mit Nico, sondern hat nur einen Teil von ihr bekommen. Ich meine, sie alle haben nur einen Teil von ihr bekommen. Aber das war ihnen egal, sie wollten sie nur ganz schnell wieder los­werden und nicht von ihr belästigt werden.

Dann habe ich Nico zu Velvet Underground mitgenommen. Nico hatte ein­fach nie Geschmack, aber für Lou Reed hat sie sofort eine Leidenschaft ent­wickelt – weil sie eben die Vision hatte, selbst ein Popstar zu werden.

Und dann fing auch Nico an, bei Andy Warhol rumzulungern, der diese ganze Freakshow um sich versammelt hatte. Das war alles, was Andy Warhol hatte – eine Freakshow. Und das war es, was alle so magisch anzog. Er hatte die­sen Ort namens Factory, und da ging es zu wie auf einer Nebenbühne: „Her­einspaziert, schaut euch diese Freaks an!“ Und die gesamte High Society von Uptown kam hereinspaziert, um zu schauen. Mir haben sich immer die Nackenhaare aufgestellt, wenn ich in die Factory gegangen bin, weil mich diese arroganten Freaks mit ihrem arroganten und aufgesetzten Getue und ihrem stolzierenden Gang immer total angeekelt haben. Das war alles nur ein Getue. Nico wurde eine von ihnen – sie machte genau dasselbe. Aber ihr konnte man das verzeihen, weil sie so schön war, genauso, wie mir viele Leute vieles verzie­hen haben, weil ich gut schreiben kann.

Paul Morrissey: Natürlich hat es Lou Reed beinahe die Sprache verschlagen, als ich ihm sagte, dass wir in unserer Band eine Sängerin bräuchten, damit wir mehr Publicity bekämen. Ich konnte ihm schlecht plausibel machen, dass wir jeman­den bräuchten, der mehr Talent hätte als er, aber das war schon das, was ich meinte. Es ging Lou enorm gegen den Strich, mit Nico zusammenzuarbeiten, aber ich denke, dass sich John Cale gegen ihn durchsetzen konnte und er es als Teil der Abmachung akzeptiert hat. Und Nico biederte sich bei Lou an, in der Hoffnung, er würde noch einen Song für sie schreiben, was er allerdings nie tat. Er ließ ihr zwei oder drei unbedeutende Songs und ließ sie nichts anderes tun.

John Cale: Lou war damals völlig auf sich selbst fixiert und ziemlich tuntig. Wir nannten ihn Lulu, und ich war Black Jack. Lou wollte die Oberhexe sein und giftete jeden an, der sich in seiner Nähe aufhielt. Lou trieb sich immer mit irgendwelchem Pack herum, und in der Factory wimmelte es nur so von Trans­vestiten, mit denen er um die Häuser ziehen konnte. Lou war allerdings von Andy und Nico geblendet. Er war total verunsichert durch Andy, weil er einfach nicht glauben konnte, dass jemand so wohlwollend und trotzdem so bösartig sein konnte – auf dieselbe transvestitische Art, wie Lou es war, wenn er seinen sprudelnden schwulen Humor raushängen ließ.

Lou versuchte, mit ihnen in Konkurrenz zu treten. Zu seinem Unglück war Nico ihm haushoch überlegen – Nico und Andy hatten leicht unterschiedliche Ansatzweisen, aber sie übertrumpften Lou immer wieder aufs Neue. Andy war uns gegenüber immer sehr aufmerksam, was Lou nie ganz nachvollziehen konnte. Er konnte Andys freundschaftliche Gefühle nie richtig begreifen. Was noch schlimmer war: Immer wenn Lou etwas richtig Zickiges geäußert hatte, war Andys Antwort noch viel zickiger – und charmanter. Das machte Lou wütend. Nico hatte dieselbe Wirkung auf ihn. Sie konnte beispielsweise Äuße­rungen machen, auf die Lou überhaupt nichts zu sagen wusste. Man sieht also, dass Nico und Lou so etwas wie eine Affäre hatten, sie ergänzten und behin­derten sich gegenseitig in einer Zeit, in der Lou ihr psychologisch angehauchte Liebeslieder wie „I’ll Be Your Mirror“ und „Femme Fatale“ auf den Leib schrieb.

Als ihre Affäre in die Brüche ging, konnten wir uns davon überzeugen, dass Nico mit nur einem einzigen destruktiven Einzeiler die Herrin rauskehrte. Ich erinnere mich, dass wir uns eines Morgens zu Proben in der Factory verabredet hatten. Nico kam wie immer zu spät. Lou begrüßte sie mit einem ziemlich unterkühlten Hallo.

Nico stand einfach nur da. Man konnte merken, dass sie sich mit ihrer Ant­wort so lange Zeit lassen wollte, wie es ihr passte. Nach reiflicher Überlegung und wie aus heiterem Himmel sagte sie schließlich: „Ich will nicht länger mit Juden schlafen.“

Nico: Lou liebte es, Frauen zu manipulieren, so, als würde er sie programmie­ren wollen. Das hätte er mit mir auch am liebsten gemacht. Das waren seine eigenen Worte. Als wollte er mich computerisieren.

Danny Fields: Jeder war in jeden und jede verliebt. Wir waren alle wie die Kin­der, und es ging zu wie auf der Highschool. Ich fühlte mich wie mit sechzehn, der eine liebt die eine in dieser Woche, und ein anderer liebte jemand anderes in der Woche nicht, dafür aber jemand anderes, und immer gab es diese Drei­ecksbeziehungen, irgendwie war das alles nicht ganz ernst zu nehmen. Es ging zufällig um Leute, die später einmal sehr berühmt wurden, weil sie schön und sexy waren, aber das war uns damals überhaupt nicht bewusst, wir haben uns einfach immerzu verliebt und entliebt – wie sollte man da verdammt noch mal nicht den Faden verlieren?

Jeder war in Andy verliebt und dann natürlich wieder nicht mehr, und Andy war in jeden verliebt und dann wieder nicht mehr. Aber die Leute, die am meisten verliebt waren, waren diejenigen, die am wenigsten gevögelt haben – wie Andy zum Beispiel. Ich meine, die Leute, die man wirklich gut kannte und die mit Andy ins Bett gegangen sind, konnte man wirklich an den Fingern einer Hand abzählen. Und es waren nur sehr, sehr wenige, die mit Edie oder Nico ins Bett gegangen sind. Es gab wirklich nicht sehr viel Sex, sondern eher Ver­liebtheiten. Sex war irgendwie schweinisch. Und ist es immer noch.

Jonas Mekas: Mir kamen Andy Warhol und seine Factory immer vor wie der Sigmund Freud der Sechzigerjahre. Andy war Freud. Er war der Psychoanaly­tiker, und in der Factory stand die große Couch, und Andy war da und sagte nie viel, aber man konnte alles in ihn hineinprojizieren und alles bei ihm abladen, ihm alles an den Kopf werfen, ohne dass er einen dafür fertig machte. Andy war für die anderen Mutter, Vater und Bruder, alles in einer Person. Das war der Grund, weshalb sich die Leute in seiner Gegenwart so wohl gefühlt haben – sie konnten Teil eines Films sein, sie konnten einfach sagen und tun, was sie woll­ten, weil sie niemals kritisiert wurden. In dem Punkt war Andy einfach genial. Andy bewunderte all diese Stars und wollte all diesen kaputten und einsamen Seelen, die in die Factory kamen, Freude bereiten. Andy bezeichnete sie als „Superstars“.

Sterling Morrison: Irgendjemand machte den Vorschlag, dass wir bei einer Psychiaterversammlung spielen sollten, und ich fragte:„Fällt uns wirklich nichts Besseres ein?“

Maureen Tucker: Ich habe absolut keine Ahnung, weshalb sie uns gebeten haben, dort zu spielen – zweihundert Psychiater und wir, diese Freaks aus der Factory. Hinterher haben Gerard und Barbara Rubin einfach mit ihren Casset­tenrecordern und Kameras weitergemacht, sind an alle Tische gegangen und haben die merkwürdigsten Fragen gestellt. Die Leute waren völlig perplex und von den Socken. Ich habe mich einfach zurückgelehnt und gefragt: „Was zum Teufel machen wir hier eigentlich?“ Dann kam mir in den Sinn, dass diese See­lenklempner meinten, dass sie sich vielleicht Notizen machen sollten oder so.

Billy Name: Die Psychiaterversammlung begann als ausgemachter Schwindel. Wir haben uns sofort unter sie gemischt, als sie ankamen, aber es herrschte sowieso eine Atmosphäre, als würde Edie Sedgwicks Tante eine Riesenparty schmeißen. Wir hatten uns natürlich vorgenommen, uns mit jedem zu unter­halten, wir wollten sie aber nicht behandeln, als ob sie Gäste, sondern eher als ob sie Edies Verwandtschaft wären. Einigen von ihnen habe ich erzählt, dass ich als Teenager Otto Rank gelesen hätte, und ich sagte: „Als ich hörte, dass Rollo May an der New School unterrichtete, habe ich einige Kurse belegt, einfach nur, um mir einen Eindruck zu verschaffen …“

Die Velvets haben dann auf offener Bühne ihre Instrumente gestimmt, und als sie dann ihre Vorstellung gaben, war das einfach Teil der Atmosphäre, wie eine Unebenheit im Abendprogramm.

 

Die Presse hat dann darüber berichtet, als handle es sich um eine ironische Konfrontation, was es allerdings überhaupt nicht war. Wir haben niemanden schockiert. Psychiater mögen steif sein, aber sie haben einen Sinn für Humor und sind alles andere als blöd. Es war eher spielerisch und nicht auf Konfron­tation ausgerichtet. Barbara Rubin machte dann so merkwürdige Dinge wie ihre Augen mit Lichtblitzen zu blenden oder ihnen Mikrofone ins Gesicht zu hal­ten, diese Konfrontationstechnik eben, die im Grunde bereits mit dem Living Theater begonnen hatte. Für mich war das ein alter Hut. Ich kannte diese Num­mer bereits, deshalb hat es mich nicht vom Hocker gerissen.

Die Psychiaterversammlung war trotzdem wichtig, weil sie in der Factory eine neue Ära einläutete, nämlich das Zeitalter der Chelsea Girls. Bevor Nico und Velvet Underground auftauchten, standen immer Edie Sedgwick und Andy Warhol im Mittelpunkt. Andy und Edie. Wie siamesische Zwillinge. Eine Zeit lang hat sie sich ihre Haare auch silber gefärbt, und die beiden sind dann als Paar aufgetreten. Sie waren so was wie Lucy und Desi der Künstlerszene (Lucille Ball und Desi Arnaz waren in den Sechzigerjahren ein populäres Komikerduo; Anm. d. Ü.).

Aber die Nacht der Psychiaterversammlung läutete das Ende der Edie­Sedgwick­Ära ein.

In dieser Nacht tanzte sie mit den Velvets auf der Bühne. Sie tanzte ziem­lich cool – Edie war sowieso immer ziemlich cool.

Gerard Malanga: Direkt im Anschluss daran spielten die Velvets eine Woche lang in der Cinemathèque. Jonas Mekas hatte Andy den Vorschlag gemacht, dass er dort eine Filmretrospektive starten wollte. Andy hatte die Idee, eine Edie­Sedgwick­Retrospektive zu drehen, aber nachdem er dann die Velvets im Café Bizarre getroffen hatte, wandelte sich seine Idee doch zu etwas Größerem.

Paul Morrissey: Die Woche in der Cinemathèque soll eine Edie­Sedgwick­Filmretrospektive gewesen sein? Totaler Quatsch. Völlig absurd. Gut möglich, dass wir damals immer noch versucht haben, Edie zu helfen, und vielleicht hat­ten wir auch noch Filmaufnahmen von ihr, auf denen sie nichts weiter tut, als in der Gegend rumzulaufen.

Jonas Mekas hat nicht Andy die Cinemathèque angeboten. Er hat sie mir angeboten. Er fragte mich:„Hast du irgendetwas, das wir in diesem Theater, das ich gemietet habe, aufführen können?“ Und ich habe ihm geantwortet: „Wieso zeigst du nicht einige Filme, und wir stellen unsere Gruppe vor?“

Wir zeigten eine Stunde lang Filme auf einer Doppelleinwand, und danach spielten Velvet Underground vor einigen weiteren Filmen ebenfalls eine Stunde lang. Das war alles. Es war schon okay. Ein Job eben.

Lou Reed: Andy hat seine Filme auf uns projiziert. Wir waren alle schwarz angezogen, damit man die Filme sehen konnte. Aber wir waren sowieso immer alle schwarz angezogen.

Billy Name: Das nannte sich „Uptight with Andy Warhol“ , aber es war nicht ausschließlich ein Andy­Warhol­Filmfestival, es war eher ein Happening, bei dem auch Filme von Andy Warhol gezeigt wurden – die Filme wurden auf die Leute projiziert, die in den Filmen mitgewirkt haben, während sie zur Musik auf der Bühne getanzt haben. Wir hatten einen Film von Velvet Underground und Nico, den wir dann auf sie projizieren konnten, während sie in der Cine­mathèque aufgetreten sind.

Die ganze Veranstaltung hieß zuerst „Uptight“, denn wenn Andy ein Projekt realisieren wollte, wurden erst mal alle nervös. Andy verkörperte so etwas wie die Antithese dessen, was die romantischen Avantgardekünstler damals darstellten.

Filmemacher wie Stan Brakhage und Stan VanDerBeek waren nach wie vor die Helden unter den Bohemiens der Künstleravantgarde. Andy dagegen war noch nicht einmal ein Antiheld. Er war einfach nur eine Null. Und es ging ihnen mächtig gegen den Strich, dass Warhol als der Initiator dessen angesehen wurde, was eigentlich ihre Erfindung war. Deshalb wurden alle immer furchtbar ner­vös, wenn er irgendwo auftauchte.

Dann zuckten all die anderen Underground­Filmer zusammen, als hätte jemand mit der Kreide auf der Wandtafel gequietscht: „Oh nein, nicht schon wieder dieser Andy Warhol!“

Nico: Mein Name stand in der Programmankündigung irgendwo ganz weit unten, und ich brach sofort in Tränen aus. Andy tröstete mich, sagte, ich sollte mir nichts daraus machen, da es sich nur um einen Probeauftritt handle. Sie spielten die Aufnahme von dem Dylan­Song „I’ll Keep It With Mine“, weil ich sonst nicht genug zum Singen gehabt hätte. Lou wollte alles singen. Ich musste einfach nur dastehen und mitsingen. Und zwar eine Woche lang jeden Abend. Das war mit Abstand das dümmste Konzert, das ich je gegeben habe.

Edie Sedgwick versuchte ebenfalls mitzusingen, aber das war ein absoluter Reinfall. Danach hat man sie nie wieder auf der Bühne gesehen. Es war sozu­sagen ihr Abschied und gleichzeitig meine Premiere.

Billy Name: Edie war über die Entwicklung ihrer Karriere mit Andy alles andere als glücklich, was natürlich auch damit zu tun hatte, dass sie unterdessen, zusammen mit mir, Ondine und Brigid Polk, auf Speed war – was natürlich ver­heerende Auswirkungen auf jede Karriere hatte, denn man konnte nichts ande­res tun, als zuhause zu hocken, weil man sechs Stunden lang völlig fertig war.

Nico: Es gibt Dinge, die werden einem in die Wiege gelegt, und Edie wurde in die Wiege gelegt, dass sie an ihren Vergnügungen sterben würde. Sie sollte an ihren Drogen sterben, wo auch immer sie die herhatte.

Sterling Morrison: Als wir das erste Mal in die Factory kamen, waren wir alle auf Beruhigungsmitteln – wir haben Thorazine und alle möglichen Barbiturate gefressen. Seconal und Thorazine waren die absoluten Renner. Thorazine konnte man sich ganz einfach vom Arzt verschreiben lassen – irgendjemand hatte immer ein Rezept. Das war ein richtig gutes Zeug aus der Apotheke.

Normalerweise wurde Thorazine nur bei gefährlichen Psychoten ange­wendet, weil es einen definitiv ruhig gestellt hat. Es versetzte einen in eine Art katatonischen Zustand, hahaha. Ich habe das Zeug immer mit Alkohol runter­gespült und war dann jeden Morgen ganz gespannt, ob ich noch am Leben bin.

Ronnie Cutrone: Wenn man in der Factory aus dem Lift stieg, sprang einem als erstes das Schild ABSOLUTES DROGENVERBOT ins Auge, das Paul Morris­sey dort aufgehängt hatte. Mittlerweile war es üblich geworden, dass sich alle ihre Schüsse im Treppenhaus setzten. In der Factory nahm denn auch tatsäch­lich niemand irgendwelche Drogen, außer Andy, der immer Obetrol genom­men hat, diese kleinen orangefarbenen Speedpillen. Er nahm jeden Tag eine, wenn er anfing zu malen, denn er war ein Workaholic. Das war wirklich seine Droge. Alle anderen setzten sich ihre Schüsse im Treppenhaus.

Allerdings nur Methedrin. Da waren wir Puristen. Die anderen nahmen Acid. Ich war damals bereits weg vom Acid. Ich war auf Methedrin, weil man ja schließlich uptight werden musste. Mit uptight assoziierte man normalerweise etwas Positives, zum Beispiel den gleichnamigen Song von Stevie Wonder, bei uns bedeutete es allerdings eher rigid und paranoid. Daher also Methedrin.

Ed Sanders: Ich kannte Andy Warhol bereits, bevor er sich mit diesen merk­würdigen Subjekten umgab. Das war auch der Grund, weshalb ich ihn nicht mehr besuchte, ich fühlte mich einfach nicht mehr wohl dort. Es ging dort mitt­lerweile sogar ein wenig zu brutal zu. Ich hatte von solchen Leuten wirklich die Nase voll. Wir nannten sie A­Köpfe, als Abkürzung für Amphetaminköpfe, weil sie alle auf Speed waren.

Irgendwann habe ich dann allerdings angefangen, Dokumentarfilme über diese Amphetaminköpfe zu drehen. Ich mietete dieses verfallene Loft in der Allen Street, besorgte ein paar Unzen Amphetamin und türmte mitten im Raum ein Amphetaminhäufchen auf und umstellte den Rand mit Lichtern. Als einzige Regel galt, dass ich alles filmen konnte, weil ich eben diesen Dokumen­tarfilm mit dem Titel Amphetamine Head drehen wollte. Ich habe es allen gesagt, und dann kamen all diese A­Köpfe auch tatsächlich und haben mit ihren Spritzen zuerst farbige Tinte auf eine Leinwand gespritzt und sich hinterher mit denselben Spritzen ihren Schuss gesetzt. Das ist ein ziemlich heißer Streifen geworden, aber leider wurde das Filmmaterial von der Polizei beschlagnahmt.

Susan Pile: Die Leute machten schon sehr merkwürdige Sachen, wenn sie auf Speed waren. Irgendwann tauchte im Max’s Kansas City ein Typ auf, der seinen Arm in einer Schlinge trug, und jeder fragte ihn: „Was hast du denn gemacht?“

„Oh, ich habe mir einen Schuss Speed gesetzt und konnte hinterher drei Tage lang nicht aufhören, mir die Haare zu bürsten.“

Lou Reed: Alkohol war völlig aus der Mode. Mit dieser Tradition wurde endgül­tig gebrochen. Musik, das war fortan Sex, Drogen und Spaß. Und Spaß war das Motto, das durch die Musik bestens umgesetzt werden konnte. Ultraschallsound auf Platte, um damit frontale Lobotomien zu erzeugen. Hey, sei kein Angsthase! Du solltest lieber Drogen nehmen und lernen, PLASTIK zu lieben.Alle möglichen Arten von Plastik – biegsames, hartes, buntes, gefärbtes, selbstklebendes Plastik.

Ronnie Cutrone: Den Sechzigerjahren sagt man nach, sie wären frei und offen und cool gewesen, in Wirklichkeit aber waren alle total spießig. Es waren wirk­lich alle total spießig, und dann gab es da noch uns – diese Hand voll durchge­knallter Typen. Wir hatten lange Haare, und dafür wurden wir buchstäblich um den Block gejagt. Die Leute brachten es wirklich fertig, einen um zehn Blocks zu jagen und „Beatle!“ hinterherzurufen. Die tickten irgendwie nicht ganz sauber – so sah es nämlich wirklich aus in den Sechzigerjahren. In den Sechzigerjahren hatte niemand lange Haare – und wenn, dann wurde man als durchgeknallter Freak, als Spinner abgestempelt, man war einfach nicht wie der Rest der Welt.

Ich hatte schon immer ein ausgeprägtes Faible für die dunkle Seite des Lebens. Lou und Billy gingen immer in dieseVaselinebar namens Ernie’s, da stand dasVase­line wirklich eimerweise auf der Theke, und es gab dort ein Hinterzimmer, in das sich die Typen verziehen konnten, um sich gegenseitig in den Arsch zu ficken. Ich war zwar nie schwul, aber für Sex habe ich mich trotzdem interessiert, aber wenn man dreizehn oder vierzehn ist, dann ist es nicht so einfach, mit einer Frau Sex zu haben. Deshalb habe ich mir ausgemalt, dass es geil wäre, schwul zu sein.

Ich habe das dann auch ausprobiert, aber es ist leider voll in die Hose gegan­gen. Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich einem Typen mal einen geblasen habe, und der Typ sagte: „Sorry, aber ich glaube, das ist nicht dein Ding.“

„Ja, ich weiß, tut mir leid.“

Lou Reed: Honey, ich bin ein Schwanzlutscher. Und was bist du?

Billy Name: Lou, Mary Woronov und ich sind regelmäßig ins Max’s Kansas City und in diese Schwulentanzbars, wie zum Beispiel das Stonewall, gegangen. Das machte morgens um vier Uhr dicht, aber um die Zeit waren Lou und ich immer noch auf Methedrin und wollten natürlich noch etwas erleben. Also sind wir in die Bars gegangen, die noch länger offen hatten und wo man um die Uhrzeit noch tanzen konnte. Und wenn es dann langsam hell wurde, sind Lou und ich gemächlich rüber zur Factory spaziert und haben dort eine Nummer gescho­ben. Wir hatten keine Liebesbeziehung, sondern waren einfach nur gute Kum­pel, die es ab und zu miteinander getrieben haben.

Ich glaube nicht, dass wir uns richtig einen geblasen haben, ich hasse es, jemandem einen zu blasen. Das ist so kompliziert. Ich hasse es, wenn mein Kopf von etwas okkupiert wird – das wird schnell eng und klaustrophobisch. Lou hat eigentlich immer nur gewichst, und dann ist er von mir runtergestiegen, ist auf­gestanden und wollte sich aus dem Staub machen. Ich musste ihm dann immer sagen: „Halt, hier geblieben, Freundchen, mir ist es doch noch überhaupt nicht gekommen.“

Lou setzte sich dann auf mein Gesicht, während ich mir einen runterge­holt habe. Man konnte das mit kleinen Jungs vergleichen, die heimlich hinter der Scheune Zigaretten paffen, es war wirklich Kinderkram. Mit Hingabe oder Romantik hatte das nun wirklich nichts zu tun. Wir haben uns in solchen Momenten eher gegenseitig die Hoden entladen, denn wenn man sich mit Mäd­chen einließ, hatte das immer eine Beziehung zur Folge und diesen ganzen Scheiß. Mit einem Typen war das einfach unverfänglicher.

Danny Fields: Ich war bis über beide Ohren in Lou Reed verliebt. Für mich war er der heißeste Typ, der mir je begegnet ist. Ich glaube, er ging davon aus, dass jeder in ihn verliebt war, er tat immer so cool. Und dann diese Sonnenbrille! O mein Gott, all die emotionale Energie, die ich auf diesen Typen verwendet habe – was habe ich mir bloß dabei gedacht?

 

Ronnie Cutrone: Sadomaso­Sex hat mich schon immer fasziniert, obwohl ich damit überhaupt keine Erfahrung hatte. Ich hatte einfach nur eine angeborene Neugier, und deshalb fragte ich Lou: „Worum geht es eigentlich in Venus in Furs?“

„Das ist so eine Art Schundroman.“

Ich fragte ihn, wo ich ein Exemplar kaufen könnte, und Lou antwortete: „Einen Block weiter gibt es eine Buchhandlung.“

Also ging ich los und kaufte das Buch. Ich ging damals noch auf die High­school und habe Venus in Furs, die Geschichte der O und Justine mit in die Schule genommen und das Zeug dort gelesen.

Das ist auch der Grund, weshalb mir die Musik von den Velvets auf Anhieb gefallen hat. Da ging es um Großstadtgeschichten und um Sex, vor allem ging es um Sex – in manchen Songs ging es um Sex, von dem ich keinen blassen Schimmer hatte, aber ich war dabei, mich schlau zu machen.

Allmählich entwickelten Gerard, Mary und ich eine ausgesprochene Rou­tine für den Song „Venus In Furs“, weil darin drei Hauptcharaktere vorkom­men: die Domina, der Sklave Severin und der düstere russische Prinz, der am Schluss den Sklaven killt. Ich wollte kein Sklave werden und hatte auch nicht das Zeug, eine gute Domina abzugeben, also war die Rollenverteilung von Anfang an klar: Mary und ich tanzten mit Peitschen und kreuzigten Gerard.

Im Grunde genommen haben wir ausschließlich zu unserem eigenen Ver­gnügen gespielt, ohne dass das Publikum mit einbezogen wurde, und wir haben das Publikum auch nicht eingeweiht, ich meine, wir haben eine Stunde und fünfundvierzig Minuten unsere Show abgezogen, ohne dass wir zum Publikum auch nur ein Wort gesagt haben, kein „Dankeschön“, kein „Schön, dass ihr gekommen seid“ oder „Heute Abend machen wir mal richtig einen drauf“.

Wir sind einfach auf die Bühne gegangen, haben uns einen Schuss gesetzt, Gewichte gestemmt, haben sie mit Blitzlichtgeräten geblendet, Peitschen vor ihren Gesichtern knallen lassen und auf der Bühne so getan, als würden wir uns gegenseitig ficken, und im Hintergrund liefen Andys Filme, und die Velvets spielten mit dem Rücken zum Publikum.

Gerard Malanga: Nach unserem Auftritt in der Cinemathèque haben wir die Show als seriöses Gesamtkonzept angesehen – der Peitschentanz und „Venus In Furs“ waren wirklich eine gelungene Kombination. Deshalb habe ich angefan­gen, für einige der anderen Songs Tableaus zu entwickeln, weil ich einfach keine Lust hatte, auf der Bühne zu jedem Song meine Peitsche zu schwingen, weil das ziemlich bescheuert ausgesehen hätte.

Paul Morrissey: Gerard machte es großen Spaß, mit uns zu tanzen. Er stand einfach nur auf der Bühne und ließ neben ihnen die Hüfte kreisen. Und dann holte er eine Peitsche hervor, und dann stand plötzlich Mary Woronov da, und ziemlich ausgefallene Frauen kamen auf die Bühne, so eine Art Go­go­Girls.

Die waren für unsere Show eine enorme Bereicherung. Gerard war groß­artig. Es war wirklich eine enorme Bereicherung, die Leute auf diese Art tanzen zu sehen. Und man muss es den Velvets wirklich hoch anrechnen, dass sie sich auf der Bühne nicht bewegt haben. Das war eine Art Huldigung. Und dann betrat natürlich Nico die Bühne, mit ihrem faszinierenden Gesicht und dieser wunderbaren Stimme, und stand vollkommen regungslos auf der Bühne. Sie strahlte eine unglaubliche Noblesse und Würde aus.

Jetzt musste ich mir also für diese Show einen Namen ausdenken, für die Lichteffekte und die Tänzer, die Velvet Underground und Nico begleitet haben, und deshalb schaute ich mir dieses dämliche Dylan­Album an, das mich irgend­wie auch ein wenig faszinierte, ich weiß nicht mehr genau, welches es war, aber ich glaube mich zu erinnern, dass auf der Rückseite des Covers ein Foto von Barbara Rubin abgebildet war. Also las ich mir das Gestammel auf dem Cover durch und sagte: „Hier, hört mal, nehmt das Wort ‚explodierend‘, ein bisschen ‚Plastik‘ und ‚unvermeidlich‘, was auch immer das heißen mag.“

Andy Warhol: Uns war allen klar, dass hier etwas Revolutionäres passierte. Wir spürten das einfach. Es war einfach undenkbar, dass etwas derart Merkwürdi­ges und Innovatives geschah, ohne dass irgendwelche Grenzen niedergerissen wurden. „Das ist wie das sich teilende Rote Meeeeer“, sagte Nico zu mir, als sie eines Abends neben mir auf dem Balkon des Dom stand und das Szenario von

oben betrachtete.

Paul Morrissey: Wir sind etwa einen Monat lang im Dom am St. Mark’s Place aufgetreten, und dann sind wir nach L. A. gegangen und haben dort unsere Show in einem Nachtclub namens Trip am Sunset Boulevard abgezogen, falls man sich darunter etwas vorstellen kann. Pathetische Hippiescheiße. Dem Dom haben wir den Rücken gekehrt, weil es dort keine Klimaanlage gab und der Sommer vor der Tür stand, und es wollten sowieso alle nach L. A. Das hörte sich nach ’ner Menge Spaß an.

Dann kam Bill Graham aus San Francisco und flehte mich an, ich solle Vel­vet Underground für seine runtergekommene Spelunke, das Fillmore, dieses Saufaus­Kotzorium, buchen. Mein Gott, war der Mann eine Nervensäge! Und alle sprechen immer von ihm, als wäre er ein Heiliger. Zum Kotzen! Einfach vollkommen daneben. Ein richtiges Monster. Er kam nach L. A. und heulte fast. Er versuchte mich mit dem Argument zu überzeugen, dass dann ein verlän­gertes Feiertagswochenende wäre und „wissen Sie, ich muss so hart dafür kämp­fen, dass ich mich mit meinem Laden über Wasser halten kann, und ich stehe kurz vor dem Bankrott, und die Polizei will mir meinen Laden dichtmachen, und sie flicken mir dies am Zeug und das am Zeug, und ich weiß beim besten Willen nicht, wie ich überleben soll, und Ihre Show ist so berühmt, und es würde meinen Laden retten, wenn Sie nach San Francisco kämen …“

Mary Woronov: Wir hatten überhaupt keine Lust, nach San Francisco zu gehen. Dieses Kalifornien war wirklich merkwürdig. Wir waren vollkommen anders als die Leute dort. Sie hassten uns, weil wir schwarze Lederklamotten trugen, wäh­rend man dort in den wildesten Farben herumlief und alles super fand: „Oh, super, ein Happening!“ Wir hingegen lasen Jean Genet. Wir waren für Sadomaso und sie für die freie Liebe. Wir standen wirklich auf Schwule, aber an der West­küste herrschte ein total homophobes Klima. Deshalb dachten sie von uns, wir wären das Übel, und wir dachten von ihnen, dass sie ziemlich bescheuert wären. Außerdem kam hinzu, dass wir alle ziemliche Nervenbündel waren, weil wir alle … nun, ich war auf Speed. Und als wir das Fillmore betraten, spulten die Mothers of Invention nicht einfach ihr Programm runter, wie man das von ihnen gewohnt war, sondern es tanzten Leute im Vordergrund, genauso, wie Gerard und ich es bei den Velvets gemacht hatten. Darüber waren wir natürlich stock ­sauer, und Lou hätte sie am liebsten alle erwürgt; nach ihrem Auftritt haben die Mothers ihre Instrumente einfach an den Verstärker gelehnt, wodurch es eine Rückkopplung gab, und sind dann einfach von der Bühne marschiert.

Und San Francisco hat noch nicht einmal gemerkt, dass der Set gelaufen war.

Maureen Tucker: Ich konnte diese Love­und­Peace­Scheiße auf den Tod nicht ausstehen.

Gerard Malanga: Einmal kam auch Jim Morrison ins Trip. Er war damals Film­student in L. A. und kupferte, so erzählt man es sich jedenfalls, meinen Look ab, die schwarze Lederhose, nachdem er mich damit auf der Bühne tanzen sehen hatte.