Kostenlos

Inselwelt. Zweiter Band. Australische Skizzen.

Text
0
Kritiken
iOSAndroidWindows Phone
Wohin soll der Link zur App geschickt werden?
Schließen Sie dieses Fenster erst, wenn Sie den Code auf Ihrem Mobilgerät eingegeben haben
Erneut versuchenLink gesendet

Auf Wunsch des Urheberrechtsinhabers steht dieses Buch nicht als Datei zum Download zur Verfügung.

Sie können es jedoch in unseren mobilen Anwendungen (auch ohne Verbindung zum Internet) und online auf der LitRes-Website lesen.

Als gelesen kennzeichnen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

4. Die Känguruh-Insel

Es war im Monat Juli, als die letzten Streiftruppen von Militair und Polizei, die im April die Buschrähndscher-Bande des »Gentleman John« theils getödtet und gefangen, theils zerstreut hatten, nach Adelaide zurückkehrten.

Trotz aller Energie ihres Führers, und trotz der wirklich unvergleichlichen Ausdauer der Leute, war es ihnen aber doch nicht gelungen, des Gefährlichsten der Schaar, des berüchtigten Gentleman John, habhaft zu werden. Selbst in See ausgesandte Kutter, die an den Küsten kreuzten und weite Strecken hinaus den Ocean absuchten, konnten nichts von jenem Boot, das man zuletzt an der Mündung des Murray gesehen, entdecken, und es blieb kaum mehr einem Zweifel unterworfen, daß die verwegenen Räuber, die damals dem Arm der strafenden Gerechtigkeit entkommen, ihren Tod in der an der Einfahrt der Encounterbai stehenden Brandung gefunden.

Was dieser Vermuthung noch mehr Wahrscheinlichkeit lieh, war, daß man gerade in jener Zeit die Trümmer eines zerschellten Bootes unfern jener Stelle an der Küste entdeckt hatte. Jedenfalls mußte es dasselbe sein, das den Buschrähndschern gehörte, und wenn sie auch den Galgen also um sein Recht betrogen, war doch wenigstens die Colonie von ihnen befreit, und die einzelnen Stationshalter draußen im wilden Busch konnten freier athmen.

Das war ziemlich die allgemeine Ansicht in der Colonie, die dadurch noch mehr befestigt wurde, daß man selbst wochenlang nach der Rückkehr der Expedition Nichts mehr von einem neuen Ueberfall einzelner Reisenden oder Stationen hörte. Die Wege im Busch waren so sicher, wie die Straßen von Adelaide im hellen Sonnenschein, und hatten sich wirklich Einzelne der Scharr zu Land geflüchtet, so schien Nichts wahrscheinlicher, als daß sie entweder in der trostlosen, wasserarmen Wildniß umgekommen, oder von den Schwarzen »gespeert« seien.

Nur Einer der Polizeibeamten, die sich damals dem Zuge angeschlossen, theilte nicht die Meinung der Anderen, daß nämlich Gentleman John sein Ende in den Wogen gefunden, und das war Tolmer, der Chef jenes gegen die Buschrähndscher ausgesandten Trupps selber. Er hatte das Boot gesehen, er kannte auch die Gefahr der Brandung an der Victoriasee-Mündung, aber er wußte ebenfalls, daß eine Ausfahrt zu Zeiten möglich sei, und traute dem tollkühnen Räuber recht gut zu, die Schwierigkeiten und Gefahren derselben besiegt zu haben.

Die noch auf seinem Kopf stehenden zweihundert Pfund Sterling lockten ihn dabei weit weniger, als die Ehre, den gefährlichen und berüchtigten Räuber, trotz allen Kreuz- und Quersprüngen desselben, noch einmal zu überlisten und einzubringen, und mit unermüdlicher Ausdauer, mit einer Zähigkeit, die sich durch nichts entmuthigen und abschrecken ließ, durchritt er das halbe Murray-Thal und die Wildniß bis zu den besiedelten Distrikten der Nachbar-Colonie, und umsegelte die Küsten, die sich nach rechts und links von Adelaide ausstreckten, die mögliche Spur von dort gelandeten Fremden zu entdecken.

Umsonst – Nirgends war auch nur das Geringste von den entkommenen Räubern zu entdecken, und als letzte Möglichkeit fuhr er nach der der Hindonoff-Landzunge gegenüberliegenden Känguruh-Insel hinüber. Er wußte recht gut, daß Gentleman John bei seinem ersten Debüt als Buschrähndscher die Schlupfwinkel jener Insel genau kannte, und war es ihm nicht gelungen, in See ein Schiff anzurufen und Australien ganz zu verlassen, so blieb Nichts wahrscheinlicher, als daß er sich wieder dorthin geflüchtet habe.

Ohne das geringste glückliche Resultat durchstreifte er aber die ganze Wildniß drüben, kroch durch die ihm nur zu wohl bekannten Känguruh-Dornen, dem flüchtigen Räuber nur erst einmal wieder zu begegnen. Auf den Stationen erhielt er – das alte Leiden – nur ungenügende, ausweichende Nachrichten. Niemand wollte die Buschrähndscher gesehen haben, Niemand etwas von ihnen wissen, und er sah sich endlich genöthigt, so ungern er es that, seine weitere Verfolgung aufzugeben. – Gentleman John war jedenfalls auf ein Schiff entkommen, und dann freilich hätten sie ihn hier wohl vergeblich suchen sollen.

An Cap Borda, der Nordwestspitze der Insel, blieb er eine Nacht auf einer von einem Mr. Bloome dort angelegten Station. Er wollte von hier aus nach Adelaide zurückkehren, wurde aber in diesem Vorsatz durch ein Gespräch mit Mr. Bloome selber wankend gemacht. Bloome nämlich erzählte ihm von einem sehr reichen Engländer, mit dem in Gemeinschaft er in nächster Zeit einen Schooner ausrüsten wolle, um an den australischen Küsten und nach Neu-Seeland hin Handel zu treiben. Ein Bruder von ihm, früher einmal Steuermann auf einem Ostindienfahrer, war zu dem Zweck schon nach Sydney abgegangen, ein passendes Fahrzeug dort anzukaufen, und er erwartete diesen mit jedem Tage zurück.

Stutzig machte ihn zuerst die Nachricht, daß der Fremde als ein Schiffbrüchiger auf die Insel gekommen sei, an deren Küste er, wie Bloome sagte, sein eigenes Fahrzeug verloren habe, und sein Verdacht wurde zur Gewißheit, als er im Lauf des von ihm äußerst vorsichtig geführten Gesprächs erfuhr, daß unter den wenigen, die sich mit ihm gerettet, auch eine schwarze Frau gewesen sei.

Capitain Howitt, wie er sich nannte, sollte übrigens, des Squatters Bericht nach, erst gestern zu Land nach Point Marsden an der Nordseite der Insel gegangen sein, wo er noch Geschäfte, den Ankauf von Waaren betreffend, abzuschließen habe. Mr. Bloome erwartete ihn nicht vor der nächsten Woche zurück.

Tolmers Entschluß war rasch gefaßt. Es war dies überhaupt seine letzte Hoffnung, den flüchtigen Räuber noch aufzufinden, und wenn er auch jetzt, allein und ohne Unterstützung nichts Entscheidendes gegen ihn unternehmen konnte, so wollte er ihn doch wenigstens erst einmal sehen, wollte sich selber überzeugen, daß es wirklich der vogelfreie Verbrecher sei, und dann so rasch als möglich nach Adelaide zurückkehren, Hülfe von dort herbeizuholen.

Mr. Bloome hatte, wie er bald im Gespräch merkte, keine Ahnung davon, was für ein gefährlicher Charakter sein zukünftiger Compagnon sein könne, und Tolmer war viel zu vorsichtig, ihm auch nur das Geringste merken zu lassen, welchen Verdacht er selber habe. Ein unbedachtes Wort des Squatters hätte während seiner Abwesenheit den schlauen Verbrecher nur zu leicht warnen, und all seine Mühe vergeblich machen können. Die Nacht blieb er übrigens noch bei seinem gastfreien Wirth, der ihn überdies vor dem nächsten Morgen gar nicht fortgelassen hätte, und suchte während der Zeit Näheres von ihm über die früheren Kameraden des Schiffbrüchigen zu erfahren. Diese befanden sich, Mr. Bloomes Meinung nach, am andern Ende der Insel, vielleicht gerade dort, wohin jener Mr. Howitt gegangen, wenigstens hatte er hier nichts weiter von ihnen gesehen, und bekümmerte sich auch, wie er mit einem Seitenblick auf Tolmer bemerkte, wenig oder gar nicht um das, was im Innern der Insel vorging. »Es sei das in Australien eine gar schlimme Sache, da man nie wisse, mit wem man es eigentlich zu thun bekomme, und in wiefern die Bekanntschaft vortheilhaft und angenehm sein könne.«

Am andern Morgen brach Tolmer vor dem Frühstück noch mit dem dämmernden Tage auf, und wanderte, so rasch ihn seine Füße trugen, dem ziemlich fernen Point Marsden zu. Aber erst am vierten Morgen, durch Dornen, Dickicht und vom Regen erweichte Wege aufgehalten, erreichte er etwa um neun oder zehn Uhr die ersten Umzäunungen des Platzes, der ihm von der letzten Station als Eigenthum eines gewissen Rodwell – derselbe, bei dem sich jener Capitain Howitt aufhalten sollte – bezeichnet worden.

Tolmer machte hier Halt, sich auf alle möglichen Fälle, wenn er da wirklich mit dem Buschrähndscher zusammenträfe, vorzubereiten. Allerdings war er dabei im Vortheil, denn er kannte jenen sogenannten Gentleman John schon von Ansehen genau, und hatte selber jede nur mögliche Vorkehrung getroffen, nicht von ihm erkannt zu werden – konnte er ihn doch auch nicht hier vermuthen. Nichts destoweniger mußte er dem schlauen und abgefeimten Räuber gegenüber jede Vorsicht gebrauchen, sich nicht zu verrathen. Bei dem geringsten Verdacht, besonders wenn dieser seine Helfershelfer in der Nähe hatte, war er verloren, oder der Verbrecher doch jedenfalls gewarnt gewesen, ehe er sich seiner bemächtigen konnte, und Mann gegen Mann blieb ihm auch nur geringe Hoffnung, seiner Herr zu werden. Tolmer selber, wenn auch von kräftigem und durch Beschwerden gestähltem, zähem Körper, war doch dem riesigen, schon seiner Stärke wegen berühmten Räuber nicht gewachsen, und die List für ihn der einzige Ausweg. Ehe er also auf das Haus, dessen Dach er schon von Ferne durch die Büsche konnte schimmern sehen, zuging, setzte er sich noch vorher auf einen dort umgestürzten, unfern von dem schmalen Pfad liegenden Baumstamm, und überlegte vor allen Dingen, auf welche Art er sich am glaubwürdigsten bei jenem Mr. Rodwell einführen könne.

Noch war er hierüber zu keinem festen Resultate gekommen, als er Stimmen im Busch hörte, die allem Anscheine nach gerade vom Hause her den Pfad entlang kamen. Ohne sich einen Augenblick zu besinnen, glitt er hinter den ziemlich starken Gumstamm, auf dem er bis jetzt gesessen, und erkannte wenige Minuten später einen Mann und eine Frau, die zusammen langsam auf dem Pfad hinschritten. Ehe sie übrigens dicht zu ihm kamen, blieben sie auf einer etwas lichten Stelle stehen und sprachen leise mit einander. Tolmer horchte mit der gespanntesten Aufmerksamkeit, war aber nicht im Stande, Alles zu verstehen, denn nur einzelne Worte und kurze Sätze drangen bis zu ihm herüber.

»Es geht nicht,« sagte die Frau, »es geht wahrhaftig nicht – was soll aus dem Kinde werden?«

Dann wieder schien sie der Mann zu etwas überreden zu wollen, denn sie sah vor sich nieder und schüttelte langsam, wie zweifelnd, den Kopf.

Es war ein junges, bildschönes Weib, in die einfache Tracht der australischen Squatterfrauen gekleidet. Ihr Bonnet trug sie in der Hand, und die vollen, lichtblonden Locken fielen ihr voll und reich um die weiße, fast zu bleiche Stirn. Nur das Antlitz des Mannes, der ihr den Rücken zukehrte, konnte er noch nicht erkennen. Dieser beugte sich nach der Frau vor, und hielt eine ihrer Hände zwischen den seinigen.

 

»Halte nur Alles bereit,« sagte da endlich der Mann mit lauterer Stimme, »ich komme jedenfalls, und Du sollst es nicht bereuen.« – Er bog sich zu ihr nieder und wandte sich dann rasch von ihr ab, den Pfad, den Tolmer kurz vorher gekreuzt, zu verfolgen.

Die Frau blieb an der Stelle, wo er sie verlassen, noch eine Weile stehen, Tolmers Augen aber hafteten auf dem jetzt an ihm vorüberschreitenden Manne, den er auf den ersten Blick als den gesuchten Räuber erkannte.

Gentleman John hatte sich allerdings seit jener Zeit, wo er ihn zuletzt gesehen, sehr zu seinem Vortheil verändert. Er trug statt der früheren Buschtracht seine Tuchkleider, einen feinen schwarzen Hut und einen Spazierstock in der Hand, den Tolmer rasch als Degenstock erkannte. Auch sein Gesicht sah voll und blühend aus und gab den Beweis, daß er von dem geraubten Gelde vortrefflichen Gebrauch gemacht. Eine eigene Aufregung schien sich aber seiner bemächtigt zu haben, seine Augen, mit denen er rasch die Bahn vor sich überflog, leuchteten, und sein Schritt war leicht und elastisch geworden. So eilte er, ohne den versteckten Feind zu bemerken, schnell an Tolmer vorüber und war, ehe dieser nur zu einem Entschluß kommen konnte, ob er ihm folgen solle oder nicht, bald in dem dichten Busch der Waldung verschwunden.

Die Frau schaute ihm wie sinnend nach, so lange sie ihn sehen konnte, und faltete dann die Hände, senkte das schöne Haupt und sah still und schweigend viele Minuten lang vor sich nieder. Dann drehte sie sich um, und schritt mit zögerndem Gang dem Hause wieder zu.

Tolmer wartete, bis sie dasselbe etwa erreicht haben konnte, und wollte dann ebenfalls sein Versteck verlassen, als er vor sich, kaum zwanzig Schritte entfernt, etwas in den Sträuchen rascheln hörte. Es konnte ein Vogel oder auch ein Wallobi9 sein, von denen es viele dort in der Gegend gab; Tolmer aber war viel zu sehr Buschmann, auch das Geringste unbeachtet zu lassen, und in seiner noch geschützten Stellung bleibend, sah er vorsichtig eine Weile nach der Gegend hinüber, aus der er das Geräusch zuerst gehört.

Im Anfang war Alles wieder ruhig, dann erkannte er aber plötzlich, daß sich da drüben ein schlanker Theebuschschößling bewege, als ob etwas Schweres dagegen drücke, und wenige Secunden später entdeckte er die dunkle Gestalt einer Eingeborenen, die, in einen langen Opossumfellmantel gehüllt, aus dem gegenüberliegenden Dickicht trat. – Nur einen Blick warf sie nach der Richtung hinüber, in der die Frau verschwunden war, dann folgte sie, die Augen fest auf den Boden geheftet, den Schritten des weißen Mannes – ihres Gatten.

Tolmer fühlte sich vollkommen überzeugt, daß sie keine Ahnung von seiner Nähe gehabt, denn selbst wo sie seine Fährten kreuzte, wandte sie den Kopf weder nach rechts, noch nach links hinüber, sondern schien nur das eine Ziel im Auge zu behalten. Nichts desto weniger blieb er jetzt noch eine geraume Zeit in seinem Versteck, um vollkommen sicher zu sein, daß er keinen weiteren Lauscher mehr zu fürchten habe, und ging erst dann, als er sich davon überzeugt, dem nicht mehr fernen Hause zu. Jetzt lag ihm vor allen Dingen daran, Genaueres über jenen Burschen zu hören, und die beste Quelle dafür schien ihm jene fremde Dame, die jedenfalls ein näheres Interesse an ihm nahm.

Tolmer hatte erwartet, auf dem nächsten freien Platze eine der gewöhnlichen Schafstationen mit Wohnhaus des Eigenthümers und einer Anzahl daranstoßender Gebäude zu finden, und war eigentlich überrascht, hier nur, als er die Lichtung betrat, ein einfach kleines, aber unendlich sauberes und freundliches Häuschen vor sich zu sehen, das mit zierlichem Giebeldach gebaut, von einem trefflich gehaltenen Garten umgeben, in ein wahres Dickicht von Frucht-und Blütenbäumen hineingeschmiegt lag. Reizend war dabei die Aussicht auf das offene Meer, die Investigator strait, die hier die Insel von dem festen Lande trennte, und bei klarem Wetter sogar die fernen Höhen desselben sichtbar werden ließ, während hie und da ein weißes Segel auf der dunkelblauen, leicht gekräußten Flut dem Bilde Leben und Bewegung gab.

Um das Haus selber rankte sich eine förmliche Wand von Passionsblumen und andern blühenden Schlingpflanzen, an denen Australien so reich ist, und blitzend und blank schauten daraus die kleinen aber hellen, inwendig mit reinlichen Gardinen behangenen Fenster vor.

Tolmer zögerte fast den Platz zu betreten, so still und friedlich lag die liebe Wohnung vor ihm da – und sollte er da zuerst Mißtrauen und Unheil säen? – Bah – die Gegend wollte er ja gerade von ihrer Pest befreien, die Schlange aus dem Paradiese jagen, und gar willkommen mußte da sein Fuß dem Boden sein.

Rasch und entschlossen wanderte er deshalb dem Hause zu, an dessen Fenstern er vergebens die Gestalt der vorher im Busch gesehenen Frau zu erspähen suchte, und klopfte, als er die Thür erreichte, leise an. – Niemand antwortete ihm. Er klopfte lauter – Alles blieb todtenstill im Haus. Nichts desto weniger stand die Thür nur angelehnt, und er trat endlich hinein, in der Hoffnung, doch jedenfalls irgend wen von der Dienerschaft dort zu finden.

Im Vorsaal war Niemand, im nächsten unten gelegenen Zimmer aber hörte er eine Kinderstimme, und da auch diese Thür nur angelehnt war, öffnete er sie leise und sah hinein.

Mitten in dem kleinen, reinlichen Gemach stand ein Kinderbettchen, in dem ein vielleicht jähriges Kind lag, auf dem Sopha aber in der Ecke, das Antlitz in die Kissen gedrückt, das Bonnet neben sich am Boden, lag die junge Frau regungslos wie eine Todte.

Tolmer trat erschreckt zurück – er hatte nicht indiscret sein wollen und kein Recht, sich dem geheimen Kummer einer Unglücklichen aufzudrängen. Mit dem einen Ziel aber fest im Auge, konnte und durfte er auch das Haus nicht wieder verlassen, ohne Näheres über jenen Mann gehört zu haben, und leise nur wieder zurücktretend, daß die junge Frau sich nicht bemerkt glauben durfte, machte er draußen lautes Geräusch an der Hausthür, die er stark zuschlug, trat dann fest auf, den Vorsaal entlang, und klopfte endlich an die Kammerthür.

»Wer ist da?« rief in demselben Augenblick eine ängstlich erschreckte Stimme, und zugleich öffnete sich die Thür, in der dem sonst ziemlich kalten Polizeimann das reizendste Wesen entgegentrat, daß er je gesehen zu haben glaubte. Er brachte auch im Anfang wirklich nicht ein Wort über die Lippen, und fing schon an, sich selber zu ärgern, als die junge Frau, die sich zuerst gesammelt, ruhig fragte: »Was steht zu Ihren Diensten und wen suchen Sie?«

»Mr. Rodwell,« erwiderte da Tolmer, rasch gefaßt, »hab' ich vielleicht das Vergnügen Mrs. Rodwell vor mir zu sehen?«

Die Frau neigte leise ihr Haupt, ohne ein Wort weiter zu erwidern, aber ihr Blick flog indessen forschend über des Fremden Züge. Wer war er, und wo kam er so plötzlich her? –

»Und können Sie mir sagen, wo und wann ich vielleicht Mr. Rodwell treffen möchte?«

»Ich weiß es nicht,« erwiderte die Frau, und Tolmer kam es vor, als ob sich die bleichen Wangen etwas rötheten, »er ist nach Adelaide gefahren und ich erwarte ihn erst morgen oder übermorgen wieder zurück.«

»S–o?« sagte Tolmer, indem er fest dem auf ihm haftenden Blick begegnete, bis die Frau den ihrigen zu Boden schlug.

»Haben Sie Geschäfte mit ihm?« frug diese endlich, die sich gewaltsam zu sammeln schien.

»Ja und Nein,« erwiderte der Polizeimann ruhig. »Ich suche eigentlich nur ein paar Stiere, die mir vom Südufer der Insel fortgelaufen sind und den Busch angenommen haben, und wollte ihn fragen, ob er nichts von ihnen hier gesehen. Doch die Frage kann mir jeder Andere wohl ebenfalls beantworten, und irgend einer Ihrer Leute oder Nachbarn wird mir gewiß darüber Auskunft geben.«

»Unsere beiden Arbeiter sind im Feld,« erwiderte Mrs. Rodwell, »wenn Sie sich vielleicht dorthin bemühen wollten.«

»Ihr nächster Nachbar wohnt wohl nach Westen zu?« frug Tolmer.

»Nach Westen zu – wie so?«

»Ach, ich meine nur – ich sah die frischen Spuren eines europäischen Stiefels dort im Pfad. Wie weit ist es in der Richtung bis zum nächsten Haus?«

»Eine nicht unbedeutende Strecke,« erwiderte Mrs. Rodwell, und wieder entging es dem scharfen Blick des Polizeibeamten nicht, daß eine leichte Röthe ihr Antlitz, wenn auch nur momentan, überflog. »Aber selbst von dort her kommen sie manchmal verloren gegangenes Vieh zu suchen.«

»Ja – kann ich mir denken,« sagte Tolmer nachdenkend, »hm, da war der, von dem ich die Spuren gesehen, wohl gar am Ende auch in solchen Geschäften aus, und könnte mir die beste Kunde geben. Kennen Sie ihn, Madame, und haben Sie gesehen wer es war?«

»Ich? – nein,« sagte die Frau ruhig – »er war nicht hier im Haus.«

»Dann bitte, entschuldigen Sie, daß ich hier so ohne Weiteres eingebrochen bin,« sagte Tolmer, sich leicht verbeugend. Er wußte jetzt genug, und war überzeugt, daß die Frau, die selbst ableugnete den Fremden gesehen zu haben, ihm nie einen weiteren Aufschluß über denselben geben würde. Wenige Minuten später schritt er wieder langsam durch den kleinen, mit sorgsamer Hand angelegten Garten einem anderen, zu dem Haus gehörenden Gebäude zu, das zu Ställen und Vorrathskammern zu dienen schien, und wo er einen Arbeiter beschäftigt sah, einen kleinen Wagen auszubessern.

Der Polizeimann hatte erst von diesem weitere Erkundigungen einziehen wollen, aber das Gesicht des Mannes gefiel ihm nicht. Der Bursche gehörte jedenfalls zu der damaligen Hauptbevölkerung Australiens, der der entlassenen oder beurlaubten Sträflinge, und einem solchen durfte er nicht ahnen lassen, was er hier suche. Deshalb seinen Vorwand beibehaltend, sich nach entlaufenem Vieh zu erkundigen, frug er nur oberflächlich nach der dortigen Nachbarschaft, und denen, die den Platz zu Zeiten besuchten. Er bekam aber auch hier nur ausweichende Antworten, denn Bradley, so hieß der Bursche – war in der That einer der wenigen mit Gentleman John entkommenen Verbrecher, der sich hier als groom verdungen hatte, seine Zeit abzuwarten. Tolmer schöpfte aber erst dann Verdacht gegen ihn selber, als er die angeblich gesuchten, in Wirklichkeit gar nicht existirenden Zugstiere, genau so wie er sie auf gut Glück beschrieb, vor einigen Tagen an der Ostspitze der Insel gesehen haben wollte. Gentleman John war in westlicher Richtung fortgegangen.

Der schlaue Polizeibeamte ließ sich jedoch nicht das Geringste merken, dankte für die Auskunft und verließ, der bezeichneten Richtung folgend, den Platz. Sein Boot lag in der Wegranbay, und er war fest entschlossen, ohne hier weiter einen Augenblick Zeit zu versäumen, so rasch als irgend möglich nach Adelaide zurückzukehren.

In der Hauptstadt Südaustraliens glücklich angelangt, stattete er augenblicklich dem Gouverneur Bericht ab, und dieser war gern bereit, ihm ein Detachement Militär mitzugeben, die flüchtigen Verbrecher aufzuheben. Tolmer dagegen erbat sich Freiwillige, denn er wußte recht gut, mit welchem Feind er es hier zu thun bekam, und daß der in die Enge getriebene Buschrähndscher wie ein Verzweifelter sich wehren würde. Außerdem kannte er die Hülfsquellen nicht, die ihm dort zu Gebote standen, und ob sich im Innern der wilden Insel nicht am Ende noch eine größere Zahl von Verbrechern versteckt hielt, als er jetzt vermuthen konnte.

Zu groß durfte er seine Schaar aber auch nicht wählen, denn immer noch mehr hoffte er von der List als von Gewalt, und als sich zwanzig zuverlässige Leute gemeldet hatten, nahm er noch seinen Sergeanten, einen gewissen Morris dazu, und ließ die Mannschaft auf zwei ihm von der Regierung überlassenen Booten sich nach der Känguruhinsel einschiffen.

Tolmer wollte seine Leute südlich von Cap Borda landen lassen, von dort aus dann seine weiteren Anordnungen zu treffen. Er hatte ihre Abfahrt auch so viel als möglich beeilt, da er herausbekommen, daß allerdings vor einigen Tagen ein Schooner in Adelaide angekauft und, nach Cap Borda bestimmt, abgegangen sei. Das mußte derselbe sein, auf dem Gentleman John seine Flucht bewerkstelligen wollte, und dem zuvorzukommen hatte er keine Minute Zeit mehr zu versäumen.

Die Boote lagen im Adelaide-Port mit Wasser und Provisionen versehen, und Tolmer, der eben seine letzten Instructionen und Vollmachten eingeholt, ging am Werft entlang, wo weiter unten sein Sergeant noch auf ihn wartete.

 

Wenig achtete er dabei auf die Menschen umher, denen er begegnete, oder die er überholte, er war zu viel mit seinen eigenen Gedanken und Plänen beschäftigt, als ihn plötzlich ein laut gerufener Name aufmerksam machte.

»Mr. Rodwell!« rief eine feine Stimme hinter einem dicht vor ihm hinschreitenden Manne her, der ein langes Teleskop umgehängt, sich nach dem Rufe umdrehte. Es war eine hohe, männliche Gestalt, mit blondem, gelocktem Haar, blauen Augen und unendlich gutmüthigen, offenen Zügen. Als Tolmer an ihm vorüberschritt, hatte ihn der kleine, ihm nachgelaufene Bursch erreicht und brachte ihm eine Cigarrentasche, die er im Hotel hatte liegen lassen. Rodwell dankte ihm lächelnd und gab dem darüber sehr vergnügten Burschen eine kleine Münze, steckte die Tasche ein und verfolgte seinen Weg.

Rodwell hieß, wie Tolmer sich recht gut gemerkt, der Mann auf der Känguruh-Insel, dem das freundliche Haus und die schöne Frau gehörte, und er beschloß, Näheres von ihm und seinen nächsten Plänen zu hören, ehe er ihn wieder aus den Augen ließ.

Rodwell blieb endlich dicht an einer der schmalen Landungstreppen stehen, und der Polizeibeamte sah, daß ein Boot mit zusammengerolltem Segel und eingelegten Rudern dort augenscheinlich auf ihn zu warten schien.

»Guter Wind heute für eine Spazierfahrt, Sir,« redete er denn auch ohne Weiteres den Fremden an, »muß sich prachtvoll draußen segeln bei der Brise.«

»Denke ja,« erwiderte Rodwell, sich lächelnd zu ihm wendend, »aber ich will nicht spazieren fahren, sondern ich kehre nach Haus zurück.«

»Ah so, – haben wohl Ihre Station hier irgendwo an der Küste.«

»Auf Känguruh-Eiland.«

»Ah, da drüben – ist ein famoser Platz – war auch vor kurzer Zeit in Geschäften dort, und bin ebenfalls wieder im Begriff hinüber zu fahren.«

»In der That? dann können wir vielleicht zusammen segeln,« lachte Rodwell, »aber – mein kleines Boot ist ein Klipper und springt bei einer frischen Brise nur so über das Wasser hin. Nicht alle Boote können Schritt mit ihm halten.«

»Hm,« sagte Tolmer, dem auf einmal ein neuer Gedanke durchs Hirn zuckte, »ich wollte nur, ich hätte ein Boot, mit Euch wett zu fahren, aber ich weiß noch nicht einmal, wie ich hinüber kommen soll. Bin eben nur an das Werft hier herunter gegangen, zu sehen, ob ich mir irgend ein kleines Fahrzeug miethen könnte. Die Leute wissen aber wahrhaftig gar nicht, was sie fordern sollen, und liegen lieber müßig am Strand, ehe sie einen armen Teufel für einen mäßigen Preis hinüberschafften.«

»Dann fahrt mit mir,« sagte Rodwell gutmüthig, »ich habe vollauf Platz im Boote, und Ihr sollt einmal sehen, wie wir hinüberschießen. Nach welcher Stelle der Insel wollt Ihr?«

»O das bleibt sich gleich. Wenn ich nur dort erst einmal festen Boden unter mir habe, komm' ich schon wohin ich will. – Und Ihr würdet mich wirklich mitnehmen?«

»Mit Vergnügen,« lautete die freundliche Antwort, »schafft aber dann nur Euer Gepäck so rasch als möglich hier herunter.«

»Das soll bald geschehen sein,« lachte Tolmer, »und schwer wird es Euer Boot auch nicht machen. Ich habe meine wenigen Sachen gleich dort unten liegen, und wenn Ihr nur ein paar Minuten auf mich warten wollt, bin ich gleich wieder da.«

Rodwell nickte ihm lächelnd zu und Tolmer eilte jetzt, so rasch ihn seine Füße trugen, den eigenen, schon seiner harrenden Booten zu. Hier gab er Borris die nöthigen Befehle, südlich von Cap Borda, an einer genau von ihm bezeichneten Stelle zu landen, und dort vor allen Dingen auszukundschaften, ob der Schooner angelangt sei, und wann er in See gehen würde. Bis er selber wieder zu ihnen stieß, hatten sie Nichts zu thun, als dessen Abfahrt zu hindern; selbst mit Gewalt, wenn es nicht anders möglich wäre.

Tolmer selber hoffte dagegen im Point Marsden auf die Spur des Buschrähndschers zu kommen, der, wie er vermuthete, die Abwesenheit seines jetzigen Reisegefährten wohl nach Kräften für seine eigenen Zwecke benutzen würde. Was lag dem gewissenlosen Räuber an der Ruhe und dem Glück zweier Menschen. War er übrigens auch dort nicht mehr zu finden, so konnte er mit seinen Zurüstungen für eine längere Seefahrt unmöglich so rasch fertig werden, und war leicht an Ort und Stelle zu überholen. Uebrigens glaubte Tolmer, daß er den Burschen, nach dem, was er damals belauscht, wohl noch an Point Marsden finden werde, wo er denn seine ferneren Pläne formen mußte. War dem Räuber doch durch seine Leute die Flucht abgeschnitten, und einmal mußte er ihm dort wieder begegnen.

Rasch packte er jetzt nur etwas Wäsche und seine alten Buschkleider mit ein paar guten, doppelläufigen Pistolen in ein Packet, und eilte damit zu seinem neuen Reisegefährten zurück. Dieser hatte ihn, langsam dabei am Werft hin und her schlendernd, geduldig erwartet und erst als er ihn kommen sah, stieg er, ihm zunickend, die zu seinem Boot führende Treppe nieder.

Außer ihm saß noch ein seemännisch aussehender Bursche im Boot, der das eine Ruder nahm, während Rodwell das andere aufgriff.

»Könnt Ihr steuern?« rief er, als Tolmer sie erreichte, diesem zu.

»Gewiß – aber wollt Ihr mich nicht rudern lassen?«

»Ist nicht nöthig; sobald wir ein Stück draußen im Kanal sind, können wir doch unser Segel setzen. Nehmt nur Eueren Platz am Steuer, und führt uns hier zwischen all den Fahrzeugen durch. Erst einmal freie See, und wir fliegen nur so hinüber.«

Es wurde von jetzt ab nicht mehr zwischen den Männern gesprochen, als nöthig war, die Richtung und Bewegung des kleinen flüchtigen Bootes zu bestimmen. Das Fahrwasser, in dem sie sich befanden, erforderte übrigens ihre ganze Aufmerksamkeit, denn von Port Adelaide ab mußten sie vorerst einem langen, schmalen Seearm folgen, der sich herüber und hinüber wand, ehe sie die offene See erreichen konnten. Die Seeleute sagen auch nicht mit Unrecht, daß ein Schiff den Wind erst um den ganzen Compaß herum haben müsse, ehe es von dort auslaufen könne, und für große Fahrzeuge sind oft viele Tage nöthig, bis sie das Meer gewinnen können. Wo aber das kleine, trefflich gebaute Boot nur eine »Mütze voll Wind« erfassen konnte, setzten sie die Segel, und bald hinüber und herüberkreuzend, bald vor der Brise dahinschießend, dann und wann aber auch wieder genöthigt zu den Rudern zu greifen, passirten sie endlich die Torrens-Insel, umsegelten die nordwärts auflaufende Spitze des letzten festen Landes, und steuerten mit einer frischen Nordwestbrise an der Küste südlich nieder, der etwa von da noch 15 deutsche Meilen entfernten Känguruh-Insel zu.

Erst einmal draußen in freiem Wasser hatte der Bootsmann seinen Platz im Bug vorn eingenommen, während sich Rodwell in die Spiegel des Bootes neben Tolmer setzte. In der ersten Zeit war er allerdings noch schweigsam, und schaute fortwährend nur nach Süden hinunter, wo sie in grauer Ferne vor sich Cap Jervis konnten seine blaue Landspitze vorstrecken sehen. Da plötzlich sprang er von seinem Sitz auf und vorn auf die Bank, durch die ihr kleiner Mast befestigt war und rief, seinen Strohhut dem fernen Süden fröhlich entgegen schwenkend:

»Land! – dort hinten, Fremder, liegt meine liebe alte Insel – liegt meine Heimat, liegt Alles, was ich mein Eigen nenne, und was mich zum glücklichsten Menschen macht, von den blauen rollenden Wogen umschäumt, und wie unser Boot auch rasch und fröhlich über die Flut dahinzischt, könnte meine Sehnsucht es treiben, es ließe selber die flüchtige Möve weit hinter sich zurück.«

»Euere Heimat,« sagte Tolmer, dem ein eigen wehmüthiges Gefühl die Brust zusammenzog – »ja, wohl dem, der eine glückliche Heimat sein Eigen nennen darf. Ich ahne, wie wohl uns darinnen sein muß, obgleich ich selber das Gefühl nicht kenne.«

»Ihr seid nicht verheirathet, Fremder?« frug Rodwell mit fast mitleidigem Tone seinen Reisegefährten.

9Wallobi, kleine Art Känguruh.