Hell und Dunkel. Eine Gemsjagd in Tyrol.

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„Als ob Ihr es mir hier um ein Haar besser gemacht hättet! Draußen steht „Willkommen" an der Thür, und drinnen bin ich eben so gut zum Teufel gewünscht worden, wie drüben bei dem alten Brummbär. Das war heute ein eigenthümlicher Empfang."

Fränzchen lachte dennoch wie vorher. „Etwas Komischeres kann man sich kaum denken."

„So? - nun wartet, ob ich nicht mit Euch quitt werde," bemerkte Franz. „Für den Empfang muß ich meine Revanche haben."

„Und auf welche Art, Herr Vetter?" fragte schelmisch Adele.

„Das weiß ich noch nicht," rief der Havanese, „aber die Mittel werden sich finden lassen."

„Dann will ich Dir gleich Gelegenheit dazu geben," lächelte der Onkel. „Auf morgen Abend habe ich zur Feier Deiner Ankunft einen kleinen Ball arrangirt und alle Deine alten Schulkameraden dazu eingeladen, - da kannst Du die Mädchen gleich zur Strafe sitzen lassen."

„Daß ich ein Narr wäre!" erwiderte Franz, „aber /23/ aufrichtig gesagt, liegt mir an einem solchen Fest verwünscht wenig. Ich hatte mich darauf gefreut, daß wir gemüthlich zusammenbleiben sollten. Bei so viel fremden Menschen -"

„Dann mußt Du mir das Opfer bringen," sagte der Onkel. „Ueberdies triffst Du ja auch fast nur Bekannte dort."

„Ihnen zu Gefallen Alles, lieber Onkel," rief Franz. „Darf ich aber dann wohl einmal die Liste der Eingeladenen sehen oder vielleicht noch eine oder die andere Einladung selber machen?"

„Du bist der König des Festes und hast das volle Recht, einzuführen wen Du willst," sagte der Onkel.

„Vortrefflich!" rief Franz. „Dann beginne ich gleich hier mit meinem Nachbar. Mein zeitweiliger Repräsentant will sich nämlich als Arzt in Yvenburg etabliren, und der kleine Ball dient ihm dann vielleicht zur Einführung in die Gesellschaft. Sie nehmen die Einladung doch an?"

„Wenn die Damen keinen Groll mehr auf mich haben," sagte der junge Arzt mit einem bittenden Blick, vorzüglich auf Fränzchen.

„Herzlich willkommen sollen Sie uns sein!" rief der alte Herr, - „und wo ist Ihr Absteigequartier?"

„Wenn ich die Nummer recht gelesen habe, hier im Hause selbst," lautete die Antwort, „vorausgesetzt, daß der Registrator Ehrlich sein Logis hier hat."

„In der Etage über uns. Dann sind wir ja überdies Hausgenossen und müssen gute Nachbarschaft halten. Und nun, Kinder, werft Euch in Euren Staat, denn die Frau Muhmen werden im Handumdrehen da sein, um den neu eingetroffenen Vetter in Beschlag zu nehmen."

„Die Frau Muhmen?" rief Franz erschreckt.

„Nun, die Commerzienräthin Brummer und die Steuerräthin Fischbach. - Ich will Dir nur wünschen, daß Du die Beiden erst glücklich überstanden hast. Die Frau Commerzienräthin wird wohl gleich damit anfangen, Dir ihre Subscriptionsliste auf den neuen Missionsverein vorzulegen - eine Actiengesellschaft mit Anwartschaft auf den Himmel, zahlbar mit Actien zu zwei und ein halb und fünf Thaler, /24/ um schwarze oder chinesische oder birmanesische Seelen zu retten."

„Gott steh uns bei!" rief Franz erschreckt; „dort mache ich keine Visite."

„Das hast Du auch nicht nöthig," lachte der Onkel, „die kommt zu Dir und bringt Dir eine permanente Einladung zu ihren Kaffeegesellschaften mit. Also, lieber Herr Doctor, morgen Abend sieben Uhr - pünktlich."

„Ich weiß wahrlich nicht, womit ich diese Güte verdient habe."

„Ein halber Verwandter sind Sie nun doch geworden," sagte Franz, „und als Hausgenosse gehören Sie nach havanesischen Gesetzen ohnedies zur Familie. Sie wollen jetzt Ihr Quartier aufsuchen?"

„Meine neuen Wirthsleute werden mich wahrscheinlich schon längst erwarten," lächelte der junge Mann, „wenn auch freilich nicht mit einem so lieben Willkommen. Also auf Wiedersehen, und nehmen Sie nochmals meinen herzlichsten Dank dafür, daß Sie dem Fremden, der auf so wunderliche Art bei Ihnen eingeführt wurde, den Irrthum nicht haben entgelten lassen. Ich werde Ihnen Ihre Gründlichkeit nie vergessen." Die Männer schüttelten sich die Hand, der falsche Vetter neigte sich ehrfurchtsvoll gegen die Damen, die ihn immer noch mit einem schüchternen Erröthen entließen, und der Regierungsrath führte dann den Neffen in das für ihn bestimmte Zimmer, damit er es sich dort erst bequem mache, während er dem Onkel in kurzen Umrissen erstlich von seiner Reise und dann von seinen jetzigen Plänen und Verhältnissen erzählen mußte.

IV.

Des Regierungsraths Warnung war indeß keineswegs übertrieben gewesen, und der junge Havanese kaum im Stand, die an dem Tage auf ihn einstürmenden Besuche abzuwehren. /25/

Wie ein Lauffeuer hatte sich das Gerücht seiner Rückkehr unter all' seinen früheren Bekannten verbreitet, und besonders schien der weibliche Theil derselben ganz über alle Maßen neugierig, den Mann zu sehen, der sich jetzt neun volle Jahre bei den „Cigarren-Indianern" herumgetrieben hatte. Einige derselben kamen auch wirklich in der felsenfesten Ueberzeugung, einen dunkelbraunen, über und über tätowirten, halbwilden Menschen zu finden, und sahen sich grausam enttäuscht, als sich der Havanese auch in gar nichts von den übrigen europäischen jungen Leuten seines Alters unterschied, als vielleicht in der um einen Schatten dunkleren Hautfarbe seines Gesichts. Von Tätowirung war keine Spur an ihm zu sehen. Franz Kettenbrock fühlte sich aber in diesem Treiben nicht behaglich und parirte auf das Geschickteste drei verschiedene Einladungen zu drei verschiedenen Kaffeegesellschaften - hatte er ja doch auch in den ersten Tagen die Ausrede, sich ganz seinem Onkel widmen zu wollen.

Auf den nächsten Tag fiel aber der Ball, und da seine Cousinen außerordentlich beschäftigt waren, die nöthigen Anordnungen dazu zu treffen, ja der Regierungsrath selber alle Hände voll zu thun hatte, und dabei so viel kochen und braten ließ, daß er mit seinem Neffen im Wirthshause essen mußte, so ging dieser für den Nachmittag allen weiteren Begegnungen am besten dadurch aus dem Wege, daß er aus dem Thor dem nächsten Dorfe zuwanderte, um dort den Nachmittag Kaffee zu trinken, und dann noch ein paar Stunden die benachbarte freundliche und heimische Gegend zu durchstreifen. Hochauf athmete er, als er, vom lichten warmen Sonnenschein beglänzt, die lieben Hügel und Thäler, den blitzenden. Strom wieder erschaute, und an der nächsten Höhe angekommen, warf er sich in's Gras und blickte mit leuchtenden Augen auf das wunderliebliche Schauspiel, das sich vor ihm ausbreitete.

Wie hatte er sich auf diesen Augenblick gefreut! wie oft sich in Gedanken schon die bunten Matten, die dunkeln Wälder ausgemalt, die jetzt in Wirklichkeit wieder vor ihm lagen! Jedes Dorf kannte er auch noch beim Namen, und wußte wie er dort und da gespielt, an Sonn- und Feiertagen /26/ mit den Spielkameraden in die Berge gegangen, und leider auch an dem und jenem Ort die Obstbäume sorgloser Nachbarn geplündert hatte. Oh welch' eine liebe Zeit war das gewesen, und auch wieder, welch' trübe schwere Jahre lagen dazwischen! Sein Vater war erst gestorben, dann seine Mutter, und wie ihm die Heimath mehr und mehr verödete, wenn auch der Onkel den Knaben wie sein eigen Kind erzog, wachte die Sehnsucht in ihm auf nach jenem fernen, geheimnißvollen Land: Amerika. Zum Kaufmann von Jugend auf erzogen, trat er dort mit seinem achtzehnten Jahre selbstständig in ein Geschäft und vermehrte, mündig geworden, durch glückliche Speculationen sein Vermögen bald sehr bedeutend. Aber die Heimath konnte ihm das schöne fremde Land doch nicht ersehen; hierher trieb es ihn mit unwiderstehlicher Kraft zurück, und wenn er auch gerade nicht die Absicht hatte, sein Leben in Deutschland zu beschließen, wollte er doch sein Vaterland wenigstens noch einmal wiedersehen - die Gräber seiner Eltern besuchen. Dies hatte er auch schon mit Tagesanbruch gethan, sich an dem theuren Platz recht herzlich ausgeweint, und war dadurch recht weich, recht wehmüthig gestimmt worden.

Um so greller und unangenehmer berührte ihn dafür dies Drängen und Treiben der gesellschaftlichen Welt, die ihn aus den Armen seiner Familie heraus mit aller Gewalt in ihre Kreise ziehen wollte. Wie schal und nichtig kam ihm das Alles vor, und wie hatte er sich besonders über die Frau Steuerräthin geärgert, die seinethalben heute ein kleines Diner unter ganz intimen Freundinnen nur einfach zu dem Zweck arrangirt hatte, den „Havanesen" noch warm vom Schiffe fort an ihrem Tische zu sehen und sich seine Abenteuer aus erster Hand erzählen zu lassen. Vom Grabe der Eltern in die langweilige Gesellschaft - sein ganzes Herz empörte sich gegen den Gedanken, und wie er sich der Einladung selber geschickt zu entziehen gewußt hatte, so hätte er auch lieber dem Onkel den ganzen Ball heute noch ausgeredet, wenn es nur nicht zu spät dazu gewesen wäre.

Unter solchen Gefühlen schweifte sein Auge jetzt über die freundliche, sonnenbeschienene Landschaft hin, als seine Auf/27/merksamkeit auf seine unmittelbare Nähe, und zwar durch einen eigenen Zwischenfall geleitet wurde.

Etwa fünfzehn Schritt unterhalb von da, wo er auf dem Rasen lag, lief ein schmaler Fußpfad nach dem nächsten Dorf vorbei, und eine alte Frau, mit einem anscheinend schweren Korb auf dem Rücken, war dort in die Kniee gesunken und konnte, ohne Hülfe, nicht wieder auf. Dicht hinter ihr her kam ein ältlicher, breitschultriger Herr, anständig angezogen und eine Brille tragend, denselben Pfad. Die alte Frau hatte die Schritte gehört, und den Kopf nach ihm umwendend, sagte sie:

„Ach, liebes Herrchen, wären Sie wohl so gütig mir ein kleines Bischen heben zu helfen? Ich bin ausgerutscht und kann nicht wieder in die Höh' kommen; der Korb ist gar zu schwer."

Der breitschultrige Herr war bei ihr stehen geblieben, aber - er hatte lichte Glacehandschuhe über die dicken Finger gezogen und mochte sich die wahrscheinlich nicht schmutzig machen.

 

„Ladet nicht mehr auf, wie Ihr tragen könnt," brummte er deshalb finster vor sich hin, rückte sich die Brille, bog eben genug aus, die Frau nicht zu berühren, und - ging vorbei.

„Ach Du mein liebes Herrgottchen," klagte die arme Frau, „was giebt's doch für hartherzige Menschen in der Welt!" Sie brauchte jedoch nicht mehr zu sagen, denn Franz, über das Betragen des Burschen auf's Aeußerste entrüstet, war schon unten bei ihr, half ihr mit ihrem Korb wieder in die Höh' und sagte freundlich:

„Seid nicht böse, Mütterchen, unser Herrgott hat allerlei Kostgänger, und gute und böse, arme und reiche Menschen gemacht; von solchen, wie der da vorn, giebt's aber, dem Himmel sei Dank, nicht viel. - Doch Ihr tragt schwer, habt Ihr noch weit damit zu gehen?"

„Nein, mein gutes Herrchen - nur bis zu den nächsten Häusern drüben. Sonst hab' ich schon mehr getragen - wenn man aber erst einmal die Fünfundsechzig hinter sich hat, da wollen die Beine doch nicht mehr so recht fort. /28/ Aber, wie Gott will, und wenn's Zeit ist, wird er mich schon rufen."

„Adieu, Alte," sagte Franz und drückte ihr dabei etwas in die Hand.

„Oh Jemine!" rief die Alte erstaunt aus - „so viel Geld hab' ich ja wer weiß wie lange nicht beisammen gehabt. Ach, der Herrgott vergelt's tausend- und tausendmal, und lasse Sie -"

Franz hörte nicht die Hälfte von allen den Segenswünschen, die sie auf ihn herabflehte, denn er eilte, so rasch er konnte, dem Dorfe zu, wohin ihm schon der breitschultrige Herr vorangeschritten war. Diesen erreichte er auch gerade noch, als er eben rechts in eine Gartenpforte bog, und Franz sah kaum, daß dort aufgestellte Tische und Stühle einen Wirthshausgarten verkündeten, als er ohne Weiteres ihm zu folgen beschloß, um sich den hartherzigen Menschen wenigstens einmal in der Nähe zu betrachten. Gab es dann die Gelegenheit, so ließ sich ihm auch vielleicht sagen, was er von ihm und seinem Betragen hielt.

Der Breitschultrige hatte sich eine Portion Kaffee bestellt und setzte sich behaglich an einen kleinen runden Tisch, der einen weitästigen Birnbaum umschloß. Franz Kettenbrock ging an ihm vorüber und schleuderte ihm einen verächtlichen Blick zu; der dicke Herr bemerkte das aber gar nicht und sagte nur zu einem der eilfertig herbeispringenden Kellner:

„Habe schon bestellt."

Franz Kettenbrock blieb überrascht stehen und sah sich nach dem Breitschultrigen um. Die Stimme mußte er jedenfalls schon gehört haben - und war denn das nicht - das Gesicht hatte er freilich gestern Morgen nicht erkennen können - aber war denn das nicht etwa sein falscher Onkel aus dem alten Logis? - Der breitschultrige Herr nahm noch immer keine Notiz von ihm; Franz aber, jetzt fest entschlossen sich Gewißheit zu verschaffen, bestellte ebenfalls eine Portion Kaffee, zündete sich eine frische Cigarre an und setzte sich ohne weitere Umstände an den nämlichen Tisch, an dem Jener saß. Der Kaffee wurde gebracht; die Beiden schenkten sich schweigend ein und saßen eine ganze Weile einander gegenüber, ohne auch /29/ nur ein Wort mitsammen zu wechseln. Das hielt aber unser ungeduldiger Havanese nicht lange aus; ein Anknüpfungspunkt war auch bald gefunden: er ließ seine Cigarre ausgehen und bat seinen Nachbar um Feuer, und damit war ein Gespräch angeknüpft.

„Sehr schöne Gegend hier," sagte der Breitschultrige.

„Sehr schön - Sie sind fremd hier?"

„Vorgestern Nacht angekommen."

„Und wohnen vielleicht in einer nicht so hübschen Umgebung?"

„In Schlesien," lautete die Antwort, und Kettenbrock zweifelte jetzt keinen Augenblick mehr, daß er seinen „verkehrten Onkel" vor sich habe. Nur hinsichtlich des Namens mußte er sich noch Gewißheit verschaffen.

„Ja, dann glaub' ich, daß Ihnen die hiesige Gegend gefällt. - Sie sind Geschäftsmann, nicht wahr?"

„Advocat," sagte der Fremde - „treibe aber auch allerdings ein kleines Geschäft dabei," setzte er mit einem breiten, häßlichen Lächeln hinzu.

„Lieber Gott," meinte Kettenbrock - „das Geschäft ist ja doch die allgemeine Achse, um die sich die ganze Welt dreht, und nur wer sich einen guten Platz daran zu sichern weiß, das heißt der, der richtig speculirt, darf hoffen in der Welt zu reussiren."

„Ganz meine Meinung," nickte beifällig der Fremde, und über seine Züge stahl sich sogar bei der Bemerkung ein Schein von Wohlwollen.

„Ihre Geschäfte haben Sie also auch nach Yvenburg geführt, nicht wahr, mein Herr - wie war doch gleich Ihr werther Name?"

„Hobelmann."

„Ach ja, Herr Hobelmann," sagte jetzt Kettenbrock, vollkommen sicher.

„Geschäfte allerdings," erwiderte der Breitschultrige - „ein Proceß wenigstens. - Was ist Ihr Geschäft, wenn man fragen darf?"

„Ich bin Arzt," erwiderte auf gut Glück der junge Kettenbrock. /30/

„Arzt? hm! - Gutes Geschäft hier?"

„Nur mittelmäßig - die Gegend ist unverschämt gesund."

„Hm," sagte Herr Hobelmann, „hätte ich Sie früher gekannt, hätten wir vielleicht ein Geschäft zusammen machen können. Jetzt ist es vorbei."

„Wir Beide?"

„Ja. — In der Proceßsache, die ich hier für einen Clienten von mir führte - ich habe ihm eben die Schlußacten gebracht - handelte es sich darum, ein Gutachten von einem hiesigen Arzt über den Geisteszustand eines Dritten zu bekommen."

„In der That?" sagte Franz, und ein eigener toller Gedanke fuhr ihm wie der Blitz durch die Seele - „da interessiren Sie sich auch vielleicht für Geisteskranke?"

»Ich? - Damals lebhaft. Ueberhaupt ist ein Mensch, der nicht vollkommen bei Verstand ist, immer ein interessanter Gegenstand, da man nie bestimmen kann, inwieweit er für seine Thaten zurechnungsfähig blieb."

„Sie sind noch ganz fremd hier in der Stadt?"

„Vollkommen - kenne nur die Familie, bei der ich wohne. Warum?"

„Es war nur so ein Gedanke von mir," sagte Kettenbrock. „Ich bin nämlich in einem hiesigen Institut für Geisteskranke angestellt, mit denen wir heut Abend einen eigenthümlichen Versuch machen wollen."

„So? - Welchen, wenn man fragen darf?"

„Unser Obermedicinalrath hat einen Ball für die Verrückten arrangirt, auf dem sie sich vollkommen frei und unbelästigt bewegen sollen!"

„Die Tollen? - Alle Teufel, das muß sich merkwürdig ausnehmen. Aber es wäre wohl nicht möglich, Zutritt zu erlangen?"

„Nicht leicht - es ist verboten, Fremde dort hinzubringen."

„Hm - das ist schade - sehr schade!" sagte Herr Hobelmann. „Aber - ließe sich das nicht vielleicht auf die eine /31/ oder die andere Weise machen? - Es sollte Ihr Nachtheil nicht sein." ,

„Mit Geld, meinen Sie?" sagte Franz, durch diese Gemeinheit nur noch mehr in seinem Vorsatze bestärkt. „Nein, damit ist nichts anzufangen. Aber - der Oberarzt ist mein Onkel, und ich könnte vielleicht die Verantwortlichkeit auf mich nehmen, wenn Sie mir versprechen wollten, gegen keinen Menschen eine Silbe darüber zu äußern. Sie brächten mich in dem Fall in die größte Verlegenheit."

„Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort," rief Herr Hobelmann rasch und erfreut, „und würde Ihnen noch außerdem zu größtem Dank verpflichtet sein, Herr - wie ist gleich Ihr Name?"

„Franz - Doctor Franz."

„Sehr schön, Herr Doctor. Sagen Sie mir übrigens - Gefahr ist doch nicht dabei?"

„Nicht die geringste," beruhigte ihn Franz. „Die Leute stehen unter der unmittelbaren Aufsicht ihrer Wächter, die den Abend sämmtlich als Bediente oder Ballgäste verkleidet sind. Wir Aerzte verlassen sie außerdem keinen Augenblick, und falls ja bei Einem oder dem Andern die Tobsucht ausbrechen sollte, so ist kräftige Hülfe im Moment bei der Hand. Sie können sich wohl denken, daß jede nöthige Vorsichtsmaßregel für solchen Fall getroffen ist. Uebrigens sind wir auch der Leute ziemlich sicher, und nach unserer Methode hoffen wir eben von einem zeitweiligen Eingehen auf ihre fixen Ideen die heilsamsten Folgen. Es versteht sich trotzdem von selbst, daß man zu einem solchen Ball nur die harmlosesten Geisteskranken zuläßt. Wer sie nicht kennt, würde keinen Augenblick auf den Gedanken kommen, daß er sich unter lauter Verrückten befindet."

„Vortrefflich. Heut Abend ist der Ball, sagen Sie?"

„Heut Abend - ich will Sie abholen. Wo find' ich Sie?"

„Ich wohne in der Kreuzgasse, an der Ecke der Neuen Straße, die Nummer weiß ich nicht, beim Geheimrath von Pottlitz."

„Sehr gut, — ich werde um halb zehn Uhr mit einer /32/ Droschke an der Ecke warten. Aber Sie vergessen Ihr Ve¬sprechen nicht? Sie schweigen und halten sich bereit?"

„Kein Mensch erfährt eine Silbe," betheuerte Herr Hobelmann, „geht auch Niemandem etwas an, wo ich meinen Abend zubringe. Bin vollkommen mein eigener Herr."

„Also auf Wiedersehen um halb zehn Uhr. Ich muß jetzt in die Stadt zurück, um noch einige Anstalten zu treffen. Empfehle mich Ihnen, Herr Hobelmann."

„Empfehle mich Ihnen gehorsamst, Herr Doctor," sagte Herr Hobelmann, von seinem Stuhl aufstehend und sich vor dem jungen Mann verbeugend - „war mir ungemein angenehm, Ihre werthe Bekanntschaft zu machen."

„Ja, das hast Du mir schon gestern Morgen versichert," lachte Franz stillvergnügt, als er wieder den schmalen Pfad zur Stadt zurückschritt. „Aber warte nur, Kamerad, den Empfang gestern im heimathlichen Hause und Deine Hartherzigkeit gegen die arme Frau heute tränk' ich Dir jedenfalls ein, und - hahaha - vielleicht kriegen die Frau Steuerräthin und die Frau Commerzienräthin auch ihren Theil ab von dem Spaße. Jedenfalls ist es der tollste Einfall, den ich in meinem Leben gehabt, und der Onkel wird mir am Ende böse darüber. Aber, bah! Zuletzt muß er doch darüber lachen. Und Herr Hobelmann - hahaha - wenn's nur erst Abend wäre!"

V.

Der Abend kam, und in den Salons des Regierungsraths Kettenbrock, der ein ziemlich großes Haus machte und brillant eingerichtet war, sammelten sich nach und nach die Gäste, bei deren Empfang Franz Kettenbrock natürlich nicht fehlen durfte. Im Anfang machte ihm das auch Freude, denn er knüpfte da manche alte Bekanntschaft wieder an, und schon lang' vergessene Namen und Gesichter tauchten auf's Neue vor ihm auf und /33/ weckten schlummernde Erinnerungen zu neuem Leben. Als aber die Frau Steuerräthin ihre Tochter und die Frau Commerzienräthin ihre beiden Nichten mitbrachten, und dann noch außerdem ein paar alte adelige Fräulein hereinrauschten, den armen jungen Mann in ihre Mitte nahmen und ihn mit ihren faden, alltäglichen Phrasen todt zu quälen suchten, da erwachte ein Gefühl der Empörung in Franz.

Ihm zu Ehren ward die kleine Festlichkeit gegeben, und er als Hauptperson wollte und brauchte sich nicht langweilen zu lassen. Im Anfang hatte er allerdings leichte Gewissensbisse über seinen tollen Plan gehabt, und wie sein alter Onkel so vergnügt und glücklich in den hell erleuchteten Räumen umherschritt, und ihm einmal über das andere, wo das nur irgend unbemerkt geschehen konnte, in seiner Freude die Hand drückst, da beschloß er schon das Ganze ungethan und den alten egoistischen Hobelmann ruhig sitzen zu lassen. Aergerte diesen das nicht erfüllte Versprechen, so geschah ihm das gerade recht. Aber Stunde um Stunde verging, und den äußersten Belebungsversuchen des alten Regierungsrathes zum Trotz zog sich die Gesellschaft immer wieder in einzelne steife Gruppen zurück, die nur dann und wann darauf ausgingen, den Havanesen abzufangen und sich anzueignen. Franz hatte auch volle Arbeit, ihnen geschickt auszuweichen oder, wenn wirklich einmal gefaßt, den gelegten Schlingen zu entgehen, mit denen ihn besonders die beiden „Muhmen" verfolgten. Eben war er solcher Art ganz verbittert der Frau Commerzienräthin entschlüpft und stand in einem kleinen Nebenzimmer in tiefen Gedanken, als ihm plötzlich der Onkel seinen Arm unterschob und sagte:

„Das weiß doch der Henker, in unsere Gesellschaften, wir mögen's anstellen wie wir wollen, ist nun einmal kein Leben zu bringen, und wie ich sehe, ennuyirst Du Dich ebenfalls schmählich."

„Aber, lieber Onkel, - wie können Sie glauben -"

„Papperlapapp, ich bin nicht blind. Das langweilige Volk, anstatt Dich mit zu unterhalten, wartet darauf, daß Du ihnen irgend etwas Außergewöhnliches - etwas Havanesisches zum Besten geben sollst, und da stehen sie und thun den Mund /34/ nicht auf, außer wenn sie Dich ausfragen oder heimlich untereinander flüstern und ihre Nebenmenschen lästern. Das Gescheiteste wird sein, ich lasse anfangen zu tanzen, damit nur etwas Bewegung in sie kommt."

Franz sah schlau vor sich nieder.

„Und wenn ich nun mit etwas Havanesischem zwischen sie führe?"

„Das wär' recht," rief der Onkel - „irgend etwas, um Wechsel, um Bewegung in die Sache zu bringen."

 

„Aber Sie werden vielleicht böse, Onkel?"

„Ich? wahrhastig nicht. Wo willst Du denn hin?"

„Nicht fort - ich bin im Augenblick wieder da. Wie viel Uhr haben wir jetzt?"

„Es wird gleich halb zehn Uhr sein."

„Schön, lieber Onkel. So lassen Sie den Ball nur beginnen."

„Aber den Tanz wirst Du doch eröffnen?"

„Gewiß, wenn Sie es wünschen. Bis Sie in Ordnung sind, bin ich wieder da. Ich will nur mein Schuhwerk wechseln, denn ich blieb vorhin mit der linken Sohle an einer Schwelle hängen und habe sie mir abgesprengt."

„Bleib mir nicht zu lange aus. So wie Steuerraths Euphrosine die Gnadenarie und etwa noch „Die schönsten Augen" zu Ende gesungen hat, geb' ich der Tanzmusik das Zeichen."

Der junge Havanese benutzte den nächsten Moment, um die Thür zu erreichen, und einige ihm nachgeschleuderte Blicke aus schönen Augen nicht achtend, stürzte er hinaus, warf seinen Paletot über und war wenige Secunden später auf der Straße.

„Wie viel Uhr haben wir, Kutscher?" rief er einer der unten haltenden Droschken entgegen.

„Gerade schlägt's halb zehn Uhr."

„Ecke der Kreuzgasse und Neuen Straße! Dort wird ein Herr zu mir einsteigen, dann drehst Du augenblicklich um und fährst hierher zurück - aber nicht an die Front des Hauses. Weißt Du, wo der Garten an der Promenade ausmündet?" /35/

„Von dem Hause hier? - gewiß - es brennt gerade eine Laterne an der Pforte dort."

„Dorthin fährst Du, aber nicht den nächsten Weg. Fahr aus dem Emmer-Thor hinaus und das Stück über die Promenade bis an die Gartenthür - verstanden?"

„Sehr wohl."

„Hier ist Dein Fahrgeld für beide Touren und laß Dein Pferd ein wenig austraben."

Der Kutscher, sehr zufrieden mit dem ihm gegebenen Gelde, zog seinem Gaul ein paar tüchtige Peitschenhiebe über und ließ die alte Droschke über das holprige Straßenpflaster rasseln. Es dauerte auch nicht lange, so befanden sie sich an der bezeichneten Ecke, und kaum hielt dort die Droschke, als Herr Hobelmann auch schon, in seinen Mantel gehüllt, erschien.

„Sie sind außerordentlich pünktlich," sagte er sehr freundlich.

„In unserer Anstalt muß Alles nach der Minute gehen," erwiderte Franz. - Der Kutscher hatte die erhaltene Weisung wohl gemerkt. Er fuhr hinaus auf die Promenade.

„Ihre Anstalt liegt außerhalb der Stadt?" sagte Herr Hobelmann.

„Nein," lautete die Antwort, „nur frisch und luftig am entgegengesetzten Ende derselben."

„Sie haben doch meinethalben keine Schwierigkeiten gehabt?"

„Nicht im Mindesten - das heißt bis jetzt noch nicht. Lassen Sie sich nur nicht das Geringste merken, daß Sie eine Ahnung davon haben, wo Sie sich befinden. Die Leute wollen natürlich nicht, wie Sie sich wohl denken können, für Verrückte angesehen werden. Mit den verschiedenen Persönlichkeiten und ihren Eigenthümlichkeiten werde ich Sie unter der Hand bekannt machen. Sie sind doch Ihres Versprechens eingedenk gewesen und haben zu Hause nichts erwähnt?"

„Sie können sich auf meine Diskretion verlassen. Aber wenn mich der Oberarzt bemerkt?"

„Ich habe Ihnen schon gesagt," erwiderte Franz, „daß derselbe mein Onkel ist, und dem muß ich Sie natürlich gleich /36/ vorstellen, sobald wir eingetreten. Er hat das Fest arrangirt und sämmtliche Irrsinnige sind von ihm nach aller Form der Etikette eingeladen worden. Jeder betrachtet sich deshalb vollkommen in seinem Recht, und da die Anstalt ziemlich kostspielig ist und nur Geisteskranke aus den höheren, wenigstens bemittelten Ständen aufnimmt, so dürfen Sie sich auch auf glänzende Toiletten gefaßt machen."

„Ich bin auf's Aeußerste gespannt," versicherte Herr Hobelmann.

„Und da sind wir schon," sagte Franz, während er vorn an das Droschkenfenster klopfte. „Bitte, folgen Sie mir so rasch Sie können, denn ich habe mich schon eigentlich etwas über meine Zeit aufgehalten." Die Droschke hielt, und Franz Kettenbrock, der seinem Begleiter so wenig als möglich Zeit zum Umschauen gönnen wollte, sprang behend aus dem Wagen und in die Gartenthür. Herr Hobelmann folgte ihm eben so flink, und bald betraten sie das innere Haus und erstiegen die mit Teppichen belegte Treppe.

„Das sieht ja hier ganz vornehm aus," flüsterte Herr Hobelmann - „und alle die harrenden Diener da?"

„Sind theils Wächter, theils nur für den Abend von dem Magistrat entlehnte Polizeidiener, die sich hier aufhalten, um einer möglichen Unordnung vorzubeugen," erwiderte Franz. „Natürlich würden sie die Kranken, wollten sie in ihrer gewöhnlichen Uniform erscheinen, gleich von vornherein mißtrauisch machen. In dieser Livrée dagegen vermuthet keiner, was in ihnen steckt."

„Vortrefflich," sagte Herr Hobelmann. „Eigentlich sogar ein Bild unserer ganzen bürgerlichen Verhältnisse. Die Polizei spielt ihre Maskerade ausgezeichnet."

„Finden Sie?" lachte Franz, - „doch da sind wir bei den Irren. Jetzt nehmen Sie sich zusammen."

„Thun Sie mir nur den Gefallen und lassen Sie mich nicht allein."

„Haben Sie keine Angst, jedenfalls verlasse ich Sie nicht, bevor ich Sie einigen der Herren und Damen vorgestellt habe. Da drüben der alte Herr, das ist der Oberarzt, zu dem werde ich Sie vor allen Dingen führen."

„Und wie titulirt man den Herrn?"

„Herr Rath - ah, er hat uns schon gesehen! Er ist allerdings Obermedicinalrath, aber man nennt ihn hier in der Anstalt nur einfach Herr Rath."

„Franz, wo steckst Du denn?" sagte der Regierungsrath, der in diesem Augenblick den zurückkehrenden Neffen erspäht hatte und rasch auf ihn zukam. „Die ganze Gesellschaft ist schon in Verzweiflung."

„Lieber Onkel," sagte der junge Mann, „ich habe das Vergnügen, Ihnen hier Herrn Hobelmann vorzustellen. Er ist fremd in der Stadt, und ich möchte Sie ersuchen -"

„Sehr angenehm Ihre werthe Bekanntschaft zu machen," sagte der alte Herr.

„Ich muß tausendmal um Entschuldigung bitten, daß ich wage -"

„Keine Entschuldigungen; von meinem Neffen eingeführt, sind Sie mir herzlich willkommen. Tanzen Sie?"

„Es ist allerdings schon einige Zeit her, daß ich mich nicht mehr diesem Vergnügen hingegeben habe."

„Bitte, dann geniren Sie sich ja nicht," sagte der freundliche Wirth. „Jeder ist hier sein eigener Herr, und da drinnen kommt wohl eine Partie Whist oder L'Hombre zu Stande, an der Sie mit Bequemlichkeit Theil nehmen können." Der Onkel eilte geschäftig davon und Franz flüsterte seinem Opfer zu:

„Sie müssen jedenfalls tanzen; ich werde Sie schon einigen unserer „ruhigsten" Damen vorstellen."

„Aber ich habe wahrhaftig lange nicht getanzt."

„Gut. Dann nehmen Sie zum Anfang keine von den jüngsten, und erst einmal wieder in Gang, kommen Sie bald in den Wirbel hinein. Sehen Sie, da haben wir gleich eine unserer älteren Schönen."

„Die Dame mit den gelben Rosen?"

„Das ist eine ungarische Gräfin," sagte Franz, „die aber vollkommen geläufig Deutsch spricht. Sie hat die fixe Idee, daß ein deutscher Steuerrath sie aus ihrem Schlosse an der Theiß entführt und geheirathet habe." /38/

„Gerade ein Steuerrath? Das ist merkwürdig!" sagte Herr Hobelmann.

„Ich werde Sie gleich vorstellen."

„Und die beiden jungen Damen dort?"

„Von denen nachher. Seien Sie nur um Gottes willen voller Aufmerksamkeit gegen die unglückliche Gräfin."

„Und wer ist die alte Dame drüben mit dem Papier in der Hand?"

„Das ist die Königin von Birma."

„Wer?"

„Die Königin von Birma," wiederholte Franz ruhig und mit vorsichtig gedämpfter Stimme, denn die genannte Dame rauschte eben an ihnen vorüber und schien Jemanden zu suchen. Franz, der wohl ahnte, daß sie ihn aufzufinden wünsche, hatte sich durch die breite Gestalt des Herrn Hobelmann vollständig und glücklich gedeckt.