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Aus zwei Welttheilen. Zweiter Band.

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Und mit diesem löblichen Vorsatz tauchte sie urplötzlich wieder in ihre Küche unter, und ließ die blechernen Kaffeekannen und eisernen Pfannen und Töpfe, die rings an den Wänden herum hingen und standen, in unbegränztem Erstaunen über die so schöne und mit solcher Lebhaftigkeit gehaltene Rede allein zurück.

Wenn aber auch Mrß. Smith in der ersten Aufregung gekränkter Wißbegierde einen so verzweifelten Entschluß gefaßt haben konnte, der Mrß. Rowland geradezu ins Haus zu rücken und eine Mittheilung von dem zu verlangen, ja, zu fordern, was sie mit ihrem ehelich verbundenen Gatten an Geheimnissen zu verhandeln habe, so schien sie doch bei kälterem Blute auch gemäßigteren Empfindungen Raum zu geben und versuchte erst einmal ihr Ueberredungs-Talent an dem Gatten selber. Der aber blieb zwölf volle Tage taub und stumm sowohl gegen die Plänkeleien versteckter Anspielungen, wie gegen das schwere Geschütz directer Fragen, und da auch in dieser ganzen Zeit Tom Fairfield sich nicht wieder in Boonville sehen ließ, ja, hier und da schon Besorgnisse laut wurden, ob ihm nicht gar etwas zugestoßen sein könne, kein Mensch aber Aufschluß über seine unerklärliche lange Abwesenheit zu geben wußte, so konnte sie ihre Neugierde nicht länger zähmen und beschloß nun wirklich, Mrß. Rowland – sie war ihr das ja doch aus nachbarlichen Rücksichten schuldig – einmal freundlich zu besuchen. Sie fühlte sich dabei fest überzeugt, es würde ihr, einmal im Geleise, nichts weniger als schwer werden, einen kleinen Ueberblick über die näheren, jedenfalls höchst interessanten und jetzt so geheim gehaltenen Verhältnisse zu bekommen.

Der vierzehnte Tag nach dem Aufenthalt der beiden Indianer in Boonville war es, und der erste im Monat September zugleich, der sich aber mit schwülen Gewitterwolken angekündigt hatte und die trüben, schweren Nebelmassen bald in zerrissenen grauen und schwarzen Streifen, bald in compacten, wetterschwangeren Schichten über die ächzende, schwankende Waldung von Ost nach West stürmisch hinüberjagte.

Mrß. Rowland saß in ihrem Stübchen, warm eingehüllt in Betten und Tücher, auf einem rohgearbeiteten, aber bequemen Sorgenstuhl, denn der Wind strich heute trotz der sonst eigentlich sehr warmen Jahreszeit frisch und erkältend über die Lichtung hin, und die alte Frau hatte sich gerade in den letzten Tagen wieder unwohler gefühlt, als seit langer Zeit. Zu ihren Füßen saß Rosy, das liebe, holde Kind, leise den linken Arm auf der Mutter Knie gestützt, und in der Rechten das kleine, zierlich gebundene Testament haltend, aus dem sie der mit geschlossenen Augen und gefalteten Händen aufmerksam lauschenden Frau die herrlichen Worte der Bergpredigt, die süßen Trost und heilige Zuversicht athmende Rede Christi las.

Sie hatte eben ein Capitel beendet, und eine Thräne glänzte in ihrem Auge, als sie das Buch senkte und zu dem bleichen, abgezehrten, kummerschweren Angesicht ihrer mehr als Mutter emporschaute – leise berührte sie ihre Hand und flüsterte:

»Soll ich weiter lesen, Mutter?«

»Laß es jetzt, liebes Kind,« sagte die Matrone und legte schmeichelnd die abgezehrten Finger auf das gescheitelte Haar der Jungfrau – »laß es, Du hast Dich schon zu viel angestrengt und auch noch andere Sachen zu thun, die ebenfalls gethan sein müssen – wie wär's denn, wenn Du einmal zu Cowley's hinüber gingest und ihn bätest, uns seinen Neger auf ein halb Stündchen zu schicken, daß er etwas Feuerholz zum Hause schaffte – nur ganz wenig – Tom kommt gewiß heute wieder.«

»Es ist Feuerholz in Menge da,« sagte Rosy schnell: »ich ging, weil wir doch gestern Abend das letzte hereingeschafft, heute Morgen recht früh in den Wald und holte einen Arm voll, um die Suppe für Dich zu kochen, und als ich wieder kam, hatte Mr. Cowley schon seinen Tim mit einer ganzen Wagenladung voll herübergesandt und ging eben daran, es in Kaminlänge zu hauen. Er hat mir auch ein großes Rückstück hereingetragen; Du schliefst nur noch, Mütterchen.«

»Cowley's sind brave Leute,« flüsterte die Matrone, »Gott vergelte es ihnen! Es ist doch bös, wenn man so ganz allein in der Welt steht – keinen Sohn – keinen Freund …«

»Mutter!« bat mit vorwurfsvollem Tone Rosy.

»Du hast Recht, mein Kind, ich bin vielleicht ungerecht gegen Tom Fairfield gewesen und – doch wenn auch er nun nicht wiederkehrt – wenn auch er nun –. Sei nicht böse, mein Kind,« unterbrach sie sich selber nach ziemlich langer Pause, »Du weißt selber, wie trüb und traurig mir gerade an dem heutigen Tage zu Muthe sein muß, dem Jahrestage jenes fürchterlichen Morgens – ich sehe da Alles schwärzer, als es vielleicht wirklich ist, und begreife dann manchmal fast selber nicht, wie es möglich war, daß ich – ich – alte schwache Frau sie, die Kräftigen alle, alle überleben mußte. O, es ist recht hart, nicht sterben zu können, weil man nicht weiß, ob man nicht doch noch das Liebste – das eigene Kind – allein zurückläßt in der Welt – es ist recht hart, nicht leben zu können, weil das arme Herz die Sehnsucht nach den Lieben, wenn sie wirklich schon vorangegangen, verzehrt.«

»Mutter!« bat die Tochter, stand auf, barg ihr Antlitz auf der Schulter der Kranken und flüsterte mit leiser, von Thränen fast erstickter Stimme: »Wenn ich Dir auch den Sohn nicht ersetzen kann, lieb habe ich Dich ja doch wie meine eigene Mutter.«

Mrß. Rowland antwortete nichts, aber fest und liebend schlang sie die Arme um das blühende Kind und hielt es lange und fest an ihrem Herzen.

Da klopfte es ziemlich lebhaft an ihre Thür, und froh erschreckt und mit freudestrahlenden Augen sprang Rosy empor und eilte, zu öffnen; auch Mrß. Rowland richtete sich etwas in ihrem Stuhle auf und schaute mit lebhafterem Blicke dorthin, denn das Klopfen war ganz so, wie Tom Fairfield bei ihnen anzupochen pflegte – und wie lange schmerzliche Tage hatte Rosy auf das Pochen umsonst und mit immer wachsender Angst und Sorge geharrt!

Rasch und mit vor Freude zitternder Hand zog sie den Pflock zurück, der, einfach von innen vorgesteckt, die Thür verschloß, und öffnete rasch – ein schmerzlich erstauntes »Ach« entfuhr aber ihren Lippen, und auch Mrß. Rowland wandte sich enttäuscht ab und sank wieder mit leisem Seufzer in ihre Kissen zurück, als das zwar gutmüthige, aber doch scharfe und gerade heut gewiß nicht willkommene Angesicht der Mrß. Smith auf der Schwelle sichtbar wurde. An ein Abweisen war aber gar nicht mehr zu denken – die Lady sah die Bresche kaum offen, als sie auch mit löblichem Eifer herein stürmte, sich augenblicklich einen Stuhl neben Mrß. Rowland rückte und dann zwischen tausend Entschuldigungen, daß sie hier so ohne alle Anmeldung hereinbreche, daß aber das Wetter sie gerade überrascht habe, weil es eben an zu regnen fange, und daß sie nach Cowley's eigentlich hinüber gewollt, sich aber die Freude unmöglich habe versagen können, diese Gelegenheit, wo sie gerade in der Nähe sei – sie wohnte überhaupt kaum fünfhundert Schritte von Mrß. Rowland entfernt –, einmal zu benutzen und zu sehen, wie es der »lieben, lieben Kranken« denn eigentlich gehe.

Mrß. Rowland antwortete auf alles das mit leiser Stimme und bündigster Kürze; sie hoffte vielleicht dadurch, daß sie Mrß. Smith keinen Anlaß zu einer Unterhaltung gab, den Besuch etwas abzukürzen. War das aber wirklich ihre Ansicht gewesen, so kannte sie Mrß. Smith ungemein schlecht, oder traute ihr wenigstens viel mehr Ungeselligkeit zu, als sie wirklich besaß. Die gute Dame fragte nur einmal, und zwar gleich im Anfange, ob sie genire, und als sie darauf ein höfliches, wenn auch etwas zögerndes Nein zur Antwort erhalten, säumte sie auch keinen Augenblick länger, es sich so bequem als möglich zu machen, legte ihre Haube und den großen baumwollenen Regenschirm ab, zog die Halbhandschuhe aus, nahm die kurze Schilfpfeife aus der Tasche, die sie schon gestopft – oder geladen, wie Mr. Smith manchmal sagte – bei sich trug, holte sich im Kamin eine glühende Kohle, und befand sich, wie sie selber sagte, als sie sich ganz behaglich auf dem Stuhle zurecht rückte, so wohl und vergnügt hier, wie zu Hause.

Mrß. Rowland griff dieses ununterbrochene Auf-sie-einreden, selbst wenn sie nur wenig oder gar keine Antwort zu geben brauchte, auf die Länge der Zeit so an, daß sie endlich bleich und erschöpft in ihren Stuhl zurück sank und die Augen schloß. Selbst Mrß. Smith fühlte, daß sie der Kranken erst einige Ruhe wieder gönnen müsse, gedachte aber dafür indessen mit dem jungen Mädchen zu beginnen, um damit desto sicherer ihrem Ziele entgegen zu rücken; denn gerade fragen mochte sie doch auch nicht.

»Es wird nun bald lebendiger hier im Hause werden,« sagte sie, als Rosy der Mutter die Kissen zurecht gerückt und ihren Platz wieder neben ihr, oder eigentlich zwischen ihr und der Kranken, um den Zungenschwall in etwas abzuwehren, eingenommen hatte: »ja, wo so ein Mann ist, geht die Sache gleich anders.«

Rosy, das arme Kind, erröthete bis tief in das Halstuch hinein, sah aber auch zu gleicher Zeit erstaunt zu der Geschwätzigen auf.

»I nun, Miß,« fuhr Madame – dadurch, daß sich das junge Mädchen ihrer Meinung nach gar so gleichgültig stellte, etwas gereizt – fort, »Sie brauchen nicht so erschrecklich unschuldig zu thun, ich weiß die ganze Geschichte – bei mir ist's aber auch aufgehoben, als ob's im Grabe ruhte – von mir erfährt wahrhaftig Niemand eine Sterbens-Sylbe.«

»Aber, beste Mrß. Smith …«

»Aber, beste Rosy Baywood – wenn Sie denn einmal selbst nicht gegen mich davon sprechen wollen, so habe ich nichts dagegen. Wie lange ist er denn aber nun schon eigentlich verloren?«

»Verloren? also glauben auch Sie, daß er verloren ist?« rief jetzt Rosy in der Angst um den geliebten Mann – denn auf diesen mußte sie doch natürlich das Gesagte beziehen.

»Ist? gewesen ist, beste Miß,« sagte Mrß. Smith lächelnd: »und das war ja noch das Glücklichste, was Sie sich hätten denken können. Aber nach so langer Zeit einen Menschen unter den entsetzlichen rothen Wilden wieder zu finden, scheint mir doch wirklich etwas erschrecklich Merkwürdiges. Was ich doch sagen wollte: wie lange ist es also her, daß ihn Mrß. Rowland verloren hat?«

 

»Mrß. Rowland?« wiederholte, jetzt wieder ganz irre gemacht, das junge Mädchen, und die alte Frau, ob nun durch Nennung ihres Namens aus ihrem Halbschlaf geweckt, oder schon längst vielleicht den Worten mit geschlossenen Augen lauschend, wendete leise den Kopf nach der Redenden und schaute zu ihr auf. »Mrß. Rowland? ich weiß gar nicht …«

»Nun, eine zwanzig Jahre muß es doch gewiß sein,« fuhr die unverwüstliche Mrß. Smith, der es jetzt nur darum zu thun schien, die beiden Frauen wissen zu lassen, sie kenne die ganzen Verhältnisse genau und sei vollkommen vertraut mit denselben, ruhig fort: »ich weiß mir's noch recht gut zu erinnern, wie mein Seliger, John Rosbeard von Connecticut, der auch damals hier eine Bleimine angelegt oder gefunden hatte, davon sprach. Aber wenn sie ihn nur vorher erst abwaschen, ehe sie ihn mit herein bringen – Jesus, meine Zuversicht! so ein gemalter Mensch ist doch was Fürchterliches, wenn er blaue Backen, eine gelbe Nase, rothe Ohren und grüne Lippen hat – und die Scalpe! Denken Sie sich, Miß Baywood, wie mir einmal mein Seliger das Scalpiren beschrieb und seinen Scalp, der ihm doch noch ganz fest und gesund auf dem Kopfe saß, mir zeigte, fiel ich Ihnen wahrhaftig um wie ein Stück Holz, so ohnmächtig wurde ich – wenn sie nur nicht scalpiren wollten! das Andere ließe man sich noch immer gefallen, aber das Scalpiren ist fürchterlich.«

»Mrß. Smith!« rief da plötzlich Mrß. Rowland, von ihrem Stuhle in Angst und peinlicher Ueberraschung emporfahrend, denn der Dame Reden, die so ganz zu dem stimmten, über das sie ja den ganzen thränenlangen Tag getrauert, trieben ihr das Blut in rasender Schnelle durch die Adern und machten ihr Herz fast hörbar klopfen.

»Mutter,« bat Rosy, die bestürzt der Leidenden erregten Zustand erkannte und rasch auf sie zusprang, sie zu beruhigen, »Mutter, es ist ja nur ein Mißverständniß!«

»Gott bewahre, Mrß. Rowland,« fiel da rasch die Dame ein, »ich glaubte ja gar nicht, daß Sie es hören würden; nein, an's Scalpiren wird er nicht mehr denken, wenn er das auch früher gethan hat, denn das lassen die erschrecklichen Menschen nun einmal nicht – es sind ihre Sieges-Trophäen, wie sie's nennen –; aber Mr. Billygoat wird ihn schon lehren, was guter und echter Christen Pflicht ist – nein, es ist doch ein herrlicher Mann, dieser Mr. Billygoat.«

»Mrß. Smith,« sagte die Kranke leise, und die Hand, die Rosy zurück schob, zitterte wie in Fieberfrost, »wer wird nicht mehr an's Scalpiren denken? wer trägt die Farben und Abzeichen der Wilden – wer – großer Gott, die ganze Stube dreht sich mit mir – wer war verloren – zwanzig Jahre – und ist – und ist wieder gefunden?«

»Aber, liebe Mrß. Rowland,« lächelte gutmüthig die würdige Kaufmannsfrau, »was thun Sie denn nur gegen mich so geheimnißvoll? ich weiß ja die ganze Geschichte – ist denn nicht jetzt eben Tom Fairfield fort geritten, ihn zu holen? Ich weiß nur noch nicht bei welchem Stamme er ist, denn den Namen konnte ich nicht recht verstehen; wenn Sie's aber nicht wollen, will ich ja auch wahrhaftig mit keinem Menschenkinde ein Wort darüber wechseln.«

»Tom Fairfield fort, ihn zu holen – bei welchem Stamme?« wiederholte die alte Frau mit zitternder, halblauter Stimme und preßte sich die Stirn zwischen die eisigen Hände – »heiliger Gott! träume ich denn, oder bin ich wahnsinnig geworden in Kummer und Gram?«

»Nein, ist mir so eine Frau schon vorgekommen!« sagte Mrß. Smith kopfschüttelnd, aber jetzt doch auch durch die Aufregung der Kranken etwas besorgt gemacht.

Rosy schrak empor – eine Ahnung dessen, was geschehen, was vielleicht im Werke sein konnte, zuckte ihr durch den Sinn, und einen Blick auf die unglückliche alte Frau werfend, winkte sie ängstlich Mrß. Smith zu und bat sie durch Zeichen, kein Wort weiter von dem Begonnenen, was es auch sei, zu erwähnen. Aber es war zu spät: ehe des Händlers Frau verstand, was sie sollte, oder ehe sich Rosy zu ihr überbiegen konnte, sie mit Worten darum zu bitten, hob Mrß. Rowland wieder den Kopf, und ihr Auge begegnete in demselben Moment dem ängstlich und bittend auf die Schwatzhafte gerichteten Blicke der Pflegetochter. Rasch begriff sie dessen Meinung und wurde dadurch nur noch mehr in der peinlichen Gewißheit dessen bestärkt, was sie nicht einmal auszusprechen wagte, weil sie selbst dadurch schon den Zauber zu zerstören fürchtete, der ihr jetzt wie in einem süßen, wenn auch ängstlichen Traume die Sinne förmlich gefesselt hielt. Wie aber der Wahnsinnige schlau die Wachsamkeit seines Wächters zu täuschen weiß, so benutzte auch die Kranke mit fast convulsivischer Hast die Gelegenheit, der geschwätzigen Frau das Geheimniß, das für sie Tod oder Leben enthielt, abzulocken.

»Sie haben Recht, Mrß. Smith,« sagte sie und versuchte dabei, mit der Qual im Herzen, zu lächeln; »wir brauchen Ihnen nichts, gar nichts mehr zu verheimlichen.«

»Sehen Sie, beste Mrß. Rowland,« rief die Dame jetzt völlig beruhigt, in triumphirender Freude aus, »das habe ich Ihnen ja auch gleich vom Anfange an gesagt; aber mein Mann …«

»Und Tom Fairfield – ist ausgegangen – ihn – ihn zu holen – hierher nach Boonville zu holen.«

»Liebe, beste Mutter,« bat Rosy in ihrer Herzensangst, denn sie fürchtete nicht mit Unrecht die bösen Folgen, die solche Aufregung für die Kranke haben mußte.

»Laß nur, mein Kind – laß nur,« beruhigte sie aber die Leidende, »mir ist jetzt vollkommen wohl – recht wohl, Rosy – und Tom Fairfield, Madame …«

»Nun der kann doch wahrhaftig nicht lange mehr bleiben; aber – nicht wahr – er soll ihn mitbringen?«

»Ihn? ja – ja wohl – nicht wahr – Sie – Sie meinen doch …«

»Nun, Ihren Sohn!«

»Ha!« schrie die alte Frau mit einem Laut, der den Beiden durch Mark und Seele schnitt – Rosy warf sich augenblicklich über die zusammenbrechende Gestalt und rief nur noch mit vorwurfsvoller Stimme: »O, Mrß. Smith, was haben Sie gemacht, Sie haben sie getödtet!« Und diese würdige Dame stand im Anfange selbst zum Tode erschrocken, denn noch begriff sie den ganzen Zusammenhang nicht, und nur der Gedanke begann allmählich in ihr zu dämmern, daß sie doch wohl am Ende einen gewaltig dummen Streich gemacht und sich selbst in eine äußerst fatale Sache hinein gearbeitet habe.

Hierin wurde sie auch bald durch Rosy's Erklärung bestätigt, und als sie erfuhr, daß sie beide die Ursache von Tom Fairfield's Abwesenheit gar nicht gewußt und über den Zweck seiner Sendung keine Ahnung gehabt, war sie außer sich. Sonst von Herzen seelengut, und gewiß die Letzte, die irgend einer ihrer Nachbarinnen – und nun noch besonders der wackeren, unglücklichen, kranken alten Frau – mit Willen weh gethan hätte, wurde ihr der Gedanke unerträglich, durch ihre Schwatzhaftigkeit, die sie jetzt gar nicht genug verwünschen konnte, solches Unheil angerichtet zu haben. Sie wich nun auch nicht von Mrß. Rowland's Seite, that alles, was in ihren Kräften stand, Rosy die Pflege zu erleichtern, und beruhigte sich nicht eher, als bis sie sah, daß sich die Ohnmächtige wieder erholt hatte und, aus Erschöpfung wahrscheinlich, in einen tiefen, gesunden Schlaf gefallen war.

Wunderbar war die Veränderung, die, nachdem sie sich wieder erholt, mit ihr vorgegangen schien. Rosy hatte schon von der Erinnerung an das Gehörte das Schlimmste befürchtet und deshalb auch mit klopfendem Herzen der Mutter Erwachen beobachtet – dem aber gerade entgegengesetzt zeigte sich die Kranke vollkommen ruhig und hatte nicht etwa das Geschehene vergessen, sondern fing selbst wieder zuerst davon an, indem sie fragte, ob Tom mit ihm noch nicht zurück gekommen sei. Rosy wollte ihr jetzt das Ganze noch ausreden und meinte, es seien ja doch nur Vermuthungen der Frau – einzelne Worte, welche sie hinter der Thür erhorcht und die wahrscheinlich etwas ganz Anderes bedeutet hätten. Mrß. Rowland bat sie aber ruhig, ihr nicht durch solche freilich gut gemeinte Reden nur weh zu thun, indem sie ihr die einzige Hoffnung zu rauben suche, an der ihr Herz jetzt noch auf dieser Welt hange und mit deren Zerstörung es ebenfalls, wie sie das recht gut fühle, zu Grunde gehen müsse. Sie war dabei so gefaßt, sprach so vernünftig über das Selige und Schmerzliche des ersten Begegnens, daß es Rosy'n, dem armen Kinde, ordentlich unheimlich vorkam und sie den Gedanken nicht los werden konnte, der Zustand der Kranken sei ein übernatürlich erregter, und ihr Körper werde jetzt nur auf kurze Zeit von dem stärkeren Geiste aufrecht gehalten.

Wie dem aber auch war, Mrß. Rowland blieb den ganzen Tag so still und gefaßt, erkundigte sich mehrere Male, ob sie denn noch nicht gekommen seien, und ließ es sich von Rosy fest versprechen, ihr nun, da das doch nichts mehr helfen könne, auch die Ankunft der Beiden nicht zu verheimlichen – nur den Namen vermied sie zu nennen – das Wort Sohn war noch nicht über ihre Lippen gekommen.

So mochte es fünf Uhr Nachmittags geworden sein. Mrß. Smith hatte schon mehrere Male nachgefragt, wie es der Kranken gehe, und sich eben wieder, wohl zum zwanzigsten Mal, über ihr ungeschicktes Benehmen am Morgen entschuldigt, als es wieder an die Thür klopfte und Mrß. Rowland mit einem kaum unterdrückten Schrei in ihrem Stuhle emporfuhr, denn als sich die nur angelehnte Thür öffnete, trat Tom Fairfield herein, aber – allein.

Rosy erschrak ebenfalls; ehe aber sie oder Tom ein Wort sprechen konnte – streckte ihm Mrß. Rowland mit stierem, entsetztem Blick den Arm entgegen und rief mit vor innerer Bewegung kaum hörbarer Stimme: »Wo ist er?«

»Um Gott!« sagte Tom erschreckt und sah Rosy an, »woher weiß Ihre Mutter …«

»Wo ist er? Tom, wenn Ihr mich tödten wollt, so zögert mit der Antwort.«

»Sie weiß Alles,« bestätigte Rosy unter Thränen, und Tom, der bald fand, daß es aller der von ihm für nöthig gehaltenen Vorbereitungen gar nicht mehr bedürfe, beruhigte, wenn er auch nicht begriff, durch wen sie es erfahren haben konnte, die Frau nun wenigstens vor allen Dingen in so weit, daß er ihr versicherte, er habe ihren Sohn gefunden und mitgebracht, und er sei wohl und gesund, sie aber solle sich heute Abend sammeln und vorbereiten, daß er ihr denselben morgen früh herüber bringen könne.

Davon wollte die Mutter aber nichts länger hören – »morgen? – weshalb nicht heute? – jetzt? War sie jetzt weniger gesammelt, als sie es morgen sein würde? sicherlich nicht – die lange Nacht der Erwartung würde ihre Kräfte nur abspannen, und jetzt, jetzt wollte sie den so lange Jahre beweinten Knaben sehen – nicht morgen.«

Vorstellungen halfen nichts, und da auch Tom selber fühlen mochte, wie Recht sie unter diesen Umständen habe, versprach er, ihr den Sohn in einer halben Stunde zu bringen, und bat sie nur, dann hübsch ruhig und gefaßt zu sein und sich nicht, damit ihr das nicht schade, zu sehr von ihrem mütterlichen Gefühle hinreißen zu lassen.

Indessen war Mr. Smith daheim schon emsig beschäftigt, aus dem bei ihm eingeführten Wilden, der sich nach mehreren, von Mrß. Rowland schon früher und oft bezeichneten Merkmalen wirklich als der verloren gegangene Sohn herausstellte, wieder einen anständigen weißen Menschen zu machen. Vor allen Dingen wurde ihm die bunte Farbe abgewaschen, mit der er sein Angesicht noch viel mehr als die Indianer selber bestrichen hatte, um die weißere Haut nicht durchschimmern zu lassen; dann mußte er zu seinem anscheinenden Leidwesen allen Schmuck ablegen, mit dem er sich behängt – besonders alles beseitigen, was an Scalpe und andere dem ähnliche Entsetzlichkeiten erinnerte, und zuletzt noch – und er stellte sich ungeschickt genug dabei an – in »menschliche Hosen,« wie sie Smith nannte, und nicht in solch oben abgeschnittene Dinger, die gerade da aufhörten, wo anständige Hosen erst recht anfangen sollten, hineinfahren. Auch Weste und Rock, Hemd und Schuhe bekam er nun. Wenn er aber auch mit Allem so ziemlich einverstanden schien, oder es wenigstens ohne Widerstand über sich ergehen ließ, so warf er doch die letzteren augenblicklich wieder ab, weil sie ihn drückten und er die Füße darin nicht vom Boden heben konnte, und verschmähte auch auf das hartnäckigste den schönen schwarzen Seidenhut, den ihm Smith schon mit wirklichem Behagen auf das zottig dunkelbraune Haar gedrückt hatte. Jeder Ueberredung hielt er standhafte Weigerung entgegen, und es blieb zuletzt nichts übrig, als ihn mit bloßem Kopf und barfuß seiner Mutter zuzuführen.

Das Wort Mutter war aber auch der einzige Zauberspruch, der ihn aus seinem wilden freien Leben hierher geführt hatte in das »Dorf der Weißen« – Mutter, der Klang tönte ihm wie eine in der Kindheit gehörte und lang' vergessene Harmonie leise, aber mit solcher süßen Gewalt durch die Seele, daß er alle seine Herzensfibern erbeben fühlte, und nicht zurückbleiben – dem Himmelslaute folgen mußte.

 

Und jetzt stand er vor der Thür, die ihm die weißen Männer an seiner Seite bezeichnet, und scheu wandte er nach rechts und links den Kopf, als ob er dem Augenblick, den er mit klopfendem Herzen herbeigesehnt, nun, da er endlich erschienen, rasch und ängstlich entfliehen wolle. Krampfhaft und wie Hülfe suchend, erfaßte er den Arm Tom's, der dicht an seiner Seite ging, und er schämte sich, daß ihn das »Bleichgesicht« in solcher Aufregung sehen sollte – »Ugh – wie mich friert,« flüsterte er leise und zog sich den Rock vorn, wie er das früher mit seiner Decke gewohnt gewesen, fest über der Brust zusammen.

Und drinnen im Hause saß, mit von innerer Aufregung frisch gerötheten Wangen und lebendigen, glänzenden Augen, die Matrone und hielt der Tochter Hand fest in der ihrigen, daß diese sie jetzt, nur jetzt nicht verlasse; denn draußen hörte sie Schritte – Stimmen, und in athemloser Spannung lauschte sie den Tönen, ob sie – heiliger Gott, wie ihr das Herz pochte! – die Stimme des Kindes – des Sohnes nicht zu unterscheiden vermöge.

Und jetzt – jetzt öffnete sich die Thür, in die mit höflicher, freundlicher Verbeugung der Händler trat, und hinter ihm – Mrß. Rowland sah die freie männliche Stirn Tom Fairfield's und – an seiner Seite – einen braunen, unbedeckten Kopf – sie richtete sich in ihrem Stuhl auf – alle Schwäche der Krankheit hatte sie verlassen, stark und allein stand sie, von Niemand gehalten, von Niemand unterstützt.

»Meine gute Mrß. Rowland,« sagte Smith; aber die Mutter sah nicht den Fremden, der sich zwischen sie und ihr Kind stellte.

»Mein Sohn – mein Sohn!« rief sie, die Arme streckte sie sehnend, bittend nach den Männern aus, und jetzt – jetzt vermochte auch der Halbwilde nicht länger zu schweigen – er riß sich von Tom, der ihn noch zurückhalten wollte, los, schob den Händler bei Seite und flog mit raschem Sprung und dem leise – jubelnd gerufenen Laut: »Mutter!« in die Arme der alten Frau. Fest, fest hielt ihn diese umklammert, fest, als ob sie ihn im Leben nicht wieder loslassen wollte; aber ihre Kräfte schwanden auch in der einen Empfindung seligen Entzückens, und nur noch durch die Arme des Sohnes fühlte sie sich gestützt, gehoben.

»Mein Sohn, mein Kind!« rief sie schmeichelnd, als er sie endlich leise auf den Stuhl zurückgleiten ließ und, halb unwillkürlich, halb von ihr gezogen, vor ihr auf die Kniee niedersank – »mein liebes, liebes Kind! Und doch endlich den Verlornen wieder gefunden – doch jahrelange Sorge und Schmerzen noch belohnt bekommen, ehe das flüchtige Leben den alten schwachen Körper verließ – mein theures, theures Kind!«

John blieb lange und schweigend in ihrer Umarmung, und es war fast, als ob er sich schäme, von den »weißen« Männern so schwach und weibisch gesehen zu werden – wenigstens warf er den Blick, als er endlich den Kopf erhob, scheu im Zimmer umher – aber er war allein mit der Mutter. Alle hatten das Zimmer verlassen, selbst Mrß. Smith, die jetzt, da ihre Voreiligkeit weiter keine bösen Folgen gehabt, wieder guten Muthes hergekommen war, dem Wiedersehen beizuwohnen; sie wurde aber, sehr wider ihren Wunsch und Willen, von Mr. Smith freundlicher als das sonst gewöhnlich geschah, unter den Arm gefaßt und zur Thür hinaus begleitet.

Mutter und Sohn blieben lange allein. Dieser hatte bald auch die letzte Scheu überwunden und saß jetzt neben der Mutter, streichelte ihre Hand und nannte sie in seinem gebrochenen Englisch mit den süßesten, sanftesten Namen, die er finden konnte.

Erst wohl nach Verlauf einer halben Stunde, und als sie sich beide vollkommen gesammelt hatten, traten die Uebrigen wieder ein, und Tom mußte jetzt vor allen Dingen erzählen, wie er den Verlorenen gefunden und ihn bewogen habe, mitzukommen. Er that das, wenn auch nur in sehr kurzen Worten und Umrissen.

Den Stamm der Konzas hatte er am vierten Tage nach seiner Abreise von Boonville schon erreicht und dort augenblicklich seine Nachforschungen begonnen, aber eine bestimmte Antwort konnte er weder von Krieger noch Häuptling erhalten – theils stellten sich alle, an die er sich wandte, als ob sie seine Sprache nicht verstehen könnten, theils läugneten sie, irgend etwas von einem Weißen in ihrer Nation zu wissen. Aber gerade dieses Läugnen bestärkte den Amerikaner nur mehr und mehr in dem Glauben, daß diese nicht die Wahrheit sprächen; denn Einige sahen ihn erstaunt an, als ob sie nicht begreifen könnten, wie er das erfahren hätte, Andere wurden verlegen und sagten, sie wüßten es nicht genau, sie glaubten, es sei einmal früher einer bei ihnen gewesen, – bis er endlich einen Halb-Indianer, einen canadischen Franzosen traf, der ihn rasch auf die richtige Spur brachte. Noch an dem nämlichen Abend führte er ihn in das Dorf, wo sich der »weiße Hirsch,« wie sie ihn nannten, aufhielt, und wenn dieser auch im Anfang gar keinen Verkehr mit dem »Bleichgesicht« haben wollte, ja, sich sogar hartnäckig weigerte, ein Wort Englisch mit ihm zu sprechen, so ließ er sich doch zuletzt wenigstens willig von dem Dorf der Weißen erzählen, und fing sogar an, aufmerksam den Worten des Fremden zu lauschen, als dieser ihm von der Mutter sagte, die daheim in Sorge und Kummer so lange Jahre sehnsüchtig seiner geharrt und auf das Wiedersehen ihres Kindes gehofft habe. Besonders und ordentlich auffällig erschütterte ihn aber Tom's Rede, als dieser – wie sich der Verwilderte immer noch nicht bewegen ließ, ihm zu folgen – endlich ausrief: »Und so will denn der weiße Hirsch, daß seine kranke alte Mutter daheim allein dem Grabe zusiecht und keinen Sohn hat, der ihren Wigwam deckt – ihr Wild jagt und das erlegte bereitet, sie zu stärken? Sollen Fremde ihr Grab graben, daß nicht Wolf und Aasgeier ihre Gebeine entheiligen?« – »Ugh!« hatte er da ausgerufen – »weißer Mann hat Recht – weißer Hirsch böser Sohn« – und in die Höhe sprang er, und eilte hinaus in den Wald.

Tom Fairfield war aber nicht wenig bestürzt, als der »weiße Hirsch« am nächsten Morgen verschwunden und auch nirgends aufzufinden war; Hütte bei Hütte durchforschte er nach ihm, und manch zorniges Wort, manche finstere Drohung ertrug er, wenn er vielleicht den Wigwam eines den Bleichgesichtern feindlich gesinnten Kriegers betreten hatte. Schon wollte er die Hoffnung, den Entflohenen für jetzt wieder zu finden, als ganz trostlos aufgeben und eben sein Pferd besteigen, um zu dem Nachbardorfe, wo der Canadier seinen Wigwam aufgeschlagen, zurück zu kehren, als plötzlich der Verschwundene völlig gerüstet wie zu Schlacht oder Kriegszug, auf seinem rauhhaarigen Poney angesprengt kam und sich erbot, ihn zu begleiten. Allerdings wollten sich dem jetzt Einige des Stammes widersetzen und nicht dulden, daß der, welcher einer der Ihrigen geworden, auf solche Art ihnen wieder entführt werde. Der »weiße Hirsch« schien aber nicht leicht durch irgend eine Drohung eingeschüchtert; mit kräftig trotzigen Worten wies er die Unzufriedenen zurück, und seine Kriegskeule in der Rechten, in der Linken die Büchse, und das Pferd nur mit den Schenkeln regierend, sprengte er unerschrocken durch die Schaar, die ihm auch wirklich Raum gab und keinen thätlichen Versuch machte, ihn oder seinen Begleiter zurück zu halten.

So kamen Sie nach Boonville, und John Rowland bog sich liebkosend über der Mutter Hand hinüber, als ihn diese bat und ihm das Versprechen abnahm, sie die wenigen Tage, die sie noch auf dieser Erde zu leben habe, nie – nie wieder zu verlassen.