Stadt, Land, Klima

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Potenzial für: mehr

Umgelegt auf den Klimaschutz bezieht sich die Frage nicht auf den durchschnittlichen Bewohner von Stadt, Suburbia oder Land. Die eigentliche Frage lautet: Welchen konkreten Beitrag leistet die nächste Person, der nächste Haushalt zu Klima schmutz und Klimaschutz?

Denn der Durchschnitt ist bekannt: Die CO2-Emissionen sind am Land und in der Stadt etwa gleich hoch, in Suburbia aber betragen sie das Doppelte. Ebenso bekannt ist, dass die CO2-Emissionen da wie dort drastisch sinken müssen. Es geht also nicht nur um das Jetzt – es geht um die Zukunft; um Möglichkeiten, das Potenzial, CO2-Emissionen noch viel stärker zu reduzieren.

Die Durchschnittsfamilie lebt in einem Durchschnittshaus. Sie fährt ein Durchschnittsauto (zumindest am Land und in Suburbia – in der echten Stadt fährt sie durchschnittlich keines). Sie ernährt sich durchschnittlich. Ihre Reisen sind Durchschnitt.

Die wirkliche Klimafrage bezieht sich jedoch auf die marginale, die nächste, die erste Familie – und auf deren Potenzial, mehr beizutragen: Lebt diese Familie im Alt- oder Neubau? Fährt sie ein Benzin- oder Elektroauto oder gar keines? Auf wie vielen Quadratmetern lebt sie? Ließen sich diese Quadratmeter besser isolieren, energieeffizienter versorgen? Lässt sich das Leben insgesamt noch effizienter gestalten? Welcher Anreize bedarf es, genau so zu handeln? Und schlussendlich auch: Wie wird die Wahl des Lebensortes die Familie selbst verändern? Was bedeutet es für die Weltoffenheit der Kinder, wenn die Familie inmitten einer diversen Stadt dem Anderen täglich begegnet? Für welche Politik werden diese Kinder – und natürlich auch jetzt schon die Eltern – stimmen?

Die Antwort, wo diese nächste Familie wohnen sollte, könnte nicht eindeutiger ausfallen: in der Stadt! Stadt ist, wo das Leben reichhaltig und effizient ist, erfüllend und CO2-arm. Stadt ist auch, wo das Potenzial für „mehr“ steckt. Stadt ist, wo relativ kleine Schritte große Unterschiede machen können – wo es möglich ist, mit einer strategisch klug eingerichteten Buslinie, mit einem Radweg, mit einer umgestalteten Straße die CO2-Emissionen merkbar fast über Nacht zu reduzieren.

Egal, um welche Stadt es dabei geht: Wenn eine vormals vierspurige Autostraße in einen geschützten, vollwertigen Radweg, eine eigene Busspur und zwei verbleibende Autospuren umgewandelt wird, dann multiplizieren sich die Radfahrer und jene, die den Bus bevorzugen, ganz von selbst – und zwar innerhalb von Tagen und Wochen. Wenn die Stadt immer schon verschiedene Möglichkeiten bot, um von A nach B zu kommen, dann fällt der Umstieg von einer Option zur anderen leicht.

Wenn es hingegen immer schon nur eine einzige Option gab, um von C nach D zu kommen – das eigene Auto etwa –, dann wird der Umstieg um ein Vielfaches schwieriger. Und noch schwieriger wird es, wenn Klimaschutz einen noch viel größeren Schritt erfordert – einen Umzug etwa.


Eine der größten Klimasünden überhaupt sind demnach kostenlose (oder zumindest sehr günstige) Parkplätze:19 Wenn ich weiß, dass ich in der Stadt meine ganz persönliche Tonne Stahl gratis parken darf, dann werde ich das auch tun. Das bedeutet mitunter, dass der Umzug in ein Haus im „Grünen“ plötzlich um ein Vielfaches leichter fällt – ich könnte ja immer mit dem Auto zurück in die Stadt fahren. Sobald ich dann in diesem Haus in einem fernen Vorort wohne, bin ich für geraume Zeit auf das Auto angewiesen.

Technisch gesehen handelt es sich dabei um den Lock-in-Effekt: Die Wechselkosten und sonstigen -barrieren sind so hoch, dass ein solcher Wechsel – weg vom Auto etwa – kaum noch möglich ist. Aus dem fernen Vorort oder vom Land kommt man schließlich ohne Auto nur schlecht in die Stadt. Selbst jene, die grundsätzlich die Möglichkeit haben, etwa mit dem Zug zur Arbeit zu fahren, brauchen immer noch irgendwo Zugang zu einem Auto; man weiß ja nie. Je mehr Menschen nun an diese Orte ziehen – im Wissen, dass sie fast täglich mit dem Auto zur Arbeit zurück in die Stadt fahren werden –, desto mehr dieser Fahrten sind locked-in, das heißt: Alternativen zur Autofahrt gibt es nicht mehr.

Je größer der Lock-in, desto schwieriger wird es auch, intelligente Klimapolitik zu betreiben – und etwa Gratisparkplätze abzuschaffen. Die unmittelbare Reaktion auf eine solche Maßnahme ist ein Aufschrei: „Die armen Pendler! Sie müssen jetzt plötzlich mehr bezahlen!“ Solche Debatten gibt es fast überall auf der Welt. Stadtpolitiker sind meist für, Vorstädter, Autofahrerklubs, die Automobilindustrie und ähnliche Interessengruppen gegen die Abschaffung billiger Parkmöglichkeiten. Und was für Parkplätze gilt, das gilt auch für viele andere Infrastrukturinvestitionen, die es jenen aus Suburbia leichter machen, in die Stadt zu kommen – von breiteren Straßen bis hin zur Grünphase für die Durchzugsstraße, während die lokalen Schulkinder länger warten müssen.

All das bedeutet, dass Klimapolitik nicht nur aus CO2-Bepreisung bestehen kann, einer Verteuerung der CO2-Emissionen oder der städtischen Parkplätze. Das auch – allerdings stellt der Lock-in-Effekt sicher, dass eine solche Verteuerung zunächst hauptsächlich zu höheren Kosten für Autofahrer führt, ohne noch einen entsprechenden Unterschied in Sachen Emissionen zu bewirken. Es gibt auf kurzfristige Sicht keine Alternativen. Der einzige Unterschied ist vielleicht ein Aufkleber am Auto, um meinem Unmut gegen die neue politische Maßnahme Ausdruck zu verleihen. Die CO2-Emissionen würden aber – zumindest kurzfristig – kaum sinken.

Mittelfristig kaufe ich mir vielleicht ein sparsameres Auto, oder auch gleich ein Elektroauto, weil es dafür eine Befreiung von der Parkgebühr gibt, um ebendiese Anreize zu schaffen. Vielleicht kann ich meinen Arbeitgeber auch dazu bewegen, dass ich öfter von zu Hause aus arbeiten darf. Die CO2-Emissionen sinken nun, allerdings gibt es auch hier Limits: Der Lock-in-Effekt besteht teils immer noch.

Erst langfristig machen die CO2-Steuer oder die neue Parkgebühr einen echten Unterschied: wenn nämlich Familien aus dem Vorort und vom Land wieder ans Übersiedeln denken.

Der wichtigste Schritt überhaupt: diesen Lock-in von vornherein zu vermeiden – erst gar nicht aus der Stadt wegzuziehen.

Deshalb geht es bei Klimapolitik neben einer CO2-Steuer einerseits auch um direkte Steuerung – um Verkehrs- und Regionalpolitik, um Stadtplanung – und andererseits vor allem um Investition: Es geht darum, Alternativen zur derzeitigen CO2-intensiven Lebensweise zu schaffen. Es geht darum, Menschen dabei zu helfen, ihren derzeitigen Lock-ins zu entkommen und sie erst gar nicht so zu schaffen. Oft ist es genau der Mangel an einfachen Alternativen, der Klimapolitik so schwierig macht: Denn kaum jemand gibt an der Wahlurne seine Stimme für jene Politik, die einem das eigene Leben schwerer macht. Es geht um Alternativen – billigere und bessere Alternativen.20

Lock-ins gibt es überall – auch in der Stadt. Allerdings sind es hier deutlich weniger: Stadt ist flexibel. In der Stadt ist es viel einfacher, eine alternative Route von A nach B zu finden. Die Stadt ist schon jetzt effizient und klimafreundlich. Und sie birgt auch Potenzial für mehr. Das ist vor allem bei einer der wichtigsten Klimafragen überhaupt der Fall, wo menschliches Leid durch Klimawandel auf menschliches Leid durch Armut stößt.

Klima und Entwicklung

Zwei der wichtigsten Fragen rund um den Klimaschutz lauten: Wer ist für die CO2-Emissionen letztlich verantwortlich – der Produzent oder der Konsument? Und wer sollte was wann tun? Um selbst tiefere Einblicke in die erste dieser beiden Fragen zu erhalten, waren drei weitere Jahre meines Forscherlebens nötig. Die zweite Frage ist eine Aufgabe für viele Lebenszeiten.

Der Ökonom Simon Kuznets war ein Wegbegleiter von Wassily Leontief. Ebenso wie Leontief und Jorgenson war er Professor an der Harvard University, und er war es, der Anfang der 1930er-Jahre die ersten volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen der Vereinigten Staaten und somit das Bruttoinlandprodukt des Landes, das BIP, erstellte. Seine Berechnungen halfen der amerikanischen Regierung dabei, das Land aus der „Großen Depression“, der schweren Wirtschaftskrise der Dreißigerjahre, zu steuern. Er erhielt dafür 1971 den Nobelpreis.

In Umweltkreisen – mit denen er an sich kaum direkte Berührungspunkte hatte – ist Kuznets auch für eine andere „Erfindung“ bekannt. Er hatte einst beobachtet, dass Ungleichheit im Zuge der wirtschaftlichen Entwicklung einem umgedrehten „U“ entspricht: Am Anfang, wenn alle gleich arm sind, ist die Ungleichheit niedrig. Im Zuge der ökonomischen Entwicklung steigt auch die Ungleichheit: Die Reichen werden zusehends reicher, während andere zurückfallen; die Einkommensschere klafft auseinander – bis die Politik interveniert. In vielen der reichsten Länder schließt sich die Einkommensschere dann wieder, meist durch progressive Steuern. Kuznets stellte diese Beobachtung Mitte der 1950er-Jahre an.21 Das umgedrehte U wurde als „Kuznets-Kurve“ bekannt.

Die „Umwelt-Kuznets-Kurve“ ist ebendiese Beobachtung umgelegt auf Luft-, Wasser- und andere Umweltverschmutzungen.22 Geringe Entwicklung bedeutet demnach: wenig Verschmutzung. Schnell wachsende Länder werden auch entsprechend stärker verschmutzt, bis in mehr oder weniger reichen Ländern die Umweltverschmutzung wieder zurückgeht: Benzin wird bleifrei, saurer Regen wird in die Geschichtsbücher verbannt, das Trinkwasser wird wieder trinkbar.

 

Die wichtigste Beobachtung – bei den Einkommensunterschieden wie auch bei der Umweltverschmutzung – lautet: Weder das eine noch das andere wird einfach automatisch besser. Laissez-faire mag zwar einen schönen sprachlichen Klang haben, doch in der Realität ist Laissez-faire-Kapitalismus ein sicheres Rezept für mehr ökonomische Ungleichheit und mehr Umweltverschmutzung.23

Denn fast jeder der bisher erreichten umweltpolitischen Erfolge beruht genau darauf: auf Umweltpolitik. Mittelalterliche Kathedralen schmelzen nur deshalb nicht mehr im sauren Regen dahin, weil es Luftreinhaltegesetze gibt, die das auch sicherstellen. Und wie man es dreht und wendet: Rauchgasentschwefelung zur Reinigung von Abgasen kostet Geld – zwar weniger Geld, als es die Energieindustrie gerne zugibt, aber Geld allemal.24 Dieses ist aus gesamtgesellschaftlicher Sicht äußerst gut investiert, aber Privatunternehmen werden dies nicht von allein tun: Es bedarf der Politik. Dasselbe gilt für die Verbannung von Blei im Benzin und sonstige Umweltauflagen, Gesetze und Regulierungen. Für den Klimaschutz gilt es ebenso.

Es stellt sich nun die Frage: Gibt es diese Umwelt-Kuznets-Kurve auch für das Klima? Die ärmsten Länder der Welt haben kaum CO2-Emissionen. Je reicher diese Länder werden, desto höher klettern auch die Emissionen. Die große Frage ist: Was passiert in den reichen Ländern?

Tatsächlich: In reichen Ländern sinken die CO2-Emissionen wieder. Schweden etwa weist einerseits weniger ökonomische Ungleichheit auf, andererseits sind auch die CO2-Emissionen seit den 1970er-Jahren gesunken – von jährlich über elf Tonnen CO2 pro Person auf unter fünf. Deutschland legte einen ähnlichen Weg zurück, auch wenn dort die Emissionen noch über acht Tonnen liegen. Und in den Vereinigten Staaten sind sie heute zwar immer noch ungefähr doppelt so hoch wie in Deutschland, aber auch hier sind sie gesunken – von Höchstwerten um die 22 Tonnen CO2 pro Person und Jahr Anfang der 1970er-Jahre auf heute rund 16 Tonnen.25

Gute Nachrichten also? Nicht ganz: Die CO2-Emissionen eines bestimmten Landes sind jene, die bei der Produktion von Gütern und Dienstleistungen entstehen. Die große Frage ist: Was ist mit deren Konsum passiert? Entscheidend ist, wie viel CO2 in all den Produkten und Dienstleistungen enthalten ist, die über nationale Grenzen hinweg reisen: Welthandel eben.

Das alles zu berechnen, mit bilateralen Welthandelsdatenbanken und dem fossilen Energiegehalt dieser Waren und Dienstleistungen, bestimmte drei Jahre meines Forscherlebens während meines Doktoratsstudiums.26 Einerseits war das alles trockene Buchhaltung. Andererseits lassen sich erst mithilfe dieser Zahlen andere wichtige Fragen beantworten. Eine davon lautet: Warum existiert diese weltweite Schere zwischen CO2-Emissionen im Konsum und in der Produktion?

Eine Erklärung wäre: Reichere Länder verwenden neuere, sauberere Technologien, die weniger CO2-Emissionen verursachen. Gleichzeitig importieren reichere Länder mehr Waren, vornehmlich aus ärmeren Ländern, die mit ihren älteren, schlechteren Technologien höhere CO2-Emissionen verursachen. Das wäre die hoffnungsvolle Geschichte – hoffnungsvoll deshalb, weil fortschrittliche Technologie die Welt retten würde, sobald sie auch in bislang ärmeren Ländern Einzug hält.

Eine zweite Erklärung klingt jedoch weniger hoffnungsvoll: Es wäre natürlich auch möglich, dass reichere Länder gewisse Produkte gar nicht mehr selbst herstellen, sondern sich stattdessen auf sauberere Wirtschaftssektoren spezialisieren. Die schmutzige Schwerindustrie wandert ab – und ihre Produkte werden einfach importiert. Die reichsten Länder spezialisieren sich auf Dienstleistungen wie Finanz und Tourismus, während der Stahl aus den ärmeren importiert wird.

Welche dieser Erklärungen ist nun die richtige?

Es treffen teils beide Erklärungen zu: Reiche Länder importieren ihre CO2-Emissionen zusehends. Deutschland zum Beispiel ist in Summe ein Netto-Exporteur von Waren und Dienstleistungen, aber ein Importeur von CO2-Emissionen. Dasselbe gilt für Österreich, die Schweiz und viele andere reiche Länder. Die Vereinigten Staaten sind überhaupt Importchampion bei den CO2-Emissionen: China exportiert die meisten CO2-Emissionen, die Vereinigten Staaten importieren die meisten.

Dabei letztgültig und im Detail zu bestimmen, welcher Anteil jeweils auf den Stand der Technologie und welcher auf die Zusammenstellung der Produkte entfällt, ist äußerst schwierig. Ich selbst bin daran gescheitert. (Glücklicherweise war meine Buchhaltung alleine engagiert genug, um sie als eine von drei Studien für meine Doktorarbeit einzureichen.) Mein Antwortversuch war, technologische Fortschritte gänzlich auszuklammern und zu beobachten, ob sich die Klima-Kuznets-Kurve immer noch bewahrheiten würde. Sie tat es nicht: Ohne technologischen Fortschritt gibt es auch keine Klima-Kuznets-Kurve mehr. Technologie ist also in jedem Fall ein wichtiger Bestandteil der Geschichte.

Doch wie groß der Einfluss von Technologie wirklich ist, ist weiterhin unklar. Klar ist nur, dass beide genannten Erklärungen eine gewisse Rolle spielen – und dass am Ende der Konsum von CO2-Emissionen ausschlaggebend ist. Denn ohne Nachfrage kein Angebot: Wenn niemand die CO2-intensiven Produkte kauft, würde sie auch niemand mehr herstellen.

All dies zeigt unmissverständlich, welche entscheidende Rolle das Einkommen und der Reichtum spielen: Je reicher eine Nation ist, desto höher sind auch die durch den eigenen Konsum verursachten CO2-Emissionen.


Was für Länder gilt, das gilt selbstverständlich auch für Städte: Auch hier ist es wichtig, die gesamten CO2-Emissionen, die im Konsum enthalten sind, zu betrachten.27 Und auch hier spielen Einkommen und Reichtum eine große Rolle.

Städte ziehen Reichtum an – beziehungsweise helfen sie, ihn zu erzeugen. Die Region New York etwa, in der „nur“ rund zwanzig der insgesamt 330 Millionen Amerikaner leben, ist für fast zehn Prozent des Bruttoinlandsproduktes der Vereinigten Staaten verantwortlich. Für sich alleine genommen wäre es damit die zehntgrößte Wirtschaftsregion der Welt.28 Kein Wunder also, dass dort auch viele CO2-Emissionen entstehen.

Allerdings sind es besonders die Suburbs von New York, die als große Klimasünder hervorstechen. Die Stadt selbst weist relativ niedrige Emissionen auf – trotz ihres Reichtums.29 In der Stadt ist das Leben CO2-effizienter als anderswo.

Dieses Bild wiederholt sich auf der ganzen Welt – und es zeigt, wie wichtig die detaillierte Klimabuchhaltung ist. In europäischen Staaten zum Beispiel haben Großstädter im Schnitt um rund sechs Prozent höhere Einkommen als das jeweilige Umland. Gleichzeitig sind die CO2-Emissionen in vergleichbaren Haushalten – angepasst ans Einkommen – in der Stadt um sieben Prozent geringer als am Land. In Summe sind die CO2-Emissionen in der Stadt knapp niedriger als am Land.

Es wäre verlockend, das bereits als Win-win-Situation zu verbuchen: mehr Geld und (insgesamt ein bisschen) weniger CO2! Doch wie wir schon gesehen haben, geht es vor allem um das Potenzial, noch mehr zu erreichen – und zwar viel mehr.

Potenzial für: viel mehr!

Bei der Frage nach dem Potenzial könnte die Antwort nicht klarer ausfallen: Davor strotzen Städte nur so. Das gilt für Mobilität und Verkehr ebenso wie für die Gebäude – von der effizienten Flächennutzung bis zur Isolierung und der effizienten, CO2-armen Energiezufuhr.

Unsere 70-Quadratmeter-Wohnung liegt im zweiten Stock eines Hauses mit insgesamt sieben Einheiten. Das gesamte Grundstück misst nur etwa 200 Quadratmeter, einschließlich eines kleinen Gartens. Es ist ein relativ kleines Gebäude, errichtet vor fast 200 Jahren. Die Mauern sind entsprechend dick – damals wurden europäische und amerikanische Häuser noch recht ähnlich gebaut. Mittlerweile klaffen die Standards auseinander: effiziente Gebäude fast überall in Europa, während amerikanische Neubauten oft mit papierdünnen Tyvek-Schichten isoliert werden – dasselbe Material, aus dem auch Briefumschläge hergestellt werden.

Es gibt zwar regionale Ausnahmen von der Regel, dass sich Städte überall auf der Welt in dieser Hinsicht ähnlicher sind als der jeweilige Unterschied zwischen Stadt und Land – allerdings in diesem Fall leider nur auf einem einzigen Kontinent, in Europa: In Deutschland etwa werden die Gebäudestandards auf Bundesebene geregelt. Die Vereinigten Staaten dagegen sind sich in dieser Hinsicht alles andere als einig: Neubauten in New York werden noch relativ gut isoliert, sind energieeffizient und erhalten teils sogar Dachbegrünung oder Solaranlagen.30 Die New Yorker Standards kommen somit jenen in Deutschland – die dort für Stadt und Land gelten – recht nahe. Doch der Unterschied zwischen New York mit seinen strikten Regeln und den vielen ländlichen Regionen der Vereinigten Staaten, in denen es kaum solche Gebäudebestimmungen gibt, ist enorm.

Potenzial für mehr gibt es freilich auch in New York. Enormes Potenzial! Unsere eigenen allerersten Investitionen als neue Wohnungsbesitzer waren etwa: Deckenisolierung nach deutschen Passivhausstandards, eine effiziente Wärmepumpe und ein Anruf beim Energieversorgungsunternehmen, um die Gasleitung abzustellen. Der Gasherd schadet in jedem Haus sowohl dem Klima als auch der eigenen Gesundheit.31 Und in einer 70-Quadratmeter-Wohnung, wo die Distanz zwischen Küche und Kinderbetten weniger als fünf Meter beträgt, wollten wir in dieser Hinsicht lieber erst gar keine Selbstexperimente wagen. Der Induktionsherd ist auch um einiges effizienter.

Mittlerweile besitzen alle unsere sechs Nachbarn ähnlich effiziente Wärmepumpen. Die nächste gemeinsame Investition: eine Außenisolierung für das gesamte Haus.


Realistisch betrachtet sind derzeit viele Investitionen dieser Art freiwillige Beiträge. In bessere, hochwertigere Isolierung zu investieren, ist grundsätzlich gut fürs Klima, ebenso für das subjektive Wohngefühl. Doch Letzteres muss einem aktuell noch viel mehr wert sein als rein ökonomische Überlegungen: mehr Architektur- und Lifestyle-Magazin als Financial Times.

Denn finanziell gesehen zahlt sich die Investition in die Deckenisolierung oder die bessere Isolierung der Außenwände für uns alleine genommen nicht aus – weder in den Vereinigten Staaten noch in Deutschland. Deshalb müssen politische Maßnahmen gesetzt werden, um die richtigen Anreize zu schaffen: um zu gewährleisten, dass die jeweiligen Investitionen den echten Klimakosten gerecht werden. Eine der wichtigsten Kennzahlen in diesem Zusammenhang ist der echte Preis für CO2 – also jener Preis, den wir alle bezahlen sollten, nicht der, den wir derzeit bezahlen.

Aktuell zahlen Europäer durch das EU-weite Emissionshandelsgesetz für etwa 50 Prozent ihrer CO2-Emissionen rund 25 bis 30 Euro pro Tonne. Kalifornier bezahlen für 85 Prozent ihrer Emissionen rund 15 bis 20 Dollar pro Tonne. Das ist zwar besser als nichts, allerdings liegt es weit unter den echten Kosten, die jede Tonne CO2 verursacht: Diese betragen weit über 100 Dollar (oder Euro – das macht hier aufgrund der großen Bandbreite keinen Unterschied).32

Glücklicherweise kommt hier eine weitere Tatsache ins Spiel: Städte fast überall auf der Welt ähneln sich auch hinsichtlich der politischen Einstellung enorm. Jeweils rund 80 Prozent der New Yorker etwa wählten bei der Präsidentschaftswahl 2016 die Demokratin Hillary Clinton und 2020 ihren Parteikollegen Joe Biden.33 In neun der zehn deutschen Millionenstädte erhielten die Grünen bei der letzten Europawahl die meisten Stimmen. In Frankreich und Großbritannien liegen in den Städten die progressiven Parteien vorne, ebenso in Österreich, und das Bild wiederholt sich in den verschiedensten Ländern.34

 

Städte sind tendenziell liberaler, progressiver, sozialer und globaler ausgerichtet – genau die Einstellung, um die es beim Klimaschutz geht. Das umliegende Land hingegen ist tendenziell konservativ, bodenständig, auf die eigene Nation, die eigene Gruppe, die eigene Familie fokussiert. (Wobei das mit der eigenen Familie so eine Sache ist: Wenig fördert das Familienleben mehr, als zu viert auf „nur“ 70 Quadratmetern zu wohnen. Mehr zur „Stadtmoral“ in Kapitel 8: Moral.)

Der wichtigste Aspekt dabei ist, dass „Stadt“ in diesem Sinne wirklich das bedeuten muss: eine echte Stadt. Der verlässlichste Indikator in Sachen CO2-Emissionen ist die Einwohnerdichte. Je höher die Einwohnerdichte, desto geringer sind die CO2-Emissionen pro Kopf.35 Genau darum geht es.

In der echten Stadt zu leben bedeutet, im Alltag weniger CO2 zu verursachen.

Die Tatsache, dass das Leben in der Stadt auch bereichernd ist – und daher reicher macht –, ist ein zusätzlicher Vorteil. Es geht schließlich darum, CO2-ärmer – und nicht insgesamt ärmer – zu leben.

Ganz im Gegenteil: Klimaschutz bedeutet keineswegs die Wiederkehr des Mittelalters oder des 18. Jahrhunderts, vor der industriellen Revolution. Er bedeutet nicht weniger zu tun – das haben die Corona-„Lockdowns“ auf eindrucksvolle Weise gezeigt. Trotz radikalster Maßnahmen sanken globale Emissionen kaum. (Mehr dazu in „Mobilität nach der Pandemie“ in Kapitel 7: Mobilität.) Klimaschutz bedeutet ein Mehr an Aktivität, er bedeutet einen Vorstoß neuer Technologien. Das heißt auch, dass der zusätzlich erworbene Reichtum teils dazu verwendet wird, noch CO2-ärmer, noch technologisch fortschrittlicher zu leben.

Dabei geht es um die grundsätzliche Lebenseinstellung ebenso wie darum, die richtigen politischen Impulse zu setzen – etwa intelligente Stadtplanung und ein Fokus auf städtische Mobilität, um die 15-Minuten-Stadt zur Realität zu machen; jene, wo sich der Alltag, einschließlich Arbeit und Unterhaltung, innerhalb von 15 Gehminuten von zu Hause abspielt. Paris gilt als moderner Pionier dieses Konzepts, das eigentlich für Großstädte, die schon vor der Erfindung des Autos entstanden sind, nicht besonders neu ist. Es beruht auf der Idee von Stadt als Mosaik, bestehend aus einzelnen Nachbarschaften, die wiederum durch den öffentlichen Nahverkehr – oder auch das Fahrrad – direkt miteinander verbunden sind.

Klimaschutz bedeutet zugleich, Mobilität zwischen Stadt und Land zu gewährleisten, um auch hier nicht auf das eigene Auto angewiesen zu sein. Das funktioniert nicht immer ganz so gut, aber bereits jetzt sieht man etwa in München, Wien oder Zürich im Winter häufig Reisende mit Skiausrüstung am Bahnhof, mit der es direkt auf die Piste geht. In Cambridge, Massachusetts, waren wir meist die einzige Familie, die so an fast jedem Winterwochenende per Bahn zum nahe gelegenen Wachusett Mountain fuhr. Auch von New York aus gibt es genug Ski- und Wandermöglichkeiten, die per Bahn oder Bus innerhalb von einer oder zwei Stunden erreichbar sind.

Klimaschutz bedeutet vor allem zu realisieren, dass sowohl Stadt als auch Land den Schlüssel zur Zukunft darstellen: die Stadt als vornehmlicher Wohnort für den Menschen, das Land als vornehmlich der Natur vorbehaltener Bereich (und mit deutlich weniger Menschen). Klimaschutz hängt von der Balance zwischen Stadt und Land ab.

Die Frage des Klimaschutzes mag das ultimative Umweltproblem sein. Doch es ist leider bei Weitem nicht das einzige.

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