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Eine Mutter

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Rebe machte eine Verbeugung und verließ das Zimmer. Wie er die Thür hinter sich zudrückte, traf er vorn in der kleinen, halbdunkeln Küche, die ihr Licht nur durch ein Thürfenster des Vorsaales erhielt, Jettchen.

»Mein liebes Fräulein, ich danke meinem Schicksal, daß ich Ihnen wenigstens Guten Morgen sagen kann.«

»Guten Morgen, Herr Rebe,« erwiderte Henriette leise.

»Ihre Frau Mutter ist nicht wohl?«

»Hoffentlich nur eine Erkältung.«

»Hoffentlich – und Sie arbeiten so fleißig?«

»Ich muß ja wohl.«

»Sie glauben nicht, wie lang mir der gestrige Tag geworden ist – wie lang mir mein übriges Leben werden wird.«

»Ich verstehe Sie nicht,« sagte Jettchen leise.

»Ihr Onkel hat mir mit ziemlich deutlichen Worten das Haus verboten – und ich fühle selber, daß er dabei in seinem Rechte ist. Zürnen Sie mir nicht, mein liebes Jettchen, wenn ich seinem Befehl gehorche – ich sehe ein, daß es sein muß.«

Drinnen im Zimmer klingelte es.

»Die Mutter verlangt nach mir,« rief das junge Mädchen.

»Leben Sie wohl,« Jettchen, sagte Rebe und reichte ihr die Hand, die sie schüchtern nahm – aber wieder klingelte es – und sich losreißend, flog sie in das Zimmer zurück. Horatius Rebe aber sah ihr wehmüthig nach und verließ dann in einer recht gedrückten und traurigen Stimmung das Haus, welches er kurz vorher so freudig betreten hatte.

2.
Unter den Buden

Der Wagen mit dem jungen Paar und den Kindern, der vorhin Henriettens Aufmerksamkeit erregt, fuhr noch eine Strecke durch das Menschengewühl im Schritt, bis er einen freieren Platz erreichte. Dort ließ der Kutscher die Pferde ein wenig austraben, und bald hielt das leichte Fuhrwerk vor einem nicht sehr großen, aber außerordentlich freundlich gelegenen herrschaftlichen Haus, an dessen Gartenpforte schon verschiedene dienstbare Geister standen, um die erwartete Herrschaft in Empfang zu nehmen.

Der junge Mann war, wie nur der Wagen hielt, rasch zuerst hinausgesprungen, und seine beiden Kleinen aufnehmend und den herbeieilenden Mädchen übergebend, half er der jungen Frau ebenfalls aus dem Wagen – aber sie bedurfte kaum seiner Hülfe.

Es war eine reizende, schlank gewachsene Gestalt, mit wundervollen goldblonden Haaren und lebendigen, aber doch so seelenvollen Augen, die aber kaum ihre Hand auf seinen Arm stützte, so leicht sprang sie selbst von dem Wagen herab. Aber unten blieb sie stehen, und einen halb neugierigen, halb ängstlichen Blick umherwerfend, sagte sie mit leiser, fast zitternder Stimme:

»Und sind wir denn wirklich hier in Haßburg, Felix? Haben wir endlich unser lang ersehntes Ziel erreicht?«

»Haßburg, gewiß,« lächelte ihr Gatte, indem er ihren Arm in den seinen zog und, von den Kindern und den Dienern gefolgt, dem Hause zuschritt – »und alles Andere wird sich auch wohl fügen. Jetzt aber, herziges Frauchen, zeige ich Dir vor allen Dingen unsere neue Heimath, und hoffe gewiß, daß Du mit mir zufrieden sein sollst.«

»Mein guter Felix – Du sorgst so für Alles!«

»Du wirst mir bezeugen müssen,« lächelte ihr Gatte, »daß ich mich diesmal selbst übertroffen habe.«

Und in der That hatte er nicht zu viel versprochen. Das freundliche Haus, das mitten in einem reizenden, wohlgepflegten Garten stand, glich einem kleinen Paradies. Alles war dabei wohl reich und ihrem Rang entsprechend, aber auch so einfach und geschmackvoll hergerichtet, daß, wie er mit seiner Gattin die Räume durchschritt, Helene, die junge Gräfin Rottack, kaum Worte fand, ihm dafür zu danken.

So durchwanderten sie das ganze Haus, und endlich, als sie so ziemlich Alles besichtigt hatten, traten sie hinaus auf einen kleinen eisernen Balkon. Hier aber eröffnete sich ihnen ein wunderliebliches Landschaftsbild nach den, Haßburg umschließenden Hügeln und Hängen hinüber, und Helene, von der Aussicht wirklich entzückt und überrascht, flüsterte, indem sie ihr Haupt an des Gatten Schulter schmiegte:

»Wie soll ich es Dir danken, Felix, daß Du so meinen kleinsten, vielleicht thörichten Wunsch erfüllt? Wie soll ich überhaupt je im Leben das wieder gut machen, was Du schon in den wenigen Jahren für mich – für das arme, freundlose Kind – für die Waise gethan? – Ich weiß es nicht – mein ganzes Herz ist nur erfüllt von dem Einen Gefühl des Dankes, der Liebe für Dich, Du guter Mann!«

»Meine Helene – mein liebes Herz!« rief Graf Rottack, sie an sich pressend – »wer von uns ist dem Andern denn mehr zu Dank verpflichtet, Du mir, oder ich Dir? Was anders habe ich gethan, als nur die Liebe erwidert, die Du mir entgegenbrachtest, während Du Dein ganzes Glück, Dein ganzes Leben vertrauensvoll in meine Hände legtest!«

»Mein Felix!«

»Was wäre aus mir geworden,« fuhr der junge Mann fort, sie immer noch in seinem Arm haltend, »wenn Du Dich damals meiner nicht angenommen? In einer Stimmung, die mich der tollsten Streiche fähig machte, wäre ich vielleicht zu Grunde gegangen. Du allein hast mich dem Leben erhalten, und gebe nur Gott, daß ich Dir, armes Herz, auch den Frieden wiedergeben könne, nach dem Du Dich sehnst – daß ich Dir das Einzige verschaffe, was bisher nicht in meinen Kräften stand – die Liebe Deiner Mutter!«

»Und hast Du jetzt nicht den Schritt gethan, der uns ihr näher bringen mußte?« sagte Helene herzlich.

»Ja, mein Schatz,« erwiderte Graf Felix, indem er sie losließ und sich mit der Hand wie verlegen durch die dunkeln Locken fuhr – »aber – ich möchte nicht, daß Du Dich dadurch zu großen Erwartungen hingäbst, und ich – fürchte – wir sind jetzt gerade noch so weit von unserem Ziel entfernt, wie früher.«

»Du hast kein Vertrauen zu ihr…«

»Aufrichtig gesagt, nein,« erwiderte ihr Gatte. »Du weißt, daß die Gräfin Monford, als wir vor fünf Jahren aus Brasilien zurückkehrten, mit ihrem Gatten auf Reisen war und sich drei Jahre lang in Italien, Griechenland und Egypten amüsirte. Dann kehrten sie auf wenige Monate zurück und gingen wieder nach Paris und London, so daß eben kein Halt an sie zu bekommen war. Jetzt endlich haben sie sich seit etwa sechs Monaten hier bei Haßburg auf ihrem alten Stammsitz niedergelassen, und ich war im Stande, die genauesten Erkundigungen über sie einzuziehen.«

»Und was können fremde Menschen über sie sagen?«

»Fremde Menschen wissen genau, wie sie sich fremden Menschen zeigt,« sagte Graf Rottack achselzuckend, »und wir selber müssen vollkommen darauf gefaßt sein, als Fremde von ihr behandelt zu werden.«

»Die eigene Tochter?«

»Liebes Kind, Du vergißt, daß sie Dich nicht öffentlich anerkennen darf, wenn sie sich nicht in den Augen der Welt vollständig compromittiren will. Graf Monford ist dabei nicht allein ein sehr reicher, sondern auch entsetzlich stolzer Herr, der an seinem Stammbaum mit einer Verehrung hängt, als ob ihn Gott der Herr damals dem Altvater Noah mit den ersten Weinreben in den Garten gepflanzt hätte. Einen Flecken darauf, sobald er nur eine Ahnung davon bekäme, würde er für mehr als ein Unglück, er würde ihn für das Verderben seines ganzen Hauses halten, und erhielte er die Gewißheit des Geschehenen, so zerrisse er – glaube mir, ich kenne dergleichen Herren – nachsichts- und erbarmungslos die Bande, die ihn an seine Gattin fesseln. Und seine Gattin weiß das, darauf kannst Du Dich verlassen.«

»Aber das Gefühl muß ja doch in ihr sprechen,« sagte Helene weich und herzlich.

Graf Rottack wollte etwas darauf erwidern, aber bezwang sich. Er hatte die Arme gekreuzt und starrte einen Augenblick sinnend auf die sonnenbeschienenen Hänge hinaus. Endlich wandte er das Antlitz wieder der ängstlich zu ihm aufschauenden Gattin zu und sagte, ihr freundlich in die Augen sehend: »Du weißt, meine Helene, daß ich bis jetzt Alles gethan habe, Deinen Wunsch zu erfüllen, Deinen Plan zu fördern. Es ist Alles geschehen, um uns dem näher zu bringen – die Entfremdung von Deiner Mutter zu heben; so laß uns aber, ehe wir den letzten Schritt dazu thun, auch die Sache vorher ruhig besprechen, damit Dich eine doch mögliche Enttäuschung Deiner Hoffnungen nachher nicht zu unerwartet faßt und erschüttert.«

»So glaubst Du wirklich…«

»Von Glauben kann noch keine Rede sein, mein Herz, aber Du weißt, wie Deine Mutter, nach jenem Fehltritt ihres Lebens, sich von Dir lossagte und von da an eigentlich weiter gar nichts für Dich that, als daß sie jener nach Brasilien gehenden Frau, der sie Dich vollständig überließ – ein Kostgeld für Dich zahlte. Du entdecktest das Geheimniß und verließest jene Frau. Fest aber darfst Du davon überzeugt sein, daß diese Madame Baulen Deiner Mutter die Flucht ihres Kindes nicht angezeigt hat, sondern nach wie vor das Geld für Dich noch regelmäßig fortbezieht. Deine wirkliche Mutter muß Dich also noch immer in Brasilien glauben.«

»Ich bat Dich immer, ihr einmal zu schreiben,« sagte Helene leise.

»Um Gottes willen keinen Brief, Schatz!« rief ihr Gatte lächelnd. »Eine Sache, die man wirklich als Geheimniß wahren will, darf man nie einem Papier anvertrauen, denn kein Mensch kann wissen, wem ein solches Blatt einmal durch Zufall in die Hand geräth. Denke nur daran, wie Du selber das Geheimniß Deiner Geburt erfahren: nur dadurch, daß Deine Mutter diese nöthigste aller Vorsichtsmaßregeln versäumte, durch einen in Deine – also in unrechte Hände gerathenen Brief. Nein, alles Derartige muß entweder mündlich oder gar nicht abgemacht werden, mündlich und ohne Zeugen, schon Deiner Mutter und deshalb auch Deinetwegen, und einmal habe ich den Versuch schon gemacht.«

»Du hast sie gesehen, Felix?« rief Helene rasch und geängstigt, »und mir kein Wort davon gesagt,« setzte sie leise und fast vorwurfsvoll hinzu, »war das recht?«

»Weil ich Dir nicht unnöthiger Weise weh thun wollte, Schatz.«

»Und was sagte sie?«

»Ich hatte mich ihrem Gatten und ihr, als ich damals das Haus kaufte, an einem dritten Orte vorstellen lassen und benutzte dann die Gelegenheit, nachdem der Kauf abgeschlossen, mich bei ihnen als Nachbar, in ihrer eigenen Wohnung, einzuführen. Natürlich war es nur eine Formvisite, aber es sollte auch zugleich eine vorläufige Probe sein, ob die Gräfin bei meinem Erscheinen irgend eine Bewegung zeigen würde. War das der Fall, so hätte Madame Baulen in Santa Clara ihr doch, und wider alles Erwarten, Mittheilung gemacht.«

 

»Und was sagte sie?«

»Ich hatte mich in unserer alten brasilianischen Freundin nicht geirrt,« lachte Felix. »Die Gräfin Monford konnte keine Ahnung haben, denn sie zuckte mit keiner Wimper, mein Name rief keine Erinnerung in ihrer Seele wach. Ich war ihr ein vollkommen fremder Mensch.«

»Und war sie gut, war sie freundlich?« fragte Helene, und ihr Blick hing angstvoll an den Lippen des Gatten.

»Sie war sehr vornehm und sehr stolz,« sagte Felix nach einigem Zögern; »ich konnte nicht warm bei ihr werden. Aber laß Dir das keine Sorgen machen, Kind,« fuhr er herzlich fort, als er den schmerzlichen Zug in ihrem Antlitz bemerkte, »gegen einen vollkommen fremden Menschen konnte sie ja auch kaum anders sein. Nur dürfen wir nichts übereilen und müssen vor allen Dingen erst einmal bekannt mit der Familie werden. Sie soll Dich erst sehen und lieb gewinnen, und dann findet sich einmal eine Gelegenheit, wo Du sie, am besten hier bei uns, ohne Zeugen sprechen und Dich ihr entdecken kannst. Willst Du das mir überlassen?«

»Von Herzen gern, Felix,« sagte Helene mit tiefem Gefühl. »Wem auf der Welt könnte ich lieber den heißesten Wunsch meiner Seele anvertrauen, als Dir, der Du schon so oft bewiesen hast, wie lieb ich Dir bin, wie gut Du es mit mir meinst.«

»Schön, meine Puppe,« lachte da Felix wieder in der alten muntern Laune und schloß sie in die Arme. »Dann aber mach' auch jetzt wieder ein freundliches Gesicht und laß Kummer und Sorgen fahren. Was geschehen kann, geschieht, dann haben wir uns wenigstens selber keine Vorwürfe zu machen. Und nun, Schatz, nimm Dich vor allen Dingen einmal Deiner Kinder an, denn die kleine Gesellschaft macht ja draußen einen Heidenlärm.«

»Ich kann sie nicht mehr bändigen, Herr Graf!« rief in diesem Augenblick die Bonne, die mit ihnen aus dem Nebenzimmer kam. »Günther will absolut hinaus auf den Markt unter die Buden, und Helenchen verlangt ebenfalls zur Musik!«

»Vortrefflich, dann gehen wir unter die Buden,« lachte Felix, dem es ganz erwünscht kam, etwas gefunden zu haben, was seine junge Frau für den Augenblick zerstreuen konnte, und ein Jubelgeschrei der Kinder antwortete ihm.

Helene war nicht recht damit einverstanden, aber das kleine Volk hatte einmal die Zusage und nahm den Papa beim Wort, und die nöthigen Anordnungen waren bald getroffen.

Es mochte jetzt etwa zwei Uhr sein; das Diner, welches das junge Paar stets mit den Kindern und der Bonne einnahm, war auf fünf Uhr bestellt, und mit dem jubelnden Knaben an der Hand, während Helene das Töchterchen führte, von der Bonne und einer Magd begleitet, die mitgenommen wurde, um die Kleinste von Zeit zu Zeit zu tragen, schritten sie in das Treiben hinaus, das selbst bis hierher seine Trabanten gesandt hatte. Die Schützenwiese lag aber auch gar nicht weit von dort entfernt, und man konnte das Hämmern der Pauken, wie einzelne Trompetenstöße und ebenso den scharfen, kurzen Krach der Büchsenschüsse, wenn auch durch die Entfernung gemildert, doch deutlich bis hier herüber hören.

Und die Kinder waren selig, denn überall bot sich ihnen Neues, Ungeahntes.

Hier stand eine Polichinell-Bude mit den kleinen, beweglichen Figuren und der geheimnißvollen, aus dem Kattunkasten herausklingenden Stimme. Dort auf einem großen, runden Tische, von zahlreichen Zuschauern umdrängt, gab eine bunt gekleidete Affenfamilie ihre Vorstellungen. Da drüben wurde nach einer Reihe von aufgestellten Scheiben und Sternen mit Bolzenbüchsen geschossen, und wenn man das Ziel traf, so sprang plötzlich ein bunt gemalter Mann mit einer spitzen Mütze heraus, oder ein lauter Knall kündete den Treffer.

Und dann die Carroussels! Wie jubelte das kleine Pärchen, als es die bunt beflaggten schwebenden Pferde und Wagen sah, und natürlich gaben sie keine Ruhe, bis sie mitten darin saßen und, von der Bonne und Magd bewacht, ihren Rundritt machen durften. Der kleine Günther ließ aber richtig nicht nach, bis er auch auf eins der kleinen Pferdchen gesetzt wurde, wo er versprach, sich tüchtig festzuhalten. Er faßte auch mit beiden Händchen die Eisenstange, als ob sein kleines Leben daran hinge.

Die Mutter war erst ängstlich, daß er herunterfallen könnte, denn wenn sie selber auch das wildeste Pferd nicht scheute, sorgte sie sich doch um den kleinen Liebling. Der Vater ließ ihn aber lächelnd gewähren, und wie stolz saß jetzt der kleine Bursch auf seinem gemalten Pferd, dessen Seiten er mit den Hacken bearbeitete, bis sich die Reihe an zu drehen fing. Dann aber klammerte er sich fest und ängstlich an, denn so rasch hatte er sich die Bewegung doch nicht gedacht.

Und nun kamen die Buden selber mit ihren zahmen Ponies und kreischenden Papageien, mit ekelhaft fetten Menschen, die sich für Geld sehen ließen, mit angestrichenen Indianern und gezähmten Hyänen, mit Taschenspielern, Feuerfressern, Bauchrednern und wie diese Unnatürlichkeiten alle hießen. Die Kinder sehen allerdings nur das Wunderbare und den Flittertand daran, während die Erwachsenen gewöhnlich ein Gefühl des Ekels oder Mitleids beschleicht, wo derartige Charlatanerien zu einem Broderwerb benutzt werden, die doch das Elend nicht verbergen können, das hinter all' dem Tand und Putz sich birgt.

Das junge Paar ekelte auch dieses wüste Treiben an, das sie nur den Kindern zu Liebe wieder einmal durchkosteten. Diese ließen aber keine Ruhe, bis sie auch wenigstens ein paar der Buden betreten hatten, und am meisten jubelten sie bei einem Marionettenspiel, aus dem sie fast nur mit Gewalt wieder entfernt werden konnten.

»Bleib nur ein klein wenig sitzen, Mama,« rief Helenchen, als der Vorhang endlich fiel, »er geht gleich wieder in die Höh'!« Lachend nahm Graf Rottack die Kleine auf den Arm, um sie durch das Gedränge hinaus in's Freie zu tragen, und athmete ordentlich hoch auf, als er endlich wieder den blauen Himmel über sich sah. Hier draußen preßte aber gerade eine solche Masse von Menschen vorüber, daß er der Bonne Acht auf den Knaben befahl und, seine Frau an den Arm nehmend, über die Straße hinüber zu kommen suchte, wo er freieren Raum sah.

Die Marionettenbude war die letzte in der Reihe, und dicht daran führte die breite Promenade, welche sich um die Stadt selber herumzog und gewöhnlich zu Spazierfahrten der haute volée benutzt wurde. Eben jetzt kam eine Equipage, langsam im Schritt durch die Menschenmenge sich Bahn suchend, vorüber, und die aus dem Wege Drängenden hemmten jede Passage in diesem Augenblick so, daß Graf Rottack mit den Seinen stehen bleiben mußte, um sie erst vorüber zu lassen.

Helene fühlte, wie Felix ihren Arm fest an sich drückte, und von einer plötzlichen Ahnung ergriffen, flüsterte sie rasch und erschreckt: »Wer ist das?«"

»Sei stark, mein braves Frauchen, und verrathe keine Bewegung,« ermahnte sie ihr Gatte, »es sind Monfords!«

»Meine…«

»Bst, mein Schatz,« warnte Felix rasch, »wir können ihnen nicht mehr ausweichen. Hänge Dich nur fest an meinen Arm.«

Der Wagen hatte sie erreicht und fuhr unmittelbar an ihnen vorüber. Nur der Graf und die Gräfin saßen im Fond desselben. Er, der Graf, mochte ein Herr hoch in den Sechzigen sein, mit weißem, vollem Haar und einem wohlgepflegten Schnurrbart.

Seine Frau, eine Dame von vielleicht einigen vierzig Jahren, stattlich und vornehm, in eleganter, aber nicht überladener Toilette, während der Graf selber nur eine Jagdjoppe mit grünem Kragen trug, lehnte nachlässig neben ihm und betrachtete die an ihrem Wagen vorbeidrängenden Menschen durch ihre Lorgnette.

Graf Rottack, der noch immer sein kleines Töchterchen auf dem Arm trug, grüßte, und Helene, die zitternd an seinem Arme hing, verneigte sich ebenfalls. Graf Monford, den jungen Mann erkennend, dankte freundlich, während die Gräfin nur eben die Lorgnette von ihrem Auge entfernte und langsam das Haupt neigte.

Die Gräfin mußte einmal bildschön gewesen sein – sie war es selbst jetzt noch und schien das auch zu wissen – aber der Wagen passirte, und Graf Rottack, der sich erst umsah, ob er auch die Seinen bei einander habe, schritt jetzt mit Helenen über die Straße, um aus dem Menschenschwarm hinaus zu kommen. Dort übergab er sein kleines Töchterchen der Wärterin.

»Kanntest Du den Herrn?« sagte im Wagen Graf Monford zu seiner Gattin, als sie vorübergefahren.

»War das nicht der Graf Rottack, der uns einmal vor einiger Zeit besucht?«

»Ganz recht, mit seiner jungen Frau wahrscheinlich. Er hat sich ja hier angekauft. Ein hübsches Paar.«

»Aber die Frau scheint sehr kränklich, sie hatte keinen Blutstropfen im Gesicht.«

»Möglich, vielleicht angegriffen von der Reise. Es kann auch sein, daß er sie gerade aus Gesundheitsrücksichten hierher gebracht. So viel ich weiß, ist es eine Amerikanerin.«

»Aus Amerika?«

»Er war ja selber lange dort…«

Die Unterhaltung wurde hier abgebrochen. Die Gräfin hing ihren eigenen Gedanken nach, und der Graf richtete sich auf, um nach den Pferden zu sehen, indem das Handpferd vor einem vorüberziehenden Kameel scheute und nur schwer wieder beruhigt werden konnte.

Sprachlos hing indes Helene an des Gatten Arm und mußte ihre ganze Geistesstärke zusammennehmen, um der Bewegung Herr zu werden, die sie beim ersten Anblick der Mutter ergriffen.

»Oh, wie kalt, wie stolz sie aussah!« flüsterte sie endlich leise vor sich hin.

»Beruhige Dich, mein Herz – wie bleich Du nur geworden bist – sei mein starkes Kind. Es wird ja noch Alles gut werden.«

»Laß mich nur einen Augenblick, Felix!« bat die junge Frau, »es war nur der erste Moment, die erste Überraschung. Sieh', jetzt geht es wieder besser, ich bin ja nur ein thöricht Kind, daß ich mir über das Aussehen der stolzen Frau Sorge machen sollte. Konnte sie denn ahnen, wer an ihrem Wagen stand? Und ihr Antlitz war so lieb und schön – Du hast Recht, Felix: es wird noch Alles gut werden.«

Mitten im Weg kam ein kleiner, dicker Herr auf sie zu, der, die Hände in den Taschen, einen sehr hohen Cylinderhut auf hatte und, obgleich er sehr anständig und einfach gekleidet ging, doch durch seine Beweglichkeit, mit welcher er den kleinen, runden Körper schwenkte, und durch sein entschieden vergnügtes Gesicht Rottack's Auge für einen Moment auf sich zog. Aber bei solchen Gelegenheiten, wie Jahrmarkt und Vogelschießen, kommen ja oft gar wunderliche Leute zusammen, und er wollte eben mit der Gattin vorübergehen, als des Fremden Blick auf sie fiel.

Merkwürdig war die Veränderung, die da in dessen Zügen vorging. Im Nu war der kleine vergnügte Mann ganz ernsthaft geworden, ja, sah ordentlich erstaunt aus, riß aber auch im nächsten Augenblick die rechte Hand aus der Hosentasche und den Hut vom Kopf, wobei er eine ordentlich blendende Glatze zeigte, und ging tief grüßend, aber wie verdutzt vorüber.

Graf Rottack konnte kaum ein Lächeln über den wunderlichen Menschen unterdrücken, aber er dankte freundlich und schritt jetzt in dem hier freier werdenden Weg der gar nicht mehr so fern liegenden Wohnung zu.

Auch von Helenens Antlitz war jetzt der Schatten gewichen, der sich über ihre lieben Züge gelegt, und die Farbe in ihre Wangen zurückgekehrt. Sie hatte ihr kleines Mädchen, das nicht länger getragen werden wollte, an die rechte Hand genommen, und die Kleine trippelte munter nebenher und zeigte mit dem freien Händchen, fortwährend jubelnd, bald da-, bald dorthin, wo sie etwas Neues und Auffallendes entdeckte.

»Bitte um Entschuldigung,« sagte in diesem Augenblick, dicht an Graf Rottack's Seite, eine Stimme, und als er den Kopf danach umdrehte, bemerkte er zu seinem Erstaunen den komischen kleinen Fremden, der wieder mit entblößtem Kopf neben ihm stand, oder vielmehr neben ihm herging und, zu ihm aufsehend, fortfuhr: »Ich habe doch das Vergnügen, den Herrn Grafen Rottack zu begrüßen?«

»Mein Name ist Rottack,« sagte Felix erstaunt, »aber ich weiß nicht…«

»Und kennen Sie mich nicht mehr? Und die Frau Gräfin auch nicht? Und das?« rief er, indem er seinen Hut wieder aufstülpte, die Füße auseinander spreizte und beide Hände auf die eingebogenen Kniee drückte – »Hurrjeh, das ist schon die kleine Familie?«

»Jeremias!« rief in dem Augenblick erstaunt Helene aus.

»Jeremias, bei Allem, was lebt!« lachte jetzt Rottack gerade hinaus, indem er dem kleinen, noch vor den Kindern kauernden Mann die Hand entgegenstreckte. »Mensch, wo kommen Sie auf einmal hergeschneit?«

»Direct von Brumsilien, Herr Graf,« sagte der kleine Mann mit dem ernsthaftesten Gesicht, indem er sich wieder aufrichtete, die dargebotene Hand derb und herzlich schüttelte und dann eben so ungenirt Helenens freundlich gebotene Rechte nahm – »direct von Santa Clara, aus dem alten Nest, und wahrhaftig, keinem Menschen auf der Welt hätte ich lieber begegnen mögen, als Ihnen Beiden! Der Anblick thut kranken Augen wohl. Und das ist die kleine Familie? Jemine, meine Güte, was für ein paar Puppen; und so geschwinde!«

 

Ein Zug von Schmerz war über Helenens Antlitz gezuckt, als der Anblick des Fremden aus der fernen Colonie ihr rasch wieder schon fast vergessene trübe Bilder vor die Seele rief; aber wie eine leichte Wolke strich es darüber hin, und bald lag wieder lichter Sonnenschein auf dem holden Angesicht.

Sie hatte auch Jeremias immer gern gehabt und wohl gefühlt, daß dem komischen, hastigen Wesen des Mannes ein guter Kern zu Grunde lag, der es treu und ehrlich meinte. Rottack selber war aber hoch erfreut, dem kleinen Manne wieder begegnet zu sein, der ihm Nachricht von vielen Menschen bringen konnte. Übrigens sah er recht gut, daß sich Jeremias, wenn er auch sonst vielleicht noch der Alte geblieben, in seinen Verhältnissen und seinem ganzen Leben sehr gebessert haben mußte.

Er war nicht allein sehr anständig gekleidet, sondern sah auch adrett und sauber aus. Er trug keinen Goldschmuck irgend welcher Art an sich, aber seine Kleider vom besten Tuch, und schneeweiße Wäsche. Nur in die Glacé-Handschuhe hatten sich die arbeitsharten Hände nicht gewöhnen können, möglich auch, daß vielleicht keine passende Größe aufzufinden gewesen, denn im Innern der Hand waren schon beide aufgeplatzt. Aber seine Bewegungen blieben frei und unbefangen, wie immer.

»Nun sagen Sie mir aber vor allen Dingen, Jeremias,« rief Rottack endlich, nachdem er sich von seinem ersten Erstaunen über dieses plötzliche Begegnen erholt, »wie kommen Sie gerade nach Haßburg? Stammen Sie aus dieser Gegend, oder hat Sie nur der Zufall hierher geführt?«

»Keins von Beiden,« erwiderte der kleine Mann, der aber sonderbarer Weise wie etwas verlegen bei der Frage wurde; »das ist übrigens eine lange Geschichte, Herr Graf, die sich nicht so auf der Straße erzählen läßt.«

»Dann kommen Sie mit uns, Jeremias,« rief der Graf rasch, »und essen Sie mit uns – wir gehen gerade zum Diner!«

»Aber, Herr Graf!« rief Jeremias, ordentlich verblüfft.

»Machen Sie keine Umstände,« lachte Felix, der seelenfroh war, gerade jetzt etwas zu finden, das Helene zerstreuen und ihr die frohe Laune wiedergeben konnte; »wir sind ganz unter uns und können da nach Herzenslust plaudern. Ich habe eine ordentliche Sehnsucht danach, wieder einmal etwas von Brasilien zu hören.«

»Na, wenn Sie es denn nicht anders haben wollen,« lachte Jeremias, dem man es aber ansah, wie schmeichelhaft ihm die Auszeichnung war – »mir kann's recht sein. Jemine, es geht aber doch eigentlich nirgends curioser zu, als in der Welt!«

»Also Sie kommen mit?« lächelte Helene, die selber schon zu lange in den transatlantischen Colonien gelebt hatte, um darin etwas Außerordentliches zu finden, daß ein Mann, der früher sogar in einem dienenden Verhältnis zu ihnen gestanden, jetzt auch einmal ihr Gast sein sollte, ja, es drängte sie selber, Neues aus dem alten Leben zu hören, mit dem sie jetzt freilich vollkommen abgeschlossen.

»Ob ich mitkomme,« lachte aber Jeremias, »mit dem größtmöglichsten Vergnügen, und die kleine Erbprinzessin werde ich mir indessen ausbitten,« und damit wollte er das kleine Helenchen von der Erde und auf den Arm nehmen. Das aber war für Helenchen zu viel Vertraulichkeit auf einmal – den fremden Mann kannte sie ja noch gar nicht, und mit einem: »Du, das darfst Du nicht!« fuhr sie zurück und wehrte ihn mit ihren kleinen Händchen von sich ab.

»Steckt im Blute,« lächelte Jeremias, während er, den Kopf seitwärts gehalten, nach ihr hinabsah – »bin der kleinen Comtesse noch nicht vorgestellt worden; aber ich weiß, wie man's macht – bitte, warten Sie nur einen Augenblick!« und ehe Graf Rottack und Helene nur etwas entgegnen konnten, drehte er sich ab und schoß mit langen Schritten auf eine gerade dort gelegene große Conditorei los, in die er eintauchte und wenige Minuten später wieder mit einer riesigen, goldpapiernen Zuckerdüte zum Vorschein kam.

»Na, und jetzt, mein gnädiges Fräulein,« rief er, indem er dem lachenden Kinde die Düte offen hinhielt, »was sagen wir nun? Zugegriffen, versteht sich – Kinder sind sich doch alle gleich, allgemeine Menschennatur. Und jetzt wollen wir zum Essen gehen, wenn die Frau Gräfin nichts dagegen haben.«

Damit nahm er die Kleine, die es sich, eifrig mit der Düte beschäftigt, jetzt auch ruhig gefallen ließ, ohne Weiteres auf den Arm und unterhielt sich, während Felix mit der Gattin voran und ihrem Hause zuschritt, unterwegs mit der ihm erst erstaunt und dann lachend zuhörenden Bonne.