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Der Erbe. Dritter Band.

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Endlich nahte der entscheidende Moment; das Hofthor wurde geöffnet, und Salomon, in seinem gewöhnlichen braunen Rock, das Käppchen auf, wie er immer ging, trat heraus. In demselben Augenblick aber entstand auch ein Lärm, ein Geheul und Geschrei, Jubeln und Hurrahrufen, daß aus den benachbarten Straßen die Menschen herbeigestürzt kamen, weil sie glaubten, im Judenviertel sei eine Revolution ausgebrochen. Die Jungen warfen dazu ihre schmierigen Mützen in die Höhe, die Frauen schwenkten in Ermangelung von Taschentüchern ihre Halstücher, die Kinder schrieen, die Hunde bellten, und es war in der That eine nicht zu beschreibende Scene. Salomon wurde auch wirklich ganz gerührt davon; die Thränen standen dem alten Mann in den Augen, und er winkte nur immer, während sich der Arzt die Ohren zuhielt, nach rechts und links mit der Hand hinüber, und eilte dabei, was er konnte, in den Wagen, nur um fortzukommen. Aber das half ihm nicht einmal, denn der jugendliche Schwarm folgte ihm, so weit seine Grenze reichte, mit Jubeln und Hurrahschreien, und zog sich nur erst zurück, als die Droschke in eine der Hauptstraßen der Stadt einbog, wohin sich die kleine Bande nicht getraute.

Auf der Polizei erwartete ihn schon der Polizei-Director, der sich selber von dem Thatbestand überzeugen wollte, da der Fall wirklich Aufsehen im Lande gemacht hatte. War doch seit langer Zeit kein so frecher Raubanfall in ganz Alburg vorgekommen und gerade dieser Ort von schlechtem Gesindel bis jetzt verhältnißmäßig sehr wenig heimgesucht worden! Die Sachen hatte man auch alle oben im Criminalamt auf einer langen Tafel ordentlich ausgelegt, und es fiel dem alten Mann nicht schwer, das darunter zu bezeichnen, was ihm gehört hatte und ihm an jenem Abend geraubt worden, denn seit der Zeit war ja sein Laden fest verschlossen gewesen. Auch die Summe der Banknoten gab er an, die ihm gestohlen worden, und man hatte allerdings in einer silbernen Zuckerdose eine Partie Banknoten, einen Theil derselben aber auch an Heßberger's Körper gefunden, bei dem sich, als er visitirt wurde, ergab, daß er einen breiten Gurt von wasserdichtem Zeug um den Leib trug.

Die Hauptsache blieb noch übrig, und zwar eine Confrontation mit dem Verbrecher, der jetzt herbeordert wurde, während Salomon so lange in ein Nebenzimmer treten mußte. Das erste Verhör sollte in Gegenwart des gestohlenen Gutes stattfinden, und man wollte versuchen, ob man vielleicht ein offenes Geständniß von dem Verbrecher erhalten könne.

Darin hatte man sich aber in Heßberger geirrt; denn mit einer ganzen Nacht Zeit, um über Alles gehörig nachzudenken, schien er zu dem Entschluß gekommen zu sein, Alles zu leugnen; es war das letzte verzweifelte Mittel, um einen Urtheilsspruch von sich abzuwenden – er wußte wenigstens kein anderes.

Actuar Bessel führte heute das Protokoll, während einer der Justizräthe das Verhör leiten sollte. Der Polizei-Director war nur als stummer Zeuge im Zimmer geblieben.

Heßberger wurde vorgeführt; er sah ziemlich blaß aus, und die Hausjacke, die er angehabt, als man ihn gefangen fortführte, war ihm bei dem gestrigen Kampf an der Treppe zerrissen, so daß das eine Schulterblatt herunterhing. Schmutzig und scheu, aber doch mit einer Art von kriechender Höflichkeit trat er in den Saal, und die kleinen grauen Augen flogen blitzschnell durch den inneren Raum und streiften nur flüchtig über die ausgestellten Gegenstände, die er jedenfalls genau genug kannte, aber doch nicht zu beachten schien.

Die gewöhnlichen Fragen wurden ihm jetzt vorgelegt: nach Namen und Alter, wie lange er schon in Alburg wohne, lauter Dinge, welche die Polizei genau so gut wußte, wie er selber – und ob er schon jemals vor Gericht gestanden. Das Letztere verneinte er auf das entschiedenste, und wollte noch eben hinzusetzen, daß er ein ganz unbescholtener Bürger wäre, als ihm der Untersuchungsrichter das Wort abschnitt und ihn fragte, wie er zu den Sachen gekommen wäre, die dort auf dem Tische ausgebreitet lägen.

»Herr Geheimer Justizrath,« sagte der Mann, indem er jetzt zu dem Tisch trat und die Gegenstände dem Anschein nach aufmerksam betrachtete, »es thut mir leid, darüber keine Wissenschaft zu besitzen; ich habe das Logis jetzt lange Jahre, aber nie geglaubt, daß in meinem Kohlenkeller ein solcher Schatz begraben läge, oder ich würde gewiß nicht versäumt haben, dem Herrn Geheimen Polizei-Director davon die gebührende Anzeige zu machen.«

»Ihr leugnet also, daß Ihr etwas von dem Erwerb dieser sämmtlichen Gegenstände wißt und die Eigenthümer, denen sie früher gehört haben, kennt?«

»Aber, mein bester Herr Geheimer Justizrath…«

»Ja oder Nein?«

»Bitte mich zu paddoniren, ich habe die Frage nicht verstanden,« sagte der Mann ruhig.

Der Justizrath biß sich auf die Lippe. »Ich frage Euch, ob Ihr wißt, woher die Sachen stammen, oder ob Ihr es nicht wißt.«

Staatsanwalt Witte trat in diesem Augenblick in's Zimmer und ging auf den Justizrath zu, dem er etwas in's Ohr flüsterte.

Heßberger warf ihm einen scheuen Blick zu und sagte dann entschieden: »Nein!«

»Herr Staatsanwalt,« fragte der Justizrath, »ist Ihnen nicht auch in der letzten Zeit Silberzeug weggekommen? Ich dächte, Sie hätten die Anzeige gemacht. Wollen Sie einmal gefälligst dort auf dem Tisch nachsehen, ob Sie da vielleicht einige der Ihnen gehörenden Sachen finden?«

»Sie haben da eine ganze Collection,« lachte Witte, indem er der Aufforderung Folge leistete; »aber ich fand schon gestern Abend an Ort und Stelle einige alte Bekannte unter den Silbersachen – da hier die Löffel gehören mir, ebenso dieser Deckel, und diese Zuckerzange kommt mir ebenfalls so vor, als ob ich sie früher schon in der Hand gehabt; aber zu der möchte ich nicht schwören – meine Frau wird sie jedenfalls besser kennen.«

»Und wann waren Sie noch im Besitz dieser Sachen?«

»Vor einigen Wochen.«

»Und wer glaubt Ihr wohl, Heßberger, daß Euch da die Sachen in dieser Zeit in die Kohlenkammer getragen hat, wenn Ihr selbst nichts davon wißt?«

»Thut mir leid, Herr Geheimer Justizrath, Ihnen darüber keine genügende Auskunft geben zu können,« sagte Heßberger verstockt; »vielleicht einer von meinen Lehrjungen – es ist nichtsnutzige Bande, und der eine besonders ein ganz concaver Mensch.«

»Dann leugnet Ihr auch vielleicht, daß Ihr vor drei Abenden, oder vielmehr an jenem Abend, an welchem der alte Salomon überfallen und erschlagen wurde, in der Judengasse waret?«

»So viel ich mich erinnere,« sagte Heßberger, »bin ich an jenem Abend gar nicht ausgewesen; es wäre aber möglich, daß ich eine oder die andere Besorgniß irgendwo gehabt hätte.«

»So? Ihr seid aber bestimmt dort gesehen worden, und ich kann Euch einen Zeugen stellen, der sogar mit Euch gesprochen und Euch gemahnt hat, ihm seine Stiefel bald zu schicken – den Kürschnermeister Peters.«

»Ach Gott, ja, Herr Geheimer Justizrath,« sagte Heßberger, »es könnte doch am Ende sein – wer denkt aber an solche Kleinigkeiten! In der Nähe der Judengasse ist allerdings eine Apotheke, wohin ich manchmal gehe und mir etwas gegen meine Beschwer hole. Ich habe immer solche Concessionen nach dem Unterleib.«

»Und Ihr habt des alten Salomon Haus an dem Abend nicht betreten? Besinnt Euch wohl!«

»Da brauche ich mich nicht zu besinnen,« sagte der Schuhmacher mit einem frommen Blick nach oben. »Ich sehe wohl, daß Sie mich in einem schrecklichen Verdacht haben; aber wollte Gott, der alte Salomon lebte noch, so würde er selber auftreten und bezeugen, daß er mich nie und nimmer in seinem Laden, ja nicht einmal in seinem ganzen Leben gesehen hat!«

Der Justizrath hatte dem Staatsanwalt, der wieder neben ihm stand, leise etwas gesagt, und dieser ging jetzt nach der nahen Thür, die er öffnete. Im nächsten Augenblick stand der alte Salomon selber in der Thür. Die Wirkung aber, die der Anblick des Todtgeglaubten auf den Verbrecher ausübte, war so zauberschnell als furchtbar. Ob er nun dachte, daß er eine Erscheinung vor sich sähe, oder ob ihn das Bewußtsein zu Boden warf, mit diesem Zeugen gegen sich doch rettungslos verloren zu sein, mit einem jähen Aufschrei brach er in die Kniee, die Arme gegen das Furchtbare ausstreckend, winselte er: »Gnade, Gnade!« und stürzte dann mit dem Gesicht auf den Boden nieder.

»Bei dem Gott meiner Väter,« sagte der alte Salomon feierlich, »das ist der Mann, der mich an jenem Abend überfallen und geschlagen hat; das ist der Mann, der schon vorher in meinem Laden war und mich verleiten wollte, Silberzeug von ihm zu kaufen!«

Als er schwieg, herrschte lautlose Stille in dem weiten Raum, so ergreifend, so tief erschütternd war der Moment, und Aller Augen hafteten schweigend und erwartungsvoll an dem Elenden, der gebrochen, zerknirscht am Boden lag.

Witte ging endlich zu ihm, um ihn aufzuheben; aber er rührte sich nicht. Er war keineswegs ohnmächtig geworden, denn seine ganze Stellung verrieth das; aber er scheute sich, das Auge wieder zu erheben, um nicht noch einmal den entsetzlichen Anblick zu haben.

Der Justizrath klingelte, und als einer der Sicherheitsdiener in das Zimmer trat, sagte er ruhig: »Schaffen Sie den Mann in seine Zelle; aber daß Niemand zu ihm gelassen wird, ausgenommen er verlangt den Geistlichen.«

»Heßberger,« sagte der Mann, indem er ihn an der Schulter rüttelte, »Heßberger, steht auf, Ihr sollt mitkommen; hört Ihr nicht?«

Der Schuhmacher hob sich langsam auf die Kniee, aber er nahm den Blick nicht vom Boden. Er stand auf, blieb aber wie in einander gebrochen, und als er sich der Thür zuwandte, mußte ihn der Polizeidiener unterstützen, daß er nicht wieder zusammenknickte und zu Boden fiel.

4
Das gnädige Fräulein

Draußen im Schlosse Wendelsheim war es ein trostloses, ödes Leben, denn mit dem Hinscheiden des jungen Barons Benno schien es fast, als ob dem alten Platz auch der letzte freundliche Lichtblick genommen sei, der ihn bis dahin doch wenigstens auf Momente erhellte. Benno mochte wohl immer krank, recht krank gewesen sein; aber sein mildes, liebreiches Wesen, das er auch dem niedrigsten Tagelöhner gegenüber bewahrte, hatte doch Allen wohlgethan, die mit ihm in Berührung kamen, und flackerte sein junges Leben zu Zeiten – wo die Krankheit auf Tage, ja auf Wochen oft gänzlich zu weichen schien – wieder einmal auf, dann belebte er durch seine kindliche Heiterkeit den ganzen Platz und glättete selbst – was sonst unmöglich schien – für kurze Zeit die Stirn der harten, stolzen und herzlosen Tante.

 

Jetzt war auch er dahingegangen, und hinten im Park, neben der kleinen Capelle, wo das Erbbegräbniß derer von Wendelsheim stand, beigesetzt worden. Aber mit ihm schied der letzte freundliche Stern des alten, öden Herrenhauses. Die Tante zeigte sich unnahbarer als je, und der alte Baron ging die nächsten Tage nach der Beerdigung wie in einem wilden, wüsten Traum umher. Wenn ihn der Verwalter nach irgend einem die Wirthschaft betreffenden Gegenstand fragte, winkte er ihn rasch und hastig mit der Hand fort, und stundenlang konnte er allein draußen im Park auf und ab gehen, mit den Händen in der Luft herumfechten und laut und heftig dazu mit sich selber sprechen. Aber Niemand durfte dann in seine Nähe kommen, selbst nicht Kathinka, gegen die er sich noch am freundlichsten oder wenigstens am stillsten zeigte; denn er duldete, daß sie ihm das Essen auf sein Zimmer brachte, ihm den Stuhl nachher zum Fenster rückte und den Kaffee auf den kleinen Tisch daneben stellte. Aber er sprach auch nicht mit ihr. Nur manchmal war es, als ob er sich zu ihr wenden, sie um etwas fragen wolle; aber er seufzte dann immer tief auf, schüttelte den Kopf und versank wieder in sein altes Brüten. – Die Tante durfte sein Zimmer gar nicht betreten und kam auch von selber nicht, schien aber jede Gelegenheit abzulauern, wo sie über das arme Mädchen herfallen und sie auszanken konnte, und sagte ihr dabei oft die härtesten, grausamsten Sachen.

Bruno war bis jetzt jeden Tag herausgekommen, um nach dem Vater zu sehen, dessen Zustand ihn in der That besorgt machte; aber der alte Baron verkehrte auch nicht mit ihm. Er nickte ihm wohl zu, wenn er in's Zimmer trat, und duldete es, daß der Sohn seine Hand nahm und drückte; aber dann war es auch jedesmal, als ob er danach zusammenschaudere, und das Gesicht in den Händen bergend, stöhnte er wohl: »Mein Sohn, mein Sohn!« und sank bleich und vor sich niederstarrend in den Lehnstuhl zurück.

Bruno suchte ihn zu trösten; er hatte nie geglaubt, daß der Verlust des Knaben den Vater so furchtbar ergreifen würde. So natürlich es auch dabei schien, daß er in dem andern Sohn Ersatz für den verlorenen suchen solle, so wenig wandte er sich dem zu, und wenn er ihn auch nicht von sich stieß, so duldete er doch nur gewissermaßen seine Gegenwart, und schien befriedigt, wenn er ihn wieder verließ.

Mit der Tante verkehrte Bruno gar nicht: er grüßte sie, wenn er sie im Hause traf, aber er suchte sie nie auf, und doch schien gerade sie seit Benno's Tode freundlicher gegen ihn geworden zu sein, als sie es je gewesen. Sie sorgte sogar, woran sie früher nie gedacht, Morgens, wenn er kam, für sein Frühstück und schickte die Knechte von der Arbeit fort, um nach seinem Pferd zu sehen.

Die Leute im Schlosse lachten darüber, denn die Ursache lag auf der Hand. Der alte Baron war so auffallend geistesschwach geworden, daß er der Leitung des ganzen Anwesens nicht einmal mehr vorstehen konnte, und der junge Baron bekam jetzt in wenigen Wochen die große Erbschaft ausgezahlt, wo er denn doch von selber Herr des Ganzen wurde. Ihre Macht hatte dann aufgehört, wenn sie sich nicht selber gut mit ihm stellte, und sie wunderten sich nur, daß sie nicht schon lange gegen ihn eingelenkt und ihn sich zum Freund gewonnen hatte. Sie kannten den Charakter ihres verbissenen, keiner Zuneigung fähigen Wesens noch viel zu wenig, sie wußten nicht, welche furchtbare Gewalt sie sich selbst diesem Wenigen gegenüber, zu dem sie sich zwang, anthun mußte. Bruno nahm aber selbst das Wenige dankbar an; sie hatten ihn im Schlosse wahrlich nicht verwöhnt, und durch den Tod des Bruders ohnedies weich gestimmt, sehnte sich sein Herz nach einem freundlichen Wort und Blick.

Allerdings hatte er heute noch Manches mit dem Vater besprechen und ihm zugleich mittheilen wollen, daß er den ersuchten Abschied, und zwar als Hauptmann, erhalten habe; aber es war mit dem alten Mann nicht zu sprechen, und sowie er nur davon beginnen wollte, winkte er schon mit der Hand; er wollte nicht gestört sein und malte nur in einem fort mit einem Bleistift wunderliche Zeichen auf ein Stück Papier.

Bruno hoffte allerdings, daß sich diese geistige Schwäche, wenn nur der erste Schmerz überwunden wäre, geben würde, sah aber auch, daß er vor der Hand auf jede ernste Besprechung mit ihm verzichten müsse. Er ließ also sein Pferd satteln und wollte eben zurück nach der Stadt reiten, als Kathinka zu ihm trat und mit leiser, zitternder Stimme sagte: »Ach, Herr Baron, erlauben Sie mir eine Frage…«

»Ja, Kathinka,« sagte der Officier freundlich; »was ist es?«

»Es gehen hier so böse Gerüchte im Schloß,« fuhr das junge Mädchen schüchtern fort – »und die Tante hat es nur bestätigt –, daß nämlich der junge Herr Baumann, der immer so gut mit Ihrem seligen Bruder war und ihn so lieb hatte, einen Mord begangen habe und jetzt im Gefängniß sein Urtheil erwarte – ist das wahr? – Die Tante,« fuhr sie scheu fort, als Bruno noch schwieg und sie nur aufmerksam betrachtete, »meint sogar, er sei ein recht böser, heuchlerischer Mensch, der jetzt seine verdiente Strafe erleiden würde.«

Bruno hatte sie wirklich staunend angesehen, denn das junge, scheue, gedrückte Wesen des Mädchens hatte ihn, wenn er wirklich einmal herauskam, sie eigentlich nie beachten lassen. Sie war auch meist immer auswärts beschäftigt gewesen, und traf er sie einmal, als sein Bruder noch lebte, in dessen Krankenzimmer, so verließ sie dasselbe gewöhnlich immer, sobald er es betrat. Jetzt stand sie vor ihm, die großen, bittenden Augen in Angst und Mitleiden fragend zu ihm erhoben, die Wangen leicht erröthend, als sie dem überraschten Blick des jungen Herrn begegnete. Wie schön sie war – und welche trübe Jugend verbrachte sie hier in den öden Mauern des alten Schlosses!

»Ist das wahr, Herr Baron?« fragte das junge Mädchen noch einmal und schlug den Blick jetzt scheu zu Boden.

»Nein, Kathinka,« sagte Bruno herzlich, »das ist nicht wahr. Fritz Baumann ist allerdings durch zufällige Umstände in den Verdacht gekommen, bei jener dunkeln That betheiligt gewesen zu sein, aber der wirkliche Mörder jetzt entdeckt, und wie ich noch heute Morgen hörte, so hat er ein volles Geständniß über seine That abgelegt, nach dem Baumann entweder schon freigelassen ist oder jedenfalls in der allernächsten Zeit freigelassen wird. Er hat mit der Sache nicht allein nichts zu thun gehabt, sondern sogar, aller Wahrscheinlichkeit nach, durch sein plötzliches Erscheinen den Dieb verjagt und verhindert, den alten Mann völlig umzubringen.«

»Gott sei Dank!« flüsterte Kathinka leise. »Es würde mir recht weh gethan haben, so Böses von ihm zu glauben – auch Ihnen dank' ich für das gute Wort!«

Bruno wollte noch etwas erwiedern, aber der Tante keifende Stimme rief sie fort, und wie ein gescheuchtes Reh floh sie über den Hof hinüber nach dem Schlosse zu.

Bruno stieg seufzend in den Sattel und ritt langsam zum Thor hinaus. Wozu nur das ewige Schelten und Keifen – wozu der ewige, unausgesetzte Unfriede daheim, der Jedem das Haus zu einer Hölle machte?

Dicht vor dem Thor, und noch mit seinen trüben Gedanken beschäftigt, begegnete er dem Staatsanwalt Witte, der eben in das Schloß wollte. Der Staatsanwalt fuhr in einem Einspänner und ließ halten, so daß Bruno sah, er wünsche ihn zu sprechen. Er zügelte deshalb sein Pferd ein und ritt an das kleine Fuhrwerk heran.

»Ach, lieber Baron,« sagte Witte nach der ersten Begrüßung, und es kam Bruno fast vor, als ob der sonst so ruhige und seiner Sache stets sichere Mann in einer Art von Verlegenheit sei – »ist Ihr Herr Vater wohl zu Hause und könnte ich ihn sprechen?«

»Mein Vater ist allerdings zu Hause,« seufzte Bruno, dessen Gedanken rasch wieder abgeleitet wurden, »aber ich glaube kaum, daß Sie ihn sprechen, wenigstens keinesfalls etwas mit ihm besprechen können, wenn Sie zu dem Zweck herausgekommen sind.«

»Ist er krank?«

»Nein; er befindet sich körperlich wohl, aber geistig so niedergedrückt, daß er an nichts Antheil nimmt und besonders auf keine Frage antwortet. Ich fürchte, der Tod meines Bruders hat ihn so angegriffen, und er wird einer langen Zeit der Ruhe bedürfen, bis er sich wieder vollständig erholt. Ich würde Sie jedenfalls dringend bitten, nicht über Geschäfte mit ihm zu reden.«

»Hm, das thut mir ja herzlich leid – Gemüthsbewegung also,« sagte Witte sinnend – »aber Ihre Fräulein Tante ist zu sprechen?«

»Wenn sie erledigen kann, was Sie abzumachen haben – gewiß. Sie ist daheim; sie verläßt in der That das Schloß selten oder nie.«

»Doch nicht auch etwa von Gemüthsbewegung afficirt?« fragte Witte, denn der Charakter der Dame war in Alburg gut genug bekannt.

Bruno lächelte. »Von keiner wenigstens, die sie untauglich zu Geschäften machte. Sehen Sie, wie Sie mit ihr fertig werden – à propos! haben Sie etwas Näheres über Fritz Baumann's Freilassung gehört?«

»Ich komme gerade daher: sie ist eben erfolgt. Der alte Salomon hat selber so dringend für ihn gebeten und so entschieden verneint, daß auch nur die Möglichkeit eines Einverständnisses mit seinem Onkel sei, daß, nach Heßberger's vollem Geständniß, das Gericht ihn wohl freigeben mußte.«

»Das freut mich – dann bitte, sagen Sie es doch Kathinka, dem jungen Mädchen, das Sie im Hause finden – meines verstorbenen Bruders Krankenpflegerin. Sie kennen sie ja wohl – es wird sie freuen.«

»Allerdings; ich werde es ausrichten.« Und dem jungen Mann freundlich zunickend, gab er seinem Pferd die Peitsche und fuhr in das Schloß hinein, wo er aber eine Zeit lang warten und knallen mußte, bis Jemand kam, der ihn der Sorge für das Thier enthob.

»Zieht das Pferd einen Augenblick in den Stall, lieber Freund,« sagte er zu dem Mann, »ich habe etwas mit dem gnädigen Fräulein zu reden. Was ist denn das für ein furchtbarer Skandal da oben?«

»Was wird's sein,« sagte der Mann mürrisch, »das tägliche Elend – sie hat's wieder mit dem armen Ding, der Mamsell. Vorher war sie um den Finger zu wickeln, sie fraß ordentlich aus der Hand – jetzt, nun der Baron fort ist, scheint der Teufel wieder loszugehen!«

»Mit wem hat sie's?«

»Mit der Fräulein Kathinka, die ihr thut, was sie ihr an den Augen absehen kann – nun wird's aber bald ein Ende haben, sie hat ihr eben angekündigt, daß sie heute über acht Tage das Schloß verlassen soll – das arme junge Blut! Nun muß sie zu fremden Menschen dienen gehen, denn sie hat nichts, als was sie auf dem Leibe trägt – aber immer noch lieber bei fremden Menschen, als bei dem Drachen!«

Der Staatsanwalt hatte den geschwätzigen Mann ruhig reden lassen und nur dabei nach dem Schloß hinüber gehorcht, von dem noch immer die keifende Stimme der Alten herübertönte. »Und sollte es gar nicht möglich sein, den Drachen zahm zu machen?« sagte er nach einer Weile, indeß der Mann das Pferd noch ausschirrte. »Was meint Ihr?«

»Den?« rief der Mann und sah den Staatsanwalt verwundert an. »Und wenn der Teufel selber aus der Hölle käme und eine ganze Compagnie kleiner Teufel mitbrächte, von der müßt' er die Finger lassen und machen, daß er wieder in seinen Pfuhl käme! Die zeigt's ihm!«

»Na, versuchen kann man's ja immer,« lachte Witte, »den Hals wird sie Einem doch nicht gleich umdrehen.«

»Hören Sie,« sagte der Mann ernsthaft, »wenn Sie auf so einen Versuch aus sind, dann möchte ich das Pferd lieber gleich wieder einschirren und den Wagen umdrehen und vor's Thor fahren, damit Sie nachher gleich hineinspringen und auskneifen können. Sie ist heute gerade in der Laune.«

»Nun, es muß nicht gleich sein,« lächelte Witte; »aber wunderlichere Dinge sind schon in der Welt passirt. Gebt nur unterdessen dem Pferd ein Maul voll Heu, sonst beißt es Euch die Krippe zu Schanden; es hat sich das so angewöhnt.« Und damit legte er seine Peitsche in den Wagen und ging langsam dem Portal des Schlosses zu, wo er noch immer die zankende Stimme des gnädigen, oder vielmehr sehr ungnädigen Fräuleins hörte. Er ließ sich aber nicht dadurch abschrecken, und während ihm der Knecht ganz verwundert nachschaute – denn von ihnen kam ihr bei solcher Gelegenheit Niemand freiwillig in die Nähe –, betrat er das Schloß selber und stieg die Treppe hinauf.

Auf der halben Treppe kam aber Kathinka schon dem Staatsanwalt bleich und mit rothgeweinten Augen entgegen und erschrak sichtlich, als sie einen Fremden erblickte. Sie schämte sich jedenfalls, so von ihm gesehen zu werden, und stand einen Moment unschlüssig, als wenn sie nicht wisse, ob sie an ihm vorbeieilen oder die Treppe wieder hinaufflüchten solle. Witte ließ ihr aber keine Zeit, weder das eine noch das andere auszuführen.

 

»Mein liebes Fräulein,« sagte er, »laufen Sie nicht vor mir davon – ich bin ein alter Mann und kenne die Verhältnisse hier im Hause gut genug – wo kann ich denn wohl Fräulein von Wendelsheim antreffen, denn ich höre merkwürdiger Weise ihre Stimme nicht mehr oben?«

»Sie wird in ihrer Stube sein,« sagte Kathinka, sich scheu und hastig die Thränen abtrocknend. »Sie entschuldigen mich wohl…«

»Den Augenblick – nur noch einen Auftrag habe ich an Sie auszurichten.«

»Für mich?«

»Der junge Baron gab ihn mir draußen; er erfuhr von mir, daß der Mechanikus Baumann freigesprochen und seiner Haft entlassen ist, und bat mich, Ihnen das zu sagen.«

»Ich danke Ihnen,« flüsterte Kathinka, ließ sich aber jetzt nicht länger halten, sondern eilte, so rasch sie konnte, die Treppe hinab.

Witte sah ihr kopfschüttelnd nach; aber andere Dinge gingen ihm auch im Kopf herum, und die Treppe hinansteigend, traf er oben ein Dienstmädchen, das Fenster putzte. »Können Sie mir sagen, liebes Kind, wo ich das gnädige Fräulein von Wendelsheim treffe?« fragte er dieses.

»Jawoll,« sagte das Mädchen, »gleich da drin ist sie.«

»Schön,« erwiederte Witte, indem er seine Brieftasche vorholte und eine Karte herausnahm, die er dem Mädchen hinhielt. »Möchten Sie dann wohl so gut sein und diese Karte zu dem gnädigen Fräulein hineintragen und ihr sagen, der Herr, dessen Name darauf stehe, sei hier draußen und wünsche mit ihr zu sprechen?«

»Jawoll,« entgegnete das Mädchen wieder, aber ohne die Hand nach der Karte auszustrecken, »das möchten Sie woll, nicht wahr? Ne, einmal gemacht und nicht wieder. Wenn Sie mit ihr sprechen wollen, gehn Sie selber hinein – ich aber nich.«

Witte lachte. »Das gnädige Fräulein,« sagte er, »scheint sich hier sehr in Respect gesetzt zu haben – beißt sie?«

»Ne, aber sie kratzt,« sagte die Magd.

»In der That? Nun, dann werd' ich mein Glück auf eigene Hand versuchen!« Und damit schob er Karte und Brieftasche wieder zurück, ging dann auf die bezeichnete Thür zu und klopfte herzhaft an.

Ein scharfes, zorniges »Herein!« wurde fast augenblicklich gerufen, und der Staatsanwalt, der nur noch sah, daß das Mädchen ihr Fensterputzen unterbrochen hatte und neugierig hinübersah, um wahrscheinlich Zeuge des Empfanges zu sein, trat auf die Schwelle und sagte:

»Mein gnädiges Fräulein, ich konnte Niemanden finden, der mich anmelden wollte – Sie entschuldigen, daß ich Sie störe…«

»Was wollen Sie?« lautete die kurze, barsche Gegenfrage.

»Nur Sie sprechen – ich bin der Staatsanwalt Witte,« sagte dieser, indem er die Thür wieder hinter sich zuzog.

»Und was wollen Sie von mir?«

»Um Ihnen das zu sagen, bin ich ganz besonders von Alburg herausgekommen,« erwiederte der Staatsanwalt, stellte seinen Hut auf die nächste Commode und zog sich die Handschuhe aus, die er hineinwarf.

»Aber woher wissen Sie,« fragte Fräulein von Wendelsheim, empört über die Freiheit, die sich der Fremde nahm, »daß ich überhaupt jetzt Zeit und Lust habe, Sie anzuhören?«

»Mein gnädiges Fräulein,« sagte aber Witte trocken, »die Sache ist viel zu wichtig, um lange vorher mit Worten um eine Form zu streiten. Ihres eigenen Selbst wegen müssen Sie mich anhören, um sich einen Weg vor das Gericht zu ersparen.«

»Mir?« rief die Dame empört. »Habe ich etwas mit den Gerichten zu thun?«

»Bitte, nehmen Sie Platz,« erwiederte Witte, der fest entschlossen schien, sich nicht einschüchtern zu lassen, indem er sich selber einen Stuhl zum Tisch rückte. »Wir werden nicht sogleich fertig sein; ich komme in der Erbschafts-Angelegenheit – oder vielmehr in der Sache der Erbfolge.«

»Und weshalb gehen Sie da nicht zu meinem Bruder?«

»Ihr Herr Bruder ist, wie mir der junge Baron vorhin sagte, geistig so abgespannt, daß er mir augenblicklich nichts helfen kann, denn was ich jetzt mit Ihnen zu reden habe, erfordert einen klaren und ungetrübten Verstand. Wir können doch nicht behorcht werden?«

Fräulein von Wendelsheim sah ihn staunend an; der Mann trat aber so entschieden und bestimmt auf und machte so entsetzlich wenig Umstände mit ihr – er mußte einen wichtigen Grund dafür haben, oder er war einer der unverschämtesten Menschen, die ihr im ganzen Leben vorgekommen.

»Nein,« sagte sie, ihn staunend betrachtend, »rechts und links sind unbewohnte Zimmer.«

»Das Mädchen auf dem Vorsaal wird horchen.«

»Das wagt keine von meinen Dienstboten – aber ich wüßte auch nicht, welches Geheimniß wir Beide mit einander zu besprechen hätten.«

»Haben Sie gar kein Geheimniß, mein gnädiges Fräulein?« sagte der Staatsanwalt und sah sie dabei starr an. »Bitte, besinnen Sie sich.«

»Und wenn ich es hätte,« sagte finster die Dame, »wer gäbe Ihnen ein Recht, danach zu fragen?«

»Gut,« fuhr Witte ruhig fort, »dann setzen Sie einmal den Fall, daß ich Mitwisser desselben geworden wäre.«

Fräulein von Wendelsheim faßte fast krampfhaft die Lehne des Stuhls, neben dem sie stand, und Witte täuschte sich wohl nicht, wenn er zu bemerken glaubte, daß sie erbleichte, als ihr Blick dem fest auf sie gehefteten Auge des Juristen begegnete. Aber Fräulein von Wendelsheim hatte keine schwachen Nerven, und während schon im nächsten Moment ein trotziges, verächtliches Lächeln um ihre Lippen spielte, sagte sie scharf: »Sie haben eine merkwürdige Art und Weise, sich bei einer Dame einzuführen; da Sie aber einmal da sind und mein Bruder in der That nicht wohl ist, so reden Sie. Doch muß ich Sie bitten, sich kurz zu fassen, denn ich habe weder Lust noch Zeit zu einer langen Unterredung. Also was ist es?«

Witte machte eine leise Verbeugung, und während sie sich selbst auf das ihm gegenüberstehende Sopha setzte, sagte er: »Ich werde mich sehr kurz fassen. Die Sache bedarf auch keiner weiteren Vorrede. Sie wissen, daß heute über vierzehn Tage die Erbschaft für den männlichen Leibeserben der Familie Wendelsheim fällig ist und an dem Tage mit den zu dem Capital geschlagenen Zinsen, einige unbedeutende Verwaltungskosten abgerechnet, ausgezahlt werden wird.«

»Sind Sie deshalb gekommen, um mir das zu sagen?« fragte das gnädige Fräulein kalt.

»Ich sage, Sie wissen das,« fuhr Witte ruhig fort; »aber der eigenthümliche Fall besteht dabei, daß Sie nicht wissen, wer der wirkliche Erbe des Wendelsheim'schen Vermögens ist.«

»Mein Herr!« fuhr die Dame von ihrem Sitz empor.

»Bitte, behalten Sie Platz, mein gnädiges Fräulein,« sagte Witte trocken; »ich bin noch lange nicht fertig, und Sie mögen Ihr Erstaunen für einen späteren Punkt meiner Relation aufsparen.«

»Wenn ich erstaunt bin,« sagte Fräulein von Wendelsheim mit einer Stimme, die genau so klang wie der grollende Donner vor Ausbruch eines Sturmes, »so war es nur über Ihre Unverschämtheit!«

»Bitte, mein gnädiges Fräulein,« sagte Witte, »soll ich Sie vielleicht daran erinnern, daß das Kind der Baronin von Wendelsheim unmittelbar nach der Geburt mit einem andern vertauscht wurde?«

Die Dame stand dem Staatsanwalt gegenüber; ihre ganze Gestalt zitterte, ob vor Aufregung und Schreck, oder verhaltener Wuth, ließ sich freilich kaum bestimmen; aber gewaltsam faßte sie sich – sie mußte erst hören, was der Mann noch zu sagen hatte – und nur mit vor Zorn bebender Stimme zischte sie: »Das faule Märchen, das damals im Mund des Volks war, aber als erbärmliche Lüge verstummen mußte!«