Der Politiker

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Auf dem Heimweg zu ihrer Studentenbude marschieren sie in Viererkolonne, singend durch die Stadt. In einem Park treffen sie auf einen Obdachlosen, welcher sich auf einer Parkbank für die Nacht eingerichtet hat. Er wird sofort angepöbelt. Ein Wort gibt das andere. Dann eskaliert die Situation, Sepp schlägt zu. Mit einem kritischen Blick fordert er Willi dazu auf, sich nicht nur aufs zuschauen zu begrenzen. Auch Willi gibt dem armen Penner eins auf die Nase. Die beginnt zu bluten, was man in der Dunkelheit aber nicht sieht. Willi bemerkt das Blut an seiner Faust erst, weil etwas Warmes über seine Hand läuft.

Als er feststellt, dass auch die neue Uniform mit Blut verschmiert ist, wird er wütend und schlägt noch drei Mal heftige zu. Der Mann geht zu Boden und bleibt wimmernd liegen. Mit einem Fusstritt in die Rippen verabschiedet sich jeder der Gruppe von ihrem Opfer.

«Dem haben wir’s gegeben», grölt Sepp und klopft Willi stolz auf die Schulter, «du hast dich gut gehalten, ich dachte schon, du traust dich nicht.»

Bei Willi halten sich die Freude darüber, dass er nun dazu gehört und die Scham, dass er einen Wehrlosen zusammengeschlagen hat, die Waage. Er rechtfertigt sich damit, dass man Deutschland vor solchen Schmarotzer befreien muss.

Nachdem er eine Nacht schlecht geschlafen hat, geht er zur Tagesordnung über. Er stürzt sich ins Studium. Abends ist er nun vermehrt in Uniform mit seinen Freunden unterwegs. Lediglich die Tatsache, dass sich in Aachen keine asozialen Leute mehr auf die Strasse wagen, ist es zu verdanken, dass er keine weiteren Personen zusammenschlagen muss. Die Leute haben gelernt und vermeiden es, auf den Strassen von Aachen aufzufallen. In den kleinen Gemeinden der Umgebung sind sie sicherere.

Einmal begegneten sie auf dem Heimweg einer jungen Frau, welche eine Freundin besucht hatte und nun zu spät nach Hause will. Sie umringen die Frau und beginnen sie zu schubsen. Die Frau reagierte überraschend.

«Ich habe nichts gegen einen harten Pimmel», erklärt sie den verdutzten Jungs und beginnt ihre Bluse zu öffnen, «es darf ihn aber nur einer reinstecken und von dem hätte ich gern seinen Namen! Ich muss ja wissen, wie der Vater meines Kindes heisst, sollte es eines geben. Die anderen dürfen zuschauen, wer will mich haben?»

Die Jungs schauen sich verdutzt an. Damit haben sie nicht gerechnet. Nach einigen kritischen Blicken ist die Entscheidung gefallen, sie ziehen gemeinsam ab. Die Frau kann ihre Bluse wieder zuknöpfen.

«So eine Schlampe!»

Beschämt zieht die Bande weiter. Inzwischen wird ihnen klar, dass die Freizeit nicht mehr mit herumziehen gestaltet werden kann, sie müssen sich etwas Neues einfallen lassen. Die meisten konzentrieren sich wieder auf das Studium, wie es Willi noch so gerne tut. Nun hat er abends wieder seine Ruhe.

Das Semester geht zu Ende. Seine Noten sind ausgezeichnet und die Promotion ins nächste Semester ist nicht gefährdet. Nun geht es darum, in den Sommerferien ein Praktikum zu machen. Sein Vater hat ihm angeboten, bei der Lederfabrik in der Produktion zu arbeiten. Das Angebot lehnt er ab. Er will in der Luftfahrt Erfahrungen sammeln. Dank seinem Professor darf er nach Friedrichshafen, da bauen sie an einem grossen Luftschiff.

Willi kann für drei Tage nach Worms, dann muss er weiter mit dem Zug über Basel nach Friedrichshafen. Die Zeit in Worms ist kurz, aber es reichte für einige schöne Stunden mit Gabi. Es ist für Willi ungewohnt, in ziviler Kleidung rumzulaufen. In Aachen trägt er entweder die Schulkleidung oder im Ausgang die SA-Uniform. Nun freut er sich, endlich ein Luftschiff zu sehen. Die LZ129 soll im Bau sein.

Am Bahnhof in Friedrichshafen wird er von der Frau des Ingenieurs abgeholt. Er darf für die sechs Wochen bei der Familie wohnen. Die Frau ist sehr elegant gekleidete, so feine Damen sieht man sonst selten.

«Heil Hitler!», begrüsst sie ihn, «ich bin Elfriede, aber nenn mich Elfi, so nennen mich Freund.»

«Heil Hitler! Ich bin Wilhelm, die Freunde nennen mich Willi.»

«Dann wollen wir schauen, dass wir nach Hause kommen», schlägt Elfi vor, «mein Automobil steht da drüben.»

Jetzt wird Willi nervös, sie ist mit einem Automobil gekommen. Er ist noch nie mit einem Automobil mitgefahren.

«Es ist eigentlich nicht mein Automobil, es gehört meinem Mann, aber ich darf manchmal damit fahren.»

Willi legt seinen Koffer in das Gepäckfach des Wagens und steigt auf den Beifahrersitz. Gespannt beobachtet er, wie sie den Motor startet. Es ist eine moderne Ausführung und lässt sich mit einem Anlasser elektrisch starten. Beim dritten Versuch startet der Motor. Noch hustet er laut. Aus dem Auspuff qualmt schwarzer Rauch. Sie lässt den Motor laufen, bis er etwas ruhiger und regelmässiger klingt, dann legt sie einen Gang ein und lässt das Kupplungspedal langsam hochkommen. Mit einem Ruck fahren sie los.

«Hoppla, das war etwas zu schnell», kommentiert Elfi den ruckartigen Start.

Langsam fährt sie über den Bahnhofsplatz und biegt in die Hauptstrasse ein. Die Leute springen zur Seite und schauen dem Gefährt nach, welches eine schwarze Rauchwolke zurücklässt. Ihr Haus liegt etwas ausserhalb von Friedrichshafen direkt am Bodensee. Willi staunt, in einem so grossen Herrenhaus war er noch nie.

«In einer halben Stunde gibt es das Nachtessen, dann wird auch mein Mann von der Arbeit zurück sein.»

Willi packt seinen Koffer und steigt die Treppe hoch. Auf der Treppe liegt ein eleganter Teppich, sicher sündhaft teuer. An der Wand hängen Ölgemälde. Das Zimmer ist gross, mit einem Fenster zum See. Ein Schrank und ein Schreibtisch aus edlem Eichenholz und ein Bett bilden die Einrichtung. Der Schrank ist für seine wenigen Kleider viel zu gross. Er hat schnell eingeräumt. Eine Durchgangstüre führt in den Waschraum. Er wäscht sich den Schmutz von der Reise ab und zieht sein bestes Hemd an.

Inzwischen hat er gehört, dass der Ingenieur nach Hause gekommen ist. Kurz darauf ruft Elfi zum Nachtessen. Hans, wie sich der Ingenieur mit seinem Vorname vorstellt, ist gross mit wachem Blick.

«Lasst uns mit dem Essen beginnen, wir haben anschliessend genug Zeit uns kennen zu lernen.»

Das Essen ist sehr gut. Gemüsesuppe, dann Teigwaren mit einem Kottelet, zum Dessert gibt es noch frische Erdbeeren. So gut hat Willi schon lange nicht mehr gegessen.

«Wie wird an der Uni der Wettstreit zwischen Luftschiff und Flugzeug beurteilt?», fragt Hans nach dem Dessert.

«Für lange Reise ist das Luftschiff im Vorteil. Zurzeit wird jedoch sehr oft über die militärische Verwendung diskutiert, da liegt der Vorteil bei den Flugzeugen, die könnten sich besser verteidigen.»

«Das mag stimmen, aber wer will den schon wieder Krieg», wendet Hans ein, «seit dem letzten sind erst fünfzehn Jahre vergangen. Haben die nichts gelernt?»

«Die Nationalsozialisten wollen unbedingt die Versailler Verträge rückgängig machen, dabei setzen sie auf das Militär.»

«Das mag sein, aber für mich ist nur die zivile Luftfahrt interessant, da liegt die Zukunft. In einer komfortablen Kabine in zwei Tagen über den Atlantik schweben, das ist Zukunft.»

«Da stimme ich zu, nur, bekommt die Uni Aachen mehr Geld zur Entwicklung von Flugzeugen. Sie haben einige Projekte, die in diese Richtung laufen. Wir haben sogar eine Maschine welche Luft in ein Rohr bläst, in der Mitte befindet sich eine Kammer für Versuche. Man untersucht den Auftrieb der Tragflächen und will bei gleichem Auftrieb den Widerstand möglichst gering halten. Leider dürfen sich nur die Abschlussklässer mit dieser Maschine beschäftigen, wir müssen mit komplizierten Formel den Auftrieb berechnen.»

«Das geht?»

«Ja, zumindest gibt es ein Resultat, später muss die Berechnung an einem Modell bestätigt werden.»

«Ich weiss, die Mathematik hat grosse Fortschritte erzielt. Bei den Luftschiffen ist immer noch die Erfahrung entscheidend. Natürlich rechnen auch wir, aber ich kann die Resultate mit meiner Erfahrung voraussagen.»

«Das kann ich mir gut vorstellen. Im Luftschiffebauen, sind wir auf dem Weltmarkt stark, das werden auch die Nationalsozialisten anerkennen. Bei den Flugzeugen liegen wir hinter den anderen europäischen Staaten zurück, von Amerika ganz zu schweigen.»

«Gut beobachtet, aber nun ist es Zeit, die Arbeit beginnt morgens um sieben Uhr, wenn wir vorher Frühstücken wollen, müssen wir um sechs Uhr aufstehen.»

Willi verabschiedet sich und steigt die Treppe hoch in sein Zimmer. Hans weckt ihn am nächsten Morgen rechtzeitig und mit vollem Magen, machen sie sich auf den Weg zur Werfthalle. Willi bekommt ein Fahrrad und fährt hinter dem Ingenieur her.

In der Werkstatt wird er mit seinen neuen Kollegen bekannt gemacht, dann geht es los. Man zeigt ihm, wie man die Streben auf die richtige Länge zuschneiden muss. Er erhält einen Plan, in dem ersichtlich ist, wie viele Streben von welcher Länge benötigt werden. Nun ist er beschäftigt. Nach einer Stunde hat er die erste Blase an der Hand, mit der er die Säge hält. Am Mittag gibt es in einer Kantine einen Eintopf, mit Fleischklössen. Eine Stunde später arbeitet er weiter. Um fünf Uhr holt ihn Hans ab.

«Ich denke, du möchtest Mal ein Zeppelin aus der Nähe betrachten, komm mit.»

«Ja gerne», er schwingt sich aufs Fahrrad und folgt dem Ingenieur.

«Die LZ127 ist seit einer Woche zur Inspektion in der grossen Halle.»

Willi steht staunend vor der mächtigen Halle. Durch eine winzig wirkende Türe gelangen sie ins Innere der Halle. Willi ist beeindruckt. Die LZ127 ist riesig und füllt die Halle beinahe aus. Er folgt Hans, welcher auf die Kabine zugeht, deren Räder auf dem Boden aufliegen. Eine Holztreppe erlaubt einem den Einstieg in die Kabine. Nun folgt eine Führung. Der Kommandostand ist mit diversen Instrumenten bestückt. Hans erklärt die genaue Funktion jedes Geräts. Dann besichtigen sie eine Kabine für zwei Passagiere. Sie enthält ein bequemes Doppelbett, einen kleinen Schrank. Am Fenster steht ein kleiner Schreibtisch.

 

«Das ist viel bequemer als diese engen Flugzeugsitze, da macht das Reisen spass.»

«Die Aussicht muss herrlich sein», staunt Willi, «das kostet sicher ein Vermögen, mit dem Luftschiff zu reisen. Das kann sich ein Student nicht leisten.»

«Da hast du natürlich Recht, aber Flugreisen mit dem Flugzeug sind auch nicht günstig! Zudem wird es den meisten Passagieren schlecht, weil es zu stark schaukelt, da kann keiner den Flug geniessen.»

Nach dem Besuch in der Kanzel erklärt Hans einige technische Daten. Das das Gasvolumen mehr als hunderttausend Kubikmeter beträgt und von fünf Zwölfzylinder Motoren angetrieben wird, welche über 450 PS Leistung haben, wusste Willi schon vorher. Er hatte alle Daten zur LZ127 im Kopf. Trotzdem ist er mächtig beeindruckt. Es ist schon ein Unterschied, ob man die Zahlen aus der Zeitung liest oder direkt vor dem Luftschiff steht.

«Wir müssen die Graf Zeppelin mit einem Hakenkreuze versehen», erklärt Hans, «Herr Eckert hat sich dagegen ausgesprochen, muss aber den Widerstand aufgeben, da er sonst die Betriebsbewilligung verloren hätte. Er erreichte lediglich, dass das Kreuz kleiner und nur auf einer Seite angebracht wird. Die Männer auf dem Gerüst sind die Mahler.»

Willi gibt keinen Kommentar ab, er will sich nicht politisch äusseren.

«Sobald die Mahler fertig sind, machen wir eine Probefahrt», erklärt Hans, «ich werde versuchen, dass du mitfliegen kannst. Es wird Zeit, dass du als Luftfahrtstudent deine Flugtaufe erlebst.»

«Ich darf mitfliegen?»

«Ich hoffe, es gibt noch einige Reparaturen an den Rudern, welche ebenfalls erledigt sein müssen, dann müsste es klappen. Auf Probefahrten bestimmt der Ingenieur, wer mitfliegen darf.»

«Danke!»

Mehr bringt Willi noch heraus. Damit wird seine Enttäuschung etwas gemildert, mit der er den ganzen Tag zu kämpfen hatte. Er ist von seiner Arbeit enttäuscht, nur Streben zuschneiden, ist nicht das was er von einem Praktikum erwartet hatte.

Erst nach einer Woche, nachdem er hunderte von Streben zugeschnitten, verputzt und hunderte von Löcher gebohrt hatte, wird er aus der Abteilung für mechanische Bearbeitung, in die Abteilung für die Aussenverkleidung versetzt.

Da lernte er mit Stoff umzugehen. Doch richtig interessant wird das Praktikum erst, als er in die Motorenwerkstatt verlegt wird. Endlich kann er das Herz eines Motors sehen. Einer der Motoren ist komplett zerlegt. Man ersetzt die alten Kolbenringe. Auch die Lager wurden ersetzt und mussten neu eingeschabt werden. Ein heikle Arbeit, welche nur von Spezialisten ausgeführt wird, aber er kann ihnen zumindest über die Schulter schauen und ihnen die Werkzeuge reichen.

Eine Woche später ist der Motor wieder montiert und auf dem Prüfstand bereit zum testen. Das ist für Willi sehr interessant. Jetzt kann er sich mit seiner Mathematik und seinen Berechnungen nützlich machen. Denn es zeigte sich, dass die Mechaniker gute Praktiker sind, aber von Mathe eher wenig verstehen. Der Motor würde auch ohne die Unterstützung von Willi für gut befunden. Die Leistungsdaten überzeugten den Ingenieur, dass der Motor nun wieder in Ordnung ist und im Luftschiff eingebaut werden kann.

Für den Probeflug wurde es noch eng. Erst eine Wochen vor Ende des Praktikums ist das Luftschiff für den Probeflug bereit. Vorsichtig wird der Riese aus der Halle auf das Vorfeld geschoben. Sicher vertäut werden die letzten Arbeiten ausgeführt. Ein Fotograf macht Aufnahmen für den Führer, auf denen das Hakenkreuz gut zur Geltung kommt.

«Einsteigen!», verkündet der Kapitän.

Endlich ist es soweit. Willi besteigt das startbereite Luftschiff. Man weist ihm ein Fensterplatz zu, auf den er sich setzen kann. Von der dritten Reihe aus, kann er genau beobachten, was die Besatzung für Handgriffe tätigt und auch die Kommandos kann er gut hören. Die Motoren wurden gestartet und der Koloss setzt sich in Bewegung.

«Ballast abwerfen!»

Nun hebt das Luftschiff ab, sie schweben über dem Platz und langsam gleiten sie in Richtung See. Friedrichshafen wird immer deutlicher sichtbar. Willi ist von der Vogelperspektive begeistert. Er drückt die Nase an der Scheibe platt, wie damals, als er das erste Mal mit der Eisenbahn nach Kassel fuhr.

Die folgenden Stunden wird er wohl nie vergessen. Sie lassen den Bodensee hinter sich und gleiten nach Süden. Später, über Zürich drehen sie auf Ostkurs, überfliegen den Zürichsee und später den Walensee. Die Winde welche seitlich aus den Alpen einfallen, verursachen ein Schlingern. Der Ingenieur verlangt von Kapitän einige spezielle Manöver, um das Verhalten des Luftschiffs unter erschwerten Bedingungen zu testen. Im Magen von Willi beginnt es zu rumoren. Das Schlingern wird noch schlimmer, er muss gegen das Erbrechen ankämpfen und ist froh, als der Ingenieur seinen Test beendet und das Luftschiff wieder ruhig dahingleitet. Über Sargans dreht der Kapitän nach Norden und folgt dem Rhein bis er den Bodensee erreicht.

Sie überfliegen den Flugplatz von Altenrhein. Dort ist die Do X im Hafen verankert. Das grösste Flugzeug der Welt, ist bereit für weitere Flugversuche. Von oben sieht sie klein aus, auf dem Flugfeld stehen noch andere Flugzeug, da sieht man schon, wie viel grössere dieser Gigant ist.

Von weitem ist Friedrichshafen zu sehen. Willi ist sich nicht sicher, ob er traurig sein soll, weil der Flug nach fünf Stunden schon vorbei ist oder ob er sich darauf freut, endlich wieder festen Boden unter den Füssen zu haben. Sein Magen hat sich noch nicht ganz beruhigt. Die Landung erfolgt ohne Probleme, der Ingenieur ist mit dem Testflug zufrieden. Zum Abschluss stellen sich alle, welche den Flug mitgemacht haben, zu einem Gruppenbild vor dem Luftschiff auf. Nochmal gibt es Fotos für den Führer und die Presse, welche über den erfolgreichen Testflug berichtet.

Bis Willi sein Praktikum abschliessen kann dauert es noch eine Woche. Der Testflug mit dem Zeppelin war der Höhepunkt. In der letzten Woche nimmt Hans ihn noch auf einem Motorboot mit nach Altenrhein. So kann er die Do X noch aus der Nähe betrachten. Unglaublich, dass so etwas fliegen kann. An Bord gehen, dürfen sie nicht, das Flugzeug unterliegt der Geheimhaltung. Ende August ist sein Praktikum zu Ende und er besteigt den Zug in Richtung Basel.

Am Bahnhof in Worms holt ihn Gabi ab. Sie hätte ihn gerne ein paar Tage früher begrüsst, denn in Worms ist seit einer Woche das Backfischfest im Gang. Da wäre Gabi gern mit einer Begleitung durch die zahlreichen Stände spaziert. Allein wurde sie immer angepöbelt, so dass sie lieber zu Hause blieb. Nun kann sie doch noch am Abend mit Willi durch Worms flanieren.

Willi ist überrascht, er kennt Worms beinahe nicht mehr. Die Strassen sind mit Hakenkreuzfahnen geschmückte und die Strassen sind sauber herausgeputzt. Gegen Abend hatte er den Eindruck, als ob ganz Worms auf den Strassen ist. Man kann sich kaum noch bewegen. Ideal für das verliebte Paar, sie schmiegen sich eng aneinander, so kommen sie besser durch die Menge.

Die allgemeine Wehrpflicht /1935

Die Studenten werden am Morgen alle in der Aula versammelt. Der Rektor hat eine wichtige Mitteilung zu machen. Die meisten ahnen um was es geht, sie hatten gestern bereits im Radio gehört, dass die Wehrpflicht wieder eingeführt wurde. Das hat natürlich Auswirkungen auf die Studenten. Die meisten sind eben ins wehrpflichtige Alter gekommen. Alle hoffen, dass sie ihr Studium noch beenden dürfen. Der Rektor muss mehrmals um Ruhe bitten. Dann beginnt er seine Ansprache.

«Studenten! Ihr wisst, dass gestern am 14. März 1935 die allgemeine Wehrpflicht eingeführt wurde. Man hat mich gebeten, Sie, als direkt betroffene zu informieren. Das angefangene Semester dürft ihr noch beenden, danach müsst ihr euch bei der zuständigen Stelle melden. Es ist vorgesehen, dass ihr im Sommer den Grundkurs absolviert. Danach entscheidet die Wehrmacht, welcher Truppe sie zugeteilt werden. Ihr müsst euch dieses Jahr nicht um ein Praktikum bemühen, das übernimmt die Wehrmacht.»

Die einen jubelnd, die anderen konsterniert, entlässt der Rektor seine Studenten. In der Aula wird es laut. Das Studentenleben geht zu Ende.

Das Leben in den Städten hat sich normalisiert, wenn man nicht auffällt, lassen einem die Nazis in Ruhe. Belastend ist das Denunziantentum. Jeder Bürger muss vor seinem Nachbarn Angst haben. Es gibt zu viele, welche sich durch das Verraten eines anderen Bürgers, Vorteile bei den Parteibonzen erwarten. Ist man in der misslichen Lage, dass man bei den Nazis auffällt und Anlass bietet, dass sich eine Untersuchung lohnt, dann hat man nichts mehr zu lachen. Solche Gelegenheiten nehmen die Nazis gerne war. Solche Fälle werden dann ausgeschlachtet, das hält die Massen ruhig und sorgt dafür, dass man mit keinem Widerstand mehr rechnen muss. Die Weichen sind gestellt und die Fahrtrichtung ist vorgegeben.

Willi gehört eher zu denen, die der Rektor mit Jubel zurücklässt. Das Studium hätte er schon noch gerne abgeschlossen, doch er rechnet fest damit, dass er zur Luftwaffe eingeteilt wird. Der Traum, als Pilot ein Flugzeug zu fliegen, rückt immer näher. Das wird ihm beim Abschluss des Studiums später sicher helfen.

Von seinen Zimmerkollegen hat Klaus am meisten bedenken, er weiss nicht einmal, wie das Militär Biologen einsetzt. Kann man einen Biologen in der Armee überhaupt brauchen? Auch Sepp ist nicht sicher, wo man Mathematiker einsetzt. Vielleicht bei der Artillerie, zum berechnen der Flugbahn der Geschütze. Hermann rechnet, dass er als Geschichtsstudent eine Stabsstelle erhält, die deutsche Geschichte ist für Hitler sehr wichtig.

All diese Überlegungen, welcher jeder für sich anstellt, sorgen dafür, dass es im Zimmer ruhig ist. Jeder hängt seinen Gedanken nach. Egal welche Einstellung einer hat, das Leben als Soldat wird jeden fordern. Da nützt auch die Vorbereitung in der Hitlerjugend nichts, das Militär wird doch ein ganz neuer Lebensabschnitt.

In den nächsten Wochen wird der Wehrdienst verdrängt, man darf das Studium nicht vernachlässigen. Jetzt erst recht nicht, wer weiss wie es nach dem Wehrdienst weiter geht? Es ist gut möglich, dass man wieder von neuem anfangen muss.

Die letzten Prüfungen schafft Willi mit sehr guten Noten. Dann kommt der Tag, an dem der Professor seine Studenten entlässt. Er gibt sich alle Mühe, dass die Studenten seine Gefühle nicht erahnen können. Er hat ein schlechtes Gewissen, trotzdem ruft er seine Studenten auf, dass sie den Dienst am Vaterland mit Stolz und Pflichtgefühl erfüllen werden.

Bis Willi einrücken muss, reicht es noch für ein paar Tage Ausspannen in Worms. Gabi holt ihn vom Bahnhof ab. Die Begrüssung ist stürmisch, sie haben sich seit Ostern nicht mehr gesehen. Gabi arbeitet jetzt in der Lederfabrik im Büro. Sie lernt mit der Schreibmaschine schreiben und hilft bei der Führung des Kassenbuchs.

Ausnahmsweise kann sie den Samstag frei nehmen. Die beiden treffen sich schon am Samstagmorgen. Sie wollen in den Rebbergen am Rhein wandern. Zum einen hofft Willi, dass er sich an schwerere Schuhe gewöhnen kann, noch wichtiger ist ihm, dass er mit Gabi allein ist.

Auf dem Weg aus der Stadt kommen sie zufällig am Geschäft von Goldberg vorbei. Die Goldbergs haben es sehr gut gelöst, von aussen hat man den Eindruck, das Geschäft sei längst geschlossen. Doch Josef betreut weiter einige Stammkunden. Natürlich weiss das niemand. Für den grössten Teil des Lebensunterhalts ist Maria besorgt, sie verdient in der Lederfabrik gut und die Goldbergs sind es gewohnt, bescheiden zu leben. Wenn einer eine schöne Uhr will, ist Josef immer noch eine gute Adresse.

Nur kurz lässt er seine düsteren Gedanken aufkommen, dann umarmt er Gabi und sie verlassen die Stadt. Zügig schreiten sie voran. Auf dem Weg haben sie eine schöne Sicht auf den Rhein.

Die erste Rast legen sie in einem Wäldchen ein, sie ziehen sich etwas zurück, so dass sie von niemandem gesehen werden. Auf einer Waldlichtung breiten sie eine Decke aus, dann schauen sie sich in die Augen. Beide haben nur einen Gedanken, heute wollen sie es wissen. Gabi ist bereit und hat keine Lust, weiter nur theoretisch zu wissen, wie es geht. Bald liegen sie nackt auf der Decke und können nicht genug voneinander bekommen.

 

Es dauert lange, bis sie ihre Wanderung fortsetzen, zu viel gibt es für beide zu entdecken. Eigentlich wollten sie noch den Hügel erklimmen, doch dazu reicht es nicht mehr. Sie kehren vorher um. Beide sind mit dem Ergebnis des Ausflugs zufrieden. Marschieren kann Willi nächste Woche noch genug, aber die Liebe zu Gabi, die musste unbedingt gefestigt werden. Das war beiden wichtig, sie wollen aufeinander warten.

Mit einem flauen Gefühl im Magen, sitzt Willi am Montagmorgen im Zug nach Mannheim. Dort ist seine Sammelstelle. Eine halbe Stunde vor seinem Termin steht er bereits auf dem Sammelplatz und beobachtete die eintreffenden Rekruten. Wie er kommen die meisten allein. Es gibt nur wenige Eltern, welche sich tränenreich von ihrem Sohn verabschieden. Wie Willi wollten die meisten Rekruten nicht als Muttersöhnchen dastehen.

Pünktlich auf die Sekunde betritt ein Offizier ein Rednerpult und begrüsst die jungen Männer mit einem zackigen: Heil Hitler!

Danach beginnt er sofort mit der Organisation des komplizierten Musterungsvorgangs. Die Männer müssten sich in Zehnerreihe aufstellen. Jede Kolonne steht nun vor einem Tisch, an welchem ein Feldwebel mit einer langen Liste sitzt. Der Vorderste der Kolonne schreit laut seinen Namen. Der Feldwebel sucht nun den Namen auf seiner Liste. Dort ist vermerkt, in welche Abteilung er eingeteilt ist.

«Wilhelm Wolf!», ruft Willi.

Nach einigen Sekunden kommt die Antwort: «Abteilung D, wegtreten!»

Willi blickt kurz um sich, dann sieht er das Schild mit dem Buchstaben D. Er stellt sich zu den dort wartenden. Ohne dass sie dazu aufgefordert werden, reihen sie sich in Viererkolonne ein und warten.

Die Schlange vor den Tischen wird kürzer. Einig Minuten später räumen die Feldwebel ihre Papiere zusammen und bringen die Tische in einen Schuppen. Danach verteilen sie sich auf die neu entstandenen Kolonnen. Abteilung A, beginnt mit dem Abmarsch. Später folgt die Abteilung von Willi ihrem Feldwebel, der sich in Richtung Bahnhof entfernt. Etwas abseits steht ein Zug, welcher nur aus drei Wagen besteht.

«Los einsteigen!», brüllt der Feldwebel, «ein bisschen Beeilung, wir sind nicht in einem Mädchenpensionat!»

Nun geht es zügig voran, keiner will auffallen. Einige versuchen mit einem Leidensgenossen ein kurzes Begrüssungsgespräch zu führen, das kommt beim Feldwebel gar nicht gut an, er brüllte sofort los. Also bleibt man ruhig und hängt seinen eigenen Gedanken nach.

Der Zug setzt sich in Bewegung und die nächsten Stunden hörten die jungen Männer nur das Rattern der Räder. Anfänglich weiss Willi noch, in welche Richtung sie fahren, doch schon bald fährt der Zug auf einer Strecke, die er nicht kennt. Dann wird es draussen dunkel und der Zug fährt immer noch.

Die meisten schlafen, als der Zug anhält und der Feldwebel losbrüllte.

«Alles aussteigen!», schrie er die Rekruten an, «alles persönliche Gepäck mitnehmen!»

Das kleine Bahnhofsgebäude ist nur spärlich beleuchtet, sie reihen sich in der Kolonne ein, jeder hatte ein kleiner Rucksack mit persönlichen Sachen dabei. Was erlaubt war und was Pflicht war, dass man es dabei hat, wurde ihnen vor Wochen schriftlich mitgeteilt.

Dann marschieren sie los in die dunkle Nacht. Im Morgengrauen erreichten sie eine Kaserne. Sie haben noch einen halben Tag als Zivilist, dann stecken sie alle in der Uniform und der militärische Drill beginnt.

Erst nach zwei Monaten gibt es den ersten Urlaub. Als ihn Gabi am Bahnhof abholt, kennte sie Willi beinahe nicht mehr. Es sind nicht nur die kurzen Haare, darauf wurde sie vorbereitet. Die Gesichtszüge von Willi sind härter geworden. Man sieht auch, dass er gut trainiert ist, er hat mehr Muskeln zugelegt. Auch seine Stimme ist lauter, früher hat er ihr zärtlich Worte ins Ohr geflüstert, jetzt empfindet sie es, als ob er sie anschreien würde.

Sie lässt sich nichts anmerken, sie wird sich daran gewöhnen. So sind Soldaten und es wäre ihr nicht Recht, wenn Willi sich vor der Wehrpflicht drücken würde. Sie will, dass er ein stolzer Soldat wird. Vor dem Haus der Wolfs verabschiedet sich Gabi, sie weiss, dass Rosa ihren Sohn für sich haben will, sie werden abends noch tanzen gehen, dann hat sie ihren Willi für sich.

Rosa freute sich den ganzen Tag auf ihren Wilhelm und werkelt in der Küche. Da Samstag ist, muss Franz noch bis fünf Uhr arbeiten. Immer wieder blickt sie nach dem Kaninchenbraten im Backofen, dazu gibt es Sauerkraut aus dem eigenen Garten, sie ist stolz. Der Wilhelm würde Augen machen, so gut wird er in der Kaserne sicher nicht essen.

Nun hat sie ihren Sohn für sich. Schnell merkt sie, dass ihr Sohn mit einer Frau nicht über den Soldatenalltag sprechen will. Das versteht sie eh nicht. So berichtet sie ihrem Sohn, was sich in Worms ereignet hat. Sie informiert, dass die Lederfabrik viele neue Arbeiter einstellte. Die kommen mit der Produktion kaum nach. Die Nachfrage nach Bestandteilen zu Uniformen ist gross. Handschuhe, Gürtel, Stiefel, alles ist gefragt.

Doch diese Information hat ihm schon Gabi gegeben, sie arbeitet ja auch in der Fabrik und das erst noch im Büro, da weiss sie viel besser, als seine Mutter, wie gut die Fabrik arbeitet. Mutter arbeitet, als deutsche Hausfrau weniger lang. Rosa muss nur ein reduziertes Pensum in der Näherei leisten. Sie hat sich auf das Nähen von feinsten Handschuhen spezialisiert.

«Unser Gauleiter hat sich bei mir persönlich bedankt», erzählt sie stolz, «er hat die Fabrik besucht und erhielt vom Werksleiter Handschuhe aus sehr feinem Leder, dieses Leder darf nur ich bearbeiten.»

«Ja nähen hast du schon immer gut gekonnt.»

«Der Gauleiter war mit Worms nicht zufrieden und hatte sich beschwert, den Juden in Worms geht es immer noch zu gut. Noch immer können sie die Synagoge besuchen und der Rabi wird nicht an der Ausübung seines Amtes gehindert. Die meisten Leute in Worms findenden, dass das die Stadt in ein schlechtes Licht rückt.»

«Es sind eigentlich keine Juden, die meisten sind deutscher als mancher Linke.»

«Die sind auch eine Gefahr. Der Gauleiter will, dass sie in ein Lager müssen. Da hat man sie unter Kontrolle.»

«Sonst habt ihr in Worms keine Sorgen, die Stadt wirkt ruhig, die Leute trauen sich wieder auf die Strasse. Das ist mir sofort aufgefallen.»

«Ja, in den Strassen ist es wieder ruhig, die Juden wagen sich nicht nach draussen, sie verstecken sich.»

«Dann ist ja alles gut, solange sie nur in der Synagoge sind, stören sie nicht.»

«Trotzdem macht es auf den Gauleiter einen schlechten Eindruck, es ist eine Schande! Worms feierte letztes Jahr das 900 jährige bestehen der jüdischen Gemeinde.»

«Da siehst du, die sind gar keine Juden mehr, das sind Deutsche.»

«Worms wird wohl damit leben müssen», seine Mutter wirkt resigniert, «es gibt zu viele und man kann sie gar nicht mehr von den deutschen trennen.»

«Das ist ja was ich meine, sie sind Deutsche geworden. Die Hauptsache ist, dass sie auch am Aufbau von Deutschland mithelfen.»

Soeben fährt Franz mit dem Motorrad vor. Nun muss sich Rosa wieder um das Essen kümmern. Wilhelm eilt nach draussen um seinen Vater zu begrüssen. Neben seinem Vater interessiert ihn auch das Motorrad. Stolz lädt Franz ihn ein, eine kurze Runde zu drehen, soviel Zeit bleibt noch, bis das Essen fertig ist.

Die Mutter ruft zum Essen. Wilhelm berichtet von seiner Ausbildung. Meistens ist sie sehr hart, was Franz freut, endlich werden die jungen Deutschen wieder zu richtigen Männer erzogen.

«Bevor wir in den Urlaub entlassen wurde, fand noch die Vereidigung satt, in einer imposant Zeremonie schworen wir Adolf Hitler die Treue. Jetzt bin ich ein richtiger deutscher Soldat!»