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Pfarre und Schule. Zweiter Band.

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Achtes Kapitel.
Das Geständniß

Nöthig möchte es jetzt sein, einen, wenn auch nur flüchtigen Blick auf das Leben Wahlerts, den wir zuletzt bei seiner glücklichen Flucht aus den Händen des Gerichts gesehen, zu werfen.

Marie hatte ganz recht gehabt, als sie ihn damals in der Stunde der Befreiung zugerufen, »nur an einem Kopf zu klugen Rathschlägen, fehle es in der Residenz, nur an einem Arm, das Banner der Freiheit voran, in die Reihen der Feinde zu tragen« – seiner Ankunft, seines donnernden Wortes hatte es nur bedurft und das Volk, das schon von außen angeregt, und in Gährung gehalten war, brach aus in einem gewaltigen und deshalb fürchterlichen, weil fester geregelten Sturm. Das Ministerium fiel und Männer des Volks wurden jauchzend auf dessen Schultern zu dem erledigten Ehrenposten getragen.

Wahlert besonders hatte man vor Allen im Auge, die Stellung eines Ministerpräsidenten auszufüllen, dieser aber weigerte sich das Amt, das ihn in seiner schwierigen Verantwortung an den einzigen Ort fesseln und seine ganze Thätigkeit auf dieß eine kleine Land concentriren würde, anzunehmen. Wohl war er von schönster Hoffnung für ein einiges freies Vaterland beseelt, wohl hielt er seine Landsleute für eben so reif und tüchtig wie Frankreichs heißblütigeres Volk, im jetzt zusammenberufenen deutschen Parlament die Souverainetät derer zu erklären, die man bis dahin gewagt hatte, Unterthanen zu nennen, und die – das viel schlimmere, es wirklich gewesen waren, aber dennoch konnte er sich nicht verhehlen, daß der bei weitem größte Theil der Anregung noch zu sehr und unausgesetzt bedürfe, während wiederum eine kleine Schaar, wie ein paar rennlustige Pferde, das Zeichen zum Auslauf gar nicht erwarten konnten und nur in einem fort Zaum und Halter zersprengten, Seil und Markpfahl niederwarfen, und an Mähne und Nüstern zurückgehalten werden wollten, um nur nicht in ihrem blinden unverständigen Eifer da zu verderben, wo sie zu nützen, da einzustürzen, wo sie zu bauen suchten.

Kaum sah er also die Dinge in der Residenz wieder einen geordneten ruhigen Gang gehn – denn Frieden mußte im Reiche herrschen, bis die Nationalversammlung in Frankfurt das Wort gesprochen, das die Throne stürzen und die acht und dreißig Scepter mit einem Schlage zerbrechen sollte – so zog er auf seinen fröhlichen Pilgerflug durch das Land aus, nicht um die Einheit des deutschen Volkes zu befördern, denn dessen bedurfte es nicht mehr – es fühlten Alle, daß nur in Einigkeit ihre Kraft lag, – sondern immer mehr zu befestigen und mit jener heiligen Liebe für das Vaterland zu beseligen, die sie freudig für dieses selbst das eigene Leben opfern ließe.

Eine Zeitlang hörte man Nichts mehr von ihm in Horneck, einmal hieß es nur, er sei in Wien gewesen, habe dort auf den Barrikaden der äußeren Vorstädte gegen die schwärmenden Kroatenhaufen gekämpft und wäre dann, als die Truppen in die Stadt eingezogen, mit Lebensgefahr zwar, aber doch glücklich nach Berlin entkommen – das Gerücht hatte wenigstens in der Pfarre – vielleicht nach einem Brief aus der Residenz – seinen Ursprung gefunden. Jetzt waren wieder wohl zwei volle Monate vergangen und der Mann, der damals die stillen Bewohner von Horneck zum ersten Mal ein wenig aus ihrer Lethargie emporgerüttelt hatte, schien vergessen.

Vergessen? – ja, von der großen Menge vielleicht, vor deren Augen Wahlert, wie ein leuchtender Strahl nur einmal vorüber gezuckt und dann verschwunden war, zwei Herzen aber schlugen in Horneck, für die keine Stunde des langen, langsam schwindenden Tages verging, an dem sie nicht still und sehnend seiner gedacht und nicht gebeten hätten, daß Gott sein theures liebes Haupt beschützen möge.

So vollkommen eines jene beiden Wesen aber auch in diesem einen Gefühl, dieser heimlichen, heiligen Liebe für den Fernen sein mochten, so verschieden gestellt waren sie in jeder andern Hinsicht des Lebens, und Sophie, des Pfarrers Töchterlein, hatte noch nie auch nur eine Sylbe gegen Marie, des armen Musikanten Tochter, von dem erwähnt, was sie doch, o wie gern, in das Herz einer wirklichen Freundin ausgeschüttet hätte. Und dennoch war Marie fast täglich in ihres Vaters Hause, wo besonders in letzter Zeit viel für die Kinder zu nähen und arbeiten gewesen, dennoch schien Sophie in jeder anderen Hinsicht volles Vertrauen zu dem armen leidenden Mädchen gefaßt zu haben, und behandelte sie eher wie eine Verwandte als eine Fremde, die eine Lohnarbeit bei ihr gesucht und gefunden. Nur in diesem Punkte blieb ihr Mund gegen das ernste, so wehmüthig schauende Kind verschlossen, denn seit jenem Tag, an welchem eben Marie ihr die Kunde von der drohenden Gefahr des Geliebten gebracht, war es ordentlich, als ob eine ihr selbst unbewußte Scheu sie hindere, auch nur den Namen Wahlerts vor ihr auszusprechen.

Marie, die sich, ihrem äußeren Aussehn nach, etwas wohler zu befinden schien als früher, und auch durch Sophiens Hülfe anständiger gekleidet ging, brach das Schweigen über den Abwesenden eben so wenig; kein Wort kam, selbst jenen Abend betreffend, über ihre Lippen und was die Herzen in ihrer stillen Tiefe auch bergen mochten, der Mund gab dem Gefühle keine Worte.

In den letzten Tagen des November 1848 war es, daß die beiden Mädchen auch einmal wieder zusammensaßen und an einem warmen Rock für Sophiens Mutter nähten, denn das Haidekraut blühte gar so schön und roth draußen, und das kündete strenge Kälte, der man doch wenigstens begegnen mußte; als der Pastor plötzlich mit einem Brief in der Hand in's Zimmer trat, und der Tochter ankündigte, daß er Nachricht von dem jungen Wahlert, dem Sohn des Herrn Generalsuperintendenten erhalten habe – es gehe ihm gut, und er hoffe bald Horneck wieder zu sehn – er bemerkte gleich darauf die Fremde, brach kurz ab, ging zu seiner Tochter hin an's Fenster und verließ mit dieser, die es aber wohl vermied ihr Antlitz Marien zuzuwenden, das Zimmer.

Marie ließ die Hände in den Schooß sinken, saß mehrere Minuten mit todtenbleichen erregten Zügen da, und starrte still und schweigend vor sich nieder.

»Er kehrt nach Horneck zurück!« flüsterte sie endlich leise mit kaum sich bewegenden Lippen – »nach Horneck wo« – sie brach plötzlich ab, barg nach kurzem Sinnen das Antlitz in den Händen und gab sich mit so peinlicher Spannung ihren Gedanken hin, daß man, wie ihr das Herz auch laut und stürmisch schlug, kaum doch ihr Athmen bemerken konnte, hätte nicht das Zittern ihres ganzen Körpers ihr Leben verrathen, die Gestalt selbst mußte einer todten regungslosen Statue gleichen.

Endlich schien es, als ob sie sich gewaltsam zu sammeln suche – sie stand auf, legte ihre Arbeit auf den Stuhl, auf dem sie gesessen, und trat an das Fenster, das auf den stillen Friedhof hinausschaute.

»Weshalb quäle ich mich denn eigentlich immer und immer wieder nur mit meiner eigenen unbegründeten Furcht,« flüsterte sie endlich und strich sich die Hand fest und schnell über die bleiche, marmorkalte Stirn – »Furcht! – und darf ich da auch noch fürchten? ist mir denn überhaupt auch nur eine Hoffnung geblieben? – Er erschrak, als er damals meine Stimme hörte – er verachtet die – Dirne.« – Sie schauderte zusammen, und dicht an die Scheibe gepreßt, daß ihr Hauch das Glas deckte, fuhr sie nach kurzer Pause fort – »Soll ich hier sein Wiederkehren erwarten? – Darf er mich – darf er mich gerade in diesem Hause? – und warum nicht?« sagte sie plötzlich laut, und richtete sich schnell und fast stolz empor – »klang seine Stimme nicht weich und liebend, als er mich mit dem alten traulichen Du anredete, und mich seine arme Marie nannte? – o heiliger Gott, wie gern wäre ich ihm damals an's Herz gesunken und hätte gerufen Franz, Franz, Du hast mir böses schmerzliches Unrecht gethan – unglücklich ist Deine Marie, aber schuldig nie – nie – die Angst um ihn erstickte damals jedes Gefühl für mich selbst – ich weiß nicht einmal mehr, was ich sprach – Sophiens Name –«.

Ihre Hand fuhr krampfhaft nach dem Herzen und ein kurzer schmerzlicher Husten zwang sie, sich niederzusetzen.

Ehe sie sich vollkommen erholte, trat der Pastor wieder ein, und wollte, als er den Husten hörte, das Zimmer wieder verlassen, Marie bezwang sich aber gewaltsam, der geistliche Herr kam näher, ließ sich, ohne das Mädchen, das still ihre Arbeit aufnahm, weiter zu beachten, auf dem Sopha nieder und las die Zeitung.

Von diesem Tage an fühlte sich Marie wieder unwohler wie vorher; als sie Abends ihre ärmliche Heimath erreichte, bekam sie einen leichten Fieberanfall und mußte am nächsten Tage das Bett hüten; der Vater, der in der Woche doch nichts zu thun hatte, und nur Sonntag Abends mit in der Schenke zum Tanze aufspielte, that ihr die kleinen Handreichungen, deren sie etwa bedurfte, kochte das frugale Mahl, eine einfache Kartoffelsuppe, und ließ sie dann mit sich und ihren Gedanken allein, bis er Abends nach zehn Uhr aus der Schenke, wo er so lange bei einem Glase einfachen Bieres gesessen, zurückkehrte.

Drei Tage vergingen so, und im Dorfe wurde es bald bekannt, daß der Doctor Wahlert, derselbe, den die Wilddiebe damals aus der Kutsche gerissen und befreit hatten, und von dem nachher so entsetzlich viel in der Zeitung gestanden, wieder nach Horneck gekommen sei und in der Pfarre wohne. Marie war schon um vieles wohler, ging aber doch noch nicht zu ihrer Arbeit hinauf – der Vater stellte sie mehrmals deshalb zur Rede, sie gab aber ausweichende Antworten, schützte noch peinlichen Kopfschmerz vor und blieb.

So brach der vierte Morgen an – es war der letzte Tag im November und ein Donnerstag; das helle Tagesgestirn schien still und feierlich in das ärmliche Gemach des alten Musikanten, und neben dem Fenster, auf dem einzigen hölzernen Stuhle, der in der Stube stand, saß Marie, und schaute träumend nach den gegenüberliegenden grauen Strohdächern einer langen Reihe alter, halbverfallener Scheunen hinüber, als es plötzlich rasch und lebhaft an die Thüre pochte, und sich diese, selbst vor dem einladenden »Herein«, schnell öffnete.

 

»Fräulein Scheidler!« rief das Mädchen, überrascht von ihrem Stuhle aufstehend.

»Hab' ich Sie doch beinahe gar nicht gefunden, liebe Marie!« sagte Sophie, freundlich ihre Hand ergreifend, »Wie geht es Ihnen? – Sie sehen viel besser, ordentlich roth und wohl aus – warum haben Sie sich so lange nicht bei uns sehen lassen? Sie waren doch nicht ernstlich krank? – Ach, ich wäre so gern schon früher einmal herüber gekommen, aber – aber wir haben Besuch im Hause, und da giebt es so viel zu thun, so viel zu besorgen, daß man wirklich manchmal gar nicht weiß, wo Einem der Kopf steht.«

»Ich hörte eben, daß sie Besuch hätten,« sagte Marie leise, »und fürchtete eben zu stören, auch –«

»O nicht im Mindesten, gutes Kind,« unterbrach sie rasch und erröthend das liebe Mädchen, »wir – wir werden Ihre Hülfe überdies vielleicht recht bald und ziemlich bedeutend in Anspruch nehmen – ich habe einige recht nothwendige Arbeiten vor.«

»Ich bin wirklich unwohl gewesen,« fuhr Marie, den Antrag zu vermeiden suchend, fort – »so unwohl, daß ich fürchte, kurze Zeit wohl noch der Ruhe pflegen zu müssen, ehe ich es wieder wagen darf, eine bedeutendere Arbeit zu unternehmen.«

»O Sie dürfen mich nicht im Stiche lassen,« bat Sophie – »ja nicht, liebe gute Marie, ich habe ganz fest auf Sie gerechnet – nicht wahr, Sie machen es möglich? –«

»Könnte ich da nicht vielleicht« – sagte Marie zögernd – »die Arbeit zu mir in's Haus bekommen? – Vielleicht ging es hier.«

»Aber Sie haben da – Sie haben da gar keine Bequemlichkeit«, erwiederte Sophie, und warf einen halb scheuen, halb mitleidigen Blick in dem kleinen, leeren, unbehaglichen Gemach umher. –

»Ich kann mich hier niederlegen, wenn mich das Sitzen angreift,« entgegnete das Mädchen – »ich bin ungestörter – und werde schneller arbeiten.«

»Nun gut, wir wollen uns darüber nicht streiten,« beruhigte sie Sophie – »machen Sie das, wie Sie wollen, liebes Kind – aber – kann ich Ihnen nicht vielleicht mit irgend etwas –«

»Ich danke Ihnen herzlich,« unterbrach sie, ihre freundliche Meinung verstehend, Marie, »ich habe, durch Ihre Güte, für jetzt Alles, was wir brauchen – und das ist genug – Ihnen geht es gut jetzt – Sie sehen recht wohl und fröhlich aus.«

»Mir geht es recht gut, liebe Marie, ich danke Ihnen,« sagte Sophie freudig – »mein Leben scheint sich auch ganz gut und glücklich zu gestalten – das wenigstens, was meinen Himmel bis jetzt getrübt, ist verschwunden.«

»So?« frug mißtrauisch und schnell des Musikanten Tochter – »plötzlich verschwunden? –«

»Seit gestern,« erwiederte fröhlich lächelnd Sophie auf die Frage – »rathen Sie einmal, Marie, was ich jetzt bin?«

»Was Sie jetzt sind?« wiederholte erstaunt und mit stockenden Herzschlägen Marie – »was Sie jetzt sind? ich begreife die Frage nicht?«

»Nun, die ist doch einfach genug,« lachte Sophie – »blos was ich bin, sollen Sie rathen, und rathen deshalb, weil Sie's eben noch nicht wissen.«

»Nun denn, des Herrn Pastor –«

»Ach lari fari,« unterbrach sie scherzend die Jungfrau – »das will ich nicht wissen, mehr – höher hinauf.«

»Höher hinauf – die Wohlthäterin des halben Dorfes.«

Sophiens Hand lag im Nu auf des Mädchens Lippen.

»Das ist gegen die Abrede,« rief sie rasch, »ordentlich gerathen, aber höher hinauf.«

»Ich bin es nicht im Stande,« sagte Marie mit leiser, eintöniger Stimme.

»Glaub' es,« tönte die fröhliche Antwort, »denn es kommt mir selbst überraschend genug, und so will ich es Ihnen denn rund heraus und einfach sagen, aber – vorher die Hand darauf, Sie sprechen zu keinem Menschen mit einer Sterbenssylbe davon?«

Marie reichte ihr schweigend die Hand.

»Nun denn, wissen Sie, was ich bin? – Ich bin Braut – nun Herr Gott, was erschrecken Sie denn so, das ist doch Nichts so Erschreckliches?«

»Nein – in der That nicht,« erwiederte Marie mit erzwungenem Lächeln – »da wünsche ich – wünsche ich Ihnen recht herzliches Glück – recht herzlichen Segen. Aber – mit wem?«

»Mit wem? nun mit Wahlert –«

»O!« rief Marie, und sprang rasch nach dem Fenster, an dessen Gesims sie sich festhielt.

»Was ist da?« frug Sophie und folgte ihr – »was gab es da?«

»Das Kind dort – wäre – wäre beinahe unter den Wagen gekommen – das unvorsichtige,« sagte Marie und deutete, während es sich wie ein schwarzer Flor um ihre Augen zog, nach der Straße hinunter.

»Welches? Der Knabe da?« frug erstaunt Sophie – »nun seh' Einer den kleinen kecken Kerl an, da steht er noch ganz ruhig und schaut hinter dem Wagen her, als ob gar Nichts vorgefallen wäre – aber ich habe Ihr Versprechen, Marie?«

»Ich will schweigen wie das Grab,« erwiederte die Arme.

»Aber nur nicht so ernst – der Brautstand ist eine fröhliche Zeit, und da muß man auch fröhliche Gesichter um sich haben. Also mit meinem Brautkleide lassen Sie mich nicht sitzen, morgen komm ich wieder herunter und da wollen wir das Nähere darüber besprechen – oder Sie kommen zu mir herauf. – Ach ja, liebe Marie – nicht wahr Sie kommen? Sie haben den Doctor Wahlert ja auch schon früher gesehen und sich selbst für ihn interessirt, weil er die Rechte des armen Mannes so vertrat.«

»Aber Wahlert,« sagte Marie endlich gesammelt, und mit fester, jedoch noch immer leiser, fast furchtsamer Stimme, als ob sie sich scheue, selbst den Namen des, ach so heiß geliebten Mannes auszusprechen – »Doctor Wahlert war ja von seinem Vater, dem Generalsuperintendenten, verstossen – der Vater hatte sich losgesagt von dem Sohne, und wollte ihn nicht wiedersehen, bis er seine politische Meinung geändert habe, und hat er das gethan?«

»Ei bewahre, mein liebes Kind,« erwiederte ihr freundlich Sophie, »das thut er nie, doch müde ist er geworden des nutzlosen Ankämpfens gegen Menschen, die, wie er uns gestern sagte, aus ihren Schreibstuben heraus oder hinter der Hobelbank vorgesprungen sind, und nun blind in's Geschirr hinein politisiren, und alle befehlen, aber keiner gehorchen wolle – müde ist er's, für ein Volk zu kämpfen, das nicht einmal selbst den eignen Arm zu seinem Schutze erheben will und in einem kleinen Theil ihn unterstützt, in einem anderen ihn anfeindet. Ja seine eignen Freunde sind gegen ihn aufgetreten, weil er nicht die Republik mit Bürgerblut beginnen wollte, sondern sie auf den Volkswillen zu gründen strebte. Er wird ganz traurig, wenn er nur von unseren Verhältnissen reden hört, und will jetzt nach Amerika auswandern.«

»Nach Amerika,« flüsterte leise Marie.

»Sein Vater hat ihm selber den Vorschlag gemacht, den er mit Freuden ergriff – denken Sie sich nur, Marie – ich gehe mit nach Amerika – hätten Sie dazu den Muth?«

Marie konnte sich nicht mehr helfen, sie barg das Antlitz in den Händen und lehnte sich, um nicht zu stürzen, an das Fensterbret.

»Nun so fürchterlich ist es auch nicht auf der See,« lachte aber Sophie, die in ihrer Fröhlichkeit die Bewegung des armen Mädchens, das sie unbewußt mit furchtbaren Martern quälte, gar nicht verstand – »aber ich stehe hier und plaudere, wo ich schon lange wieder oben sein sollte, sein Sie nicht böse, Marie – aber lieber Himmel, Sie sind wirklich krank – sehn Sie nur, wie blaß – nein ich schicke Ihnen das Kleid herunter, und dann schneiden wir es hier zusammen zu. Adieu Marie – auf ein frohes Wiedersehn.«

Sie sprang, noch einen Gruß zurückwinkend, die steile dunkle Treppe flüchtig hinab, und Marie blieb in dem kalten leeren Gemach still und allein zurück.

Neuntes Kapitel.
Die Schulvisitation

Die erste Morgen- und Religionsstunde des Freitag Vormittags war eben vorüber, die Kinder bekamen eine kurze Rastzeit verstattet, um sich erst ein wenig zu sammeln, und die untere Klasse mußte dann in dem einen Theil der Stube still und ruhig auf ihren Plätzen sitzen und zuhören, während der Lehrer mit der ersten seinen zweiten Unterricht, Verstandesübungen, vornahm. Hennig brachte diese Stunde stets nach dem Religionsunterricht, da er diesem, den Schulgesetzen zu Folge, eine volle Stunde zu widmen verpflichtet war, Kinder aber, die noch das eigentliche Wesen Gottes – das wenn wir ihn, den Allliebenden, erst einmal im eigenen Herzen erkennen lernen, uns mit einem so heiligen, süßen aber auch stolzen Gefühl durchschauert – nicht selbst begreifen und empfinden können, sondern nur dadurch in einer gewissen Scheu und Ehrfurcht gehalten werden, daß man ihnen sagt, Gott habe sie erschaffen und sähe Alles was sie Gutes und Uebles thäten, fühlen darin allerdings, sobald ihnen die Gottheit vorgeführt wird, und die Aufforderung zum Gebet zu ihm den Allmächtigen an sie ergeht, einen gewissen Reiz, ja ich will sogar zugeben, ein ahnungsvolles Leben – eine volle Stunde ist aber der Lehrer wohl selten im Stande, sie aufmerksam und gespannt auf das zu erhalten, was sie immer nur glauben, nie begreifen können, und der zu sehr erregte Geist erschlafft.

Zweckmäßig dennoch dünkte ihm eine freiere Unterrichtsstunde, auf die sich die Kinder jedesmal freuten, und der sie sich mit aller Liebe und Aufmerksamkeit hingaben. Hennig sprach hierin nämlich von allerlei, was entweder aus Geschichte und Geographie zufällig zur Sprache kam, oder sonst in das wirkliche Leben eingriff, und that dann Kreuz- und Querfragen an die Kinder, die sie ihm nach besten Kräften beantworten mußten. Allerdings kam da oft wunderliches Zeug genug zur Sprache, denn viele der Knaben waren mit einer so hartnäckigen und fabelhaften Dummheit gesegnet, daß, wenn nur irgend Wahrheit in Sprichwörtern liegt, ihnen ihr künftiges Glück in der Welt gar nicht hätte entgehen können; oft lag aber auch ein tiefer, ich möchte sagen instinktartiger Sinn in anscheinend verkehrten Antworten, und anstatt dann, wenn sie nicht auf die Fragen paßten, darüber hinzugehn, wie das leider fast stets von den Schullehrern geschieht, ging er vielmehr selbst auf die Sache ein, forschte nach der Ursache, die den Knaben zu solcher Antwort geführt und berichtigte oder ermunterte, wie es nun gerade der Fall verlangte.

Eine Störung trat übrigens, gerade vor dem Beginn der Stunde ein, ein Bauer trat in die Schulstube, und schleppte seinen Jungen, einen dicken, runden, schmutzigen, vierschrötigen, blondhaarigen und blauäugigen, etwa fünf Jahr alten Bengel, der sich verschämt und ängstlich an seine Rockschöße klammerte, und mit Händen und Füßen gegen jede Bildung und Cultur auf das Entschiedenste anstrampelte, hinter sich her zum Schulmeister hin, faßte seinen Jungen ohne weitere Umstände beim Kragen, stellte ihn mit dem verdrossenen und verweinten Gesicht ruhig vor den Schulmeister hin und sagte:

»Hiar, Schulmeester – hiar bring ich main Aelsten, der Bängel hat sich schonst lange gäwinscht in die Schule zu kummen – macht mer was Gescheit's aus'em – ufgenummen hat'en der Herr Paster schunst – er is nur noch en Bischen verschreckt.«

»Schon gut, Schönel« sagte Hennig, »ich will mein Bestes versuchen – komm Kind, fürchte Dich nicht, es geschieht Dir Nichts – sei brav und setze Dich da drüben auf die Bank – komm – sieh mir einmal in's Gesicht.«

»Ich will aber niche!« heulte der Junge.

Die anderen lachten. –

»S'is en Wetterbängel« grinste der Vater, und freute sich augenscheinlich über die Charakterfestigkeit seines Sohnes – »kumm, Gottlob – stiah uff sunst krichste 'ne Schälle, daß de Dich rimm und rimm driahst.«

Gottlob schien sich jedoch auf seine Unverletzlichkeit zu verlassen, er zog, da er doch mit einem Beine, seines Schwerpunktes wegen, auf der Erde bleiben mußte, das andere bis ans Knie herauf, drückte sich selber, so weit die breite Faust seines Vaters das zuließ, hinunter, und deckte sich das Gesicht mit dem linken Arm und Ellenbogen.

»Kriate!« sagte sein Vater und hielt die angedrohte Schelle, der sein Sohn auch nicht die mindeste Blöße gab, zurück, schüttelte denselben aber mit solcher Kraft, daß ihm alle Glieder am Leibe zitterten, und in diesem Augenblick wirklich nur noch die engen drallen Kleider, die lederne Hose und blaue Jacke, die kleinen Gelenke zusammen zu halten schienen. Gottlob mußte übrigens an derlei Behandlung schon gewöhnt sein, denn er verblieb, wie aus Blei gegossen in seiner Stellung, und biß nur die Zähne recht fest auf einander, als ob er fürchtete, daß ihm die aus dem Munde fliegen könnten. Hennig legte sich endlich ins Mittel, nahm den Jungen seinem väterlichen Freund und Schützer ab, und trug ihn mehr als er ihn führte auf eine Bank. Dort setzte er ihn hin, redete ihm zu, ein guter Junge und hübsch artig zu sein, und versicherte ihn, daß er in dem Fall auch nicht das Mindeste von ihm zu fürchten habe.

»So is's rächt, Schulmeester,« sagte der Bauer, und schaute wohlgefällig auf seinen heulend dasitzenden Jungen hin – »er werd sich's schonst märken, denn Märks hot er,« und er machte dabei die Bewegung einer Maulschelle, ging dann auf seinen Zögling zu, drückte ihm ein riesiges Butterbrod, das er eingewickelt in der Rocktasche getragen, in die Hand, klopfte ihm freundlich auf den Kopf, versprach ihm auf den Mittag Klöse, wobei die übrigen Jungen einen neidischen Blick auf den Glücklichen warfen, und verließ das Zimmer.

 

Gottlob blieb von da an still und regungslos, aber auch ohne den Kopf aus dem Arm zu nehmen, auf seinem Platz sitzen, und Hennig ließ das gern geschehen, da er sich doch erst, wie er meinte, an die Schulluft gewöhnen müsse.

Die bis dahin durch diese Unterbrechung gestörte Stunde begann jetzt damit, daß der Lehrer einige Fragen aus der biblischen Geschichte an die Ersten der Klasse that, und sie darauf hinzuleiten suchte, wie Manches, was uns jetzt sonderbar oder vielleicht lächerlich in den alten Gebräuchen und Handlungen vorkomme, durch damalige Verhältnisse bedingt, und dem dortigen Land und Klima anpassend gewesen wäre. Die Antworten, die er freilich manchmal auf seine Fragen erhielt, lauteten oft komisch genug, die Kinder gewöhnten sich aber doch daran, ihnen fern liegende Sachen zu bedenken, und fingen dabei auch nach und nach an einzusehen, daß die Leute in der biblischen Geschichte, die sie sich eigentlich wie lauter Heilige und höchst merkwürdige Wesen gedacht, doch auch nur Menschen mit Tugenden und Fehlern, wie es jetzt deren auch gab, gewesen wären.

Als er so die erste Klasse eine Zeitlang geübt, wandte er sich auch an die Kleineren, und überraschte diese plötzlich mit der, etwas aus der Luft gegriffenen Frage:

»Hört einmal, Ihr da drüben, – Noah hatte drei Söhne, Sem, Ham und Japhet, das wißt Ihr doch?«

»Ja,« lautete die einstimmige, schnell bereite Antwort.

»Nun gut – also wer war nun der Vater von Noahs drei Söhnen – eben von den Sem, Ham und Japhet?«

Die Jungen sahen sich verlegen unter einander an – schwiegen aber.

»Was? – Ihr habt Euch nicht einmal so viel aus der biblischen Geschichte gemerkt, die wir Euch jetzt eine volle halbe Stunde vorgepredigt haben,« sagte Hennig lächelnd – »nun, wartet einmal, ich will Euch die Sache mit einem Beispiele klarmachen. Unseren Nachbar, den Bauer Schultze, kennt Ihr doch Alle mit einander, wie heißt der? –«

»Gottlieb Schultze.«

»Nun gut, der hat, wie Ihr wißt, drei große erwachsene Söhne, den Friedrich, den Jürgen und den Caspar; wer ist also der Vater von Friedrich, Jörge und Caspar Schultze?«

»Gottlieb Schultze,« schrie die ganze kleine Klasse wild und stürmisch durch einander –

»Seht Ihr wohl? Das war recht geantwortet; nun wollen wir uns also wieder zur ersten Frage wenden – Noah hatte drei Söhne, und zwar Sem, Ham und Japhet – wer war also nun der Vater von Noah's drei Söhnen?«

»Gottlieb Schultze!« jubelte der ganze Chor wieder in wilder und lauter Freude, den Nagel jetzt voll und prächtig auf den Kopf getroffen zu haben.

Ein allgemeines Gelächter der ersten Klasse folgte dieser Antwort, die Kleinen saßen verdutzt, und Gottlieb Schönel, der natürlich glaubte, die ganze Klasse hätte weiter Nichts zu thun, als sich um ihn zu bekümmern, und das Lachen gelte auch nur einzig und allein seiner kleinen Person, rückte verdrossen auf seinem Sitz herum, und fing von Neuem an zu heulen.

Die biblische Geschichte hatte durch diese Antwort übrigens einen entschiedenen Stoß bekommen, denn Noahs oder seiner ganzen Familie Name durfte z. B. gar nicht mehr erwähnt werden, ohne daß die halbe Klasse anfing zu kichern, und die andere Hälfte gerade so aussah, als ob sie sämmtlich den bedeutendsten Theil ihres Frühstücks darum gegeben hätte, wenn sie nur einmal so recht von Herzen herausplatzen könnte.

Der Lehrer sprang deshalb auf etwas ganz anderes, und zwar den jetzigen Zustand über, in welchem sich in Deutschland die arbeitende Klasse befände, entwickelte darin, wie Arbeit überhaupt nothwendig sei, die menschliche Gesellschaft unter sich zusammen zu halten, und bewies den Kindern, daß Jeder im Staat, vom König herab bis zum unbedeutendsten Gänsejungen – Gottlob bezog das wieder auf sich, und zog ein nettes Register – einen gewissen Theil und eine bestimmte Arbeit, die auch wieder ihrerseits den Andern zu gute käme, verrichten müßte. Er ließ nun abwechselnd die Knaben auch ihrerseits die Gründe angeben, weshalb sie glaubten, daß es nöthig und nützlich für sie sei, zu arbeiten, und weshalb es besonders schon das Billigkeitsgefühl verlange, ebenfalls etwas für andere zu thun, da Andere doch unausgesetzt für uns selber beschäftigt wären.

Die Knaben schienen das im Anfang nicht recht begreifen zu wollen, es war ihnen unklar, wie sie, besonders aus Billigkeitsgefühl für Andere, zum Beispiel Holz hacken sollten. Hennig aber fuhr fort:

»Arbeitet denn Euer Vater nicht, um einen Euch allgemein bekannten Fall zu setzen, fortwährend für Euch, daß Ihr Speise, Trank und Kleidung habt? – Ist es deshalb nicht recht und billig, daß Ihr auch für ihn mit Hand anlegt, und Alles thut, was in Euren Kräften steht, ihm wieder dafür zu helfen? Arbeitet nicht auch z. B. der Schneider für Dich, Christian?«

»Ja,« sagte der Junge, und schlenkerte dabei vergnügt mit den Beinen.

»Gut, also versteht es sich von selbst, daß Du für ihn, oder andere Menschen, die es bedürfen, ein Gleiches thust; es ist dies das Band, wodurch die menschliche Gesellschaft mit einander verbunden wird, und im Stande ist, als ein geselliges Ganzes zu existiren.«

»So arbeitet also auch der Schuhmacher für Dich, Leberecht?«

»Ne!« grinste Leberecht, und verzog das Maul von einem Ohre bis zum anderen. – Die Anderen lachten laut auf.

»Nein? – und weshalb nicht?« frag Hennig, selber lächelnd –

»Vater hot' en de letzten Stiebeln noch nich bezahlt.«

Hennig mußte sich Mühe geben ernsthaft zu bleiben, bewies aber auch dem Knaben dadurch gleich um so verständlicher, daß nun sein Vater ebenfalls für den Schuhmacher arbeiten müsse, bis er mit dem, was er leiste, einen gleichen Werth dessen erreicht habe, was für ihn oder seinen Sohn geleistet worden.

Gottlob hatte indessen mehrere Male, zur nicht geringen Belustigung der übrigen Schuljugend, versucht heimlich zu desertiren, fand aber, auf einen Wink des Lehrers, die beiden schmalen Pässe, die zur Stubenthür führten, stets so stark vertheidigt, daß an einen gewaltsamen Durchbruch gar nicht zu denken war. Auf seine Bank zuletzt ganz ernsthaft hingewiesen und jetzt sogar, wenn er gar nicht gehorchen wolle, mit einer Züchtigung bedroht, saß er eine Weile still und verdrossen da, ließ die Unterlippe bis weit auf's Kinn herunter hängen, wischte sich den thränenfeuchten Schmutz auf eine immer bedenklichere Weise im Gesicht herum und presste das »Butterbrod,« dessen papierne Hülle schon lange heruntergefallen, so fest zusammen, daß es weit auseinanderklaffte, und vor Schmerz das inwendig aufgestrichene Pflaumenmuß (der Name Butterbrod war nämlich, obgleich all' die Mußbrödte so genannt wurden, nur eine Schmeichelei) preiszugeben schien. Endlich mußte er aber zu einem Entschluß gekommen sein; er stand auf, sah sich ein paar Mal mit wildem schüchternen Blick im Kreise um, ging dann in einer Art verzweifelten Trotzes auf den, lächelnd zu ihm niederschauenden Lehrer zu, blieb vor ihm stehen, hielt ihm sein Brod entgegen, und sagte weinerlich aber ziemlich laut:

»Hier, Herr Hennig – hier hast De meine Bemme, aber laß mich giahn.«

Armer Gottlob, auch selbst dieser Versuch der Bestechung gelang Dir nicht, Du wurdest fürchterlich ausgelacht und mußtest auf einem kleinen Bänkchen links am Fenster den übrigen Theil der Morgenstunde ruhig und schweigsam mit ausharren.