Midrasch

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Aus der Reihe: Jüdische Studien
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Aufeinanderfolgende BibelstellenAufeinanderfolgende Bibelstellen werden zur Deutung genützt:

In Gen 21 ist von Isaaks Geburt die Rede, darauf in V. 9 vom „sich Vergnügen“ Ismaels. Dies deuten die Rabbinen (siehe dazu den Beleg unter IV. 4) als Bedrohung Isaaks. In BerR 55.4 zu Gen 22,1 wird von einem Streit zwischen Ismael und Isaak über ihre Beschneidung gehandelt:

Isaak und Ismael stritten miteinander. Ismael sprach: Ich bin beliebter als du, denn ich wurde im 13. Jahr beschnitten. Isaak entgegnete: Ich bin beliebter als du, da ich schon am achten Tag beschnitten wurde. Da entgegnete ihm Ismael: Ich bin beliebter als du, denn ich konnte mich wehren, ich unterließ es aber. In dieser Stunde erwiderte Isaak: Wenn Gott mir erscheinen und mir sagen würde, ich sollte mir eins von meinen Gliedern abschneiden, ich würde mich nicht weigern.

Das Necken ist zu einem Streit geworden, wer vor Gott beliebter ist. Isaak nimmt dabei den Mund recht voll. Die Prüfung bezieht sich demnach direkt auf die „Provokation“ Gottes durch Isaak („nach diesen Worten“). Er gibt nicht nur einen Teil seines Fleisches, sondern sein gesamtes Leben. Die Rabbinen kombinieren hier zwei aufeinander folgende Kapitel unter der Voraussetzung eines Vorverständnisses |62|über den Wert der Beschneidung, über Ismaels Verhalten gegenüber Isaak etc.

Ein Text wird zergliedert und enthält mehrere Botschaften:

Die AtomisierungAtomisierung des Bibeltextes ist ein gängiger Vorgang innerhalb des Midrasch. Demnach erhalten die einzelnen Versteile jeweils eigenständige wichtige Aussagen. Dies wird noch des Öfteren begegnen.

In BerR 56.4 wird Gen 22,8, die Antwort Abrahams auf die Frage Isaaks, wo das Schaf für das Brandopfer sei, in zwei Teile aufgespalten. Abraham habe Isaak geantwortet:

An jedem Ort „Gott wird sich ersehen“. Und wenn nicht: „Das Schaf für das Brandopfer (ist) mein Sohn“.

Der erste Teil des Satzes (elohim jire-lo) spricht Abrahams Hoffnung auf Rettung Isaaks an, der zweite (ha-se leola beni) stellt klar, dass die Aqeda (= Bindung/Opferung Isaaks) von Abraham ernst genommen wird. Der Bibelvers wird an dieser Stelle nicht als fromme Ausrede Abrahams gedeutet, sondern verweist auf die Auflösung der Erzählung und die „Vor-Sehung“ Gottes in Gen 22,14, mit der V. 8 eng verknüpft ist. Die Teilung des Verses ermöglicht die doppelte Aussage: Gott wird sich treu bleiben und in weiser Voraussicht ein Schaf bereithalten, damit Israels Zukunft möglich wird, zum anderen aber ist diese Hoffnung keine Gewissheit, die den Opfergang zu einer bloßen Symbolhandlung herabwürdigt.

Vergleiche und KontrasteVergleiche und Kontraste prägen die Textwelt der Rabbinen:

Aufgrund der intertextuellen Verbindung aller Bibelstellen können nicht nur entfernt liegende Stellen sich gegenseitig erhellen, sondern auch gleiches oder unterschiedliches Verhalten darin aufeinander bezogen werden. So heißt es in BerR 55.8 zu Gen 22,3 („Frühmorgens stand Abraham auf, sattelte seinen Esel“):

R. Schimon b. Jochai sagte: Ein „Satteln“ kommt und steht einem anderen „Satteln“ entgegen. Ein „Satteln“ – das unseres Vaters Abraham, der sattelte, um zu gehen und den Willen dessen zu erfüllen, der sprach und die Welt war, wie es heißt: „Und Abraham streckte seine Hand aus“ etc. (Gen 22,10). (Das) steht einem anderen „Satteln“ entgegen: Als Bileam sattelte, um zu gehen und Israel zu verfluchen (vgl. Num 22,21: „Am Morgen stand Bileam auf, sattelte seinen Esel und ging mit den Hofleuten aus Moab“).

|63|Eine positive Handlung hebt hier eine negative auf. Demnach sind nicht nur die Texte alle aufeinander bezogen, sondern auch alle Zeitebenen und Ereignisse.

Scheinbare Bezüge können auch Kontraste sein. So lässt sich in BerR 55.4 zwar das Opfer des Königs Mescha in 2 Kön 3,27 mit Mi 6,6–7 in Verbindung bringen, hat aber im Grunde nur mit Abrahams Opfer zu tun:

R. Joschua aus Sichnin im Namen des R. Levi sagte: Obwohl diese Worte sich auf Mescha, den König von Moab, beziehen, (der wirklich seinen Sohn geopfert hat), sind sie doch nur auf Isaak anzuwenden „Womit soll ich vor den Herrn treten, [wie mich beugen vor dem Gott in der Höhe? Soll ich mit Brandopfern vor ihn treten, mit einjährigen Kälbern?] Hat der Herr Gefallen an Tausenden von Widdern, [an zehntausend Bächen von Öl? Soll ich meinen Erstgeborenen hingeben für meine Vergehen, die Frucht meines Leibes für meine Sünde?]“ (Mi 6,6–7).

Die Rabbinen stellen hier – durch angewandte Exegese – eine doppelte Verbindung her. Sie konkretisieren einen allgemein gehaltenen Text (Mi 6,6–7), der vom biblischen Kontext her wohl auf Israel zu beziehen ist, mit dem Menschenopfer des moabitischen Königs Mescha. Dieses Opfer wurde von Gott abgelehnt. Auf der zweiten – tieferen – Ebene kommt nun Isaaks Opfer ins Spiel. Und hier zeigt sich, wie sehr die angewandte Exegese auch pure Exegese ist. Die Aussage in BerR ist nur verstehbar, wenn der weitere Kontext des zitierten Bibeltextes Mi 6, hier also V. 8, mitgedacht ist. Denn betrachtet man Mi 6,8, also den darauffolgenden Bibelvers, so wird der Schlüssel für das Verständnis der Aussage in BerR geliefert: „Es ist dir gesagt worden, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir erwartet: Nichts anderes als dies: Recht tun, Güte lieben, in Demut den Weg gehen mit deinem Gott“. Anders als bei Mescha, wo die Darbringung des Sohnes eine reine – und von Gott ungewollte – Opfergabe war, deutet man Abrahams Darbringung des Isaak als demütiges Gehen mit Gott. Das Rechte tun (mit dem Begriff mischpat), Güte lieben (mit dem Begriff chessed) und natürlich den Weg gehen (mit dem Begriff halach, der Assoziation zur Halacha weckt) umschreibt das Verhalten und die Einstellung Abrahams. Die Begriffe des Textes werden also „angewandt“ auf die Personen und damit aber auch das Opfer selbst in ein – vom Bibeltext her intendiertes – richtiges Licht gesetzt. Demnach ist nicht die Darbringung des Opfers selbst die zentrale Aufgabe, sondern die Einstellung des Menschen, sein Verhalten und sein Tun. Und damit wird rabbinisches Denken mit biblischem Text aufs Engste verbunden. Vom biblischen Text her kann man Abrahams Opfer in richtigem Licht betrachten, von der rabbinischen „Assoziation“ des Michaverses mit Abraham und Isaak her kann man den biblischen Text besser verstehen.

|64|In WaR 20.1 (und Parallelen) wird der Umstand, dass die Söhne Aarons, Nadav und Avihu, nach Lev 10,1 ums Leben kommen, zum Anlass genommen, über den Umstand zu handeln, dass Gerechte und Schurken mitunter das gleiche Schicksal teilen.

R. Schimon b. Abba erschloss (patach): „Aber ein und dasselbe Geschick trifft den Gerechten und den Schurken, [den Guten, den Reinen und den Unreinen, den Opfernden und den, der nicht opfert. Dem Guten ergeht es wie dem Sünder, dem Schwörenden ebenso wie dem, der den Schwur scheut]“ (Koh 9,2). „Den Gerechten“ – das ist Noach. „Noach war ein Gerechter“ (Gen 6,9). R. Jochanan der Sohn des R. Eliezer der Sohn des R. Jose ha-Gelili (sagte): Als Noach aus der Arche stieg, biss ihn eine Schlange und schlug ihn ein Löwe und brach ihm (ein Bein), und er war nicht mehr geeignet, ein Opfer darzubringen, und sein Sohn Schem brachte es an seiner statt dar. „Und den Schurken“ – das ist Pharao Necho. Als er sich auf den Thron Salomos (vgl. 1 Kön 10,18–20) setzen wollte, konnte er dessen Mechanismus nicht bedienen, und es biss ihn eine Schlange und ein Löwe schlug ihn und brach ihm (ein Bein). Der eine starb als Lahmer, und der andere starb als Lahmer: „Aber ein und dasselbe Geschick trifft den Gerechten und den Schurken“.

Der Kohelettext gibt die Folie vor, auf der geklärt wird, dass Gute wie Böse mitunter das gleiche Schicksal teilen können und niemand allein aufgrund der guten oder schlechten Erfahrungen oder aufgrund von Schicksalsschlägen, die einen Menschen treffen, urteilen könne, ob er von Gott geliebt oder verurteilt werde. Dadurch wird der Tod der Söhne Aarons als nicht durch ihre Schuld bedingt erklärbar dargelegt. Die herangezogenen Vergleiche sind zwar aus der Bibel genommen, wurden aber massiv mit Haggada angereichert. So sagt uns die Bibel nichts über den Löwen bei Noach, und sie erwähnt auch nichts von den Versuchen des Necho, auf dem – von der rabbinischen Darlegung ausgeschmückten – sagenumwobenen Thron Salomos zu sitzen, der mit Löwen geschmückt war und dessen komplexer Mechanismus an verschiedenen rabbinischen Stellen erläutert wird (vgl. EstR zu Ester 1,2; Abba Gurion; Panim Acherim; BemR 12.17; PesK 1 etc.).

Ein(e) sich mehrfach in der Bibel findende(r) Sachverhalt, Gegenstand, Person wird für einen intertextuellen Zusammenhang ausgewertet:

Bündelung von BezügenSowohl der Altar als auch der Widder erhalten in der rabbinischen Auslegung von Gen 22 besondere Bedeutung. An der Stelle bündeln sich viele andere biblische Bezüge. Dies tritt vor allem in den späteren Belegen vor Augen. So heißt es in PRE 31:

|65|PRE 31Rabbi Sacharia sagte: Jener Widder, der im Zwielicht (der Schöpfung) erschaffen wurde, lief und kam, um anstelle von Isaak geopfert zu werden. Samael aber stand da und lenkte ihn in die Irre, um das Opfer[tier] Abrahams, unseres Vaters, (vom Wege) abweichen zu lassen. Er verfing sich aber mit seinen zwei Hörnern zwischen den Bäumen, denn es heißt: „Da erhob Abraham seine Augen und schaute, und siehe, ein Widder[, der hinter ihm im Dickicht an den Hörnern hängenblieb]“ (Gen 22,13).

Was tat der Widder? Er streckte seinen Huf an den Mantel Abrahams. Abraham schaute (sich um) und sah den Widder. Und er nahm ihn und band ihn und opferte ihn anstelle von Isaak, denn es heißt: „Da ging Abraham und nahm den Widder und brachte ihn als Brandopfer dar anstelle seines Sohnes“ (Gen 22,13).

 

Rabbi Berechja sagt: Der liebliche Wohlgeruch des Widderopfers stieg vor den Thron der Glorie, und er war ihm angenehm wie der liebliche Geruch von Isaak.

Und er schwur, ihn in dieser Welt und in der kommenden Welt zu segnen, denn es heißt: „Denn ich werde dich segnen und deinen Samen mehren wie die Sterne des Himmels“ (Gen 22,17).

„Ich werde dich segnen“ – in dieser Welt. „Ich werde vermehren“ – in der kommenden Welt.

Rabbi Chanina ben Dosa sagt: Von diesem Widder ging nichts Unbrauchbares hervor. Die Asche des Widders war die Grundlage für das, was auf dem mittleren Altar war, denn es heißt: „Und Aaron erwirke Sühnung auf seinen Hörnern einmal im Jahr“ (Ex 30,10).

Die Sehnen des Widders sind zehn entsprechend den zehn Saiten der Harfe, auf denen David spielte. Das Leder des Widders war der Gürtel um die Hüften von Elija, denn es heißt: „Sie sagten zu ihm: Er ist ein behaarter Mann, gegürtet mit einem ledernen Gurte um die Hüften“ (2 Kön 1,8).

Die beiden Hörner des Widders sind (Schofarhörner). Auf dem linken (Horn) blies der Heilige, gepriesen sei er, auf dem Berg Sinai, denn es heißt: „Und die Stimme des Schofars [ging fortwährend stärker]“ (Ex 19,19). Und das rechte Horn ist größer als das linke. Und in dies wird er einst hineinstoßen, in der Zukunft, die kommen wird, damit diejenigen, die im Exil leben, versammelt werden, denn es heißt: „Und es geschieht, an jenem Tage wird in das große Schofar gestoßen und JHWH wird König sein auf der gesamten Erde“ (Jes 27,13).

Rabbi Isaak sagt: Alles ist nur durch das Verdienst des Sich-Beugens (vor Gott) erschaffen, denn es heißt: „Erhebet JHWH, unseren Gott, und beugt euch vor seiner Füße Schemel“ (Ps 99,5). (Übersetzung Börner-Klein, Pirke de-Rabbi Elieser, S. [181–183])

Diese Beispiele mögen genügen, um die Hermeneutik der Anknüpfungen zu erläutern. Des Öfteren lässt sich bei genauerem Hinsehen erkennen, dass die Bezüge zum Text (bzw. zum gesamtbiblischen Kontext) größer sind, als man vermuten würde. Gleichwohl wird die rabbinische Welt mit ihren Vorstellungen und Überzeugungen eingespielt. In der Folge seien nur wenige Beispiele genannt, in denen diese Angewandte Exegeseangewandte Exegese stärker zum Tragen kommt.

|66|So wird beispielsweise Abraham bereits als ein weiser Rabbi geschildert, der saß und die Tora auslegte (jaschav wedarasch), in WaR 25.6 konkret zum Thema der „Verortung“ von Orla (Unbeschnittenes/Vorhaut), von der in der Bibel sowohl bei Pflanzen als auch beim Menschen die Rede ist. Dabei wird auch darüber diskutiert, worauf sich Abraham bei seinen Überlegungen stützte, ob nur auf einen Bibeltext (konkret Gen 17) oder auch (schon) auf hermeneutische Regeln wie den Schluss vom Leichteren auf das Schwerere (qal wa-chomer) oder den Analogieschluss (gezera schawa).

Als Abraham sich auf dem Rückweg von Morija befindet, kommt Isaak im Bibeltext nicht mehr vor. In BerR 56.11 fragt man daher:

Wo war Isaak? R. Berechja sagte im Namen der dortigen Rabbinen: Er hatte ihn zu Schem geschickt, um Tora von ihm zu lernen. Gleich einer Frau, die durch den Mühlstein reich geworden ist. Sie sagte: Weil ich durch diese Fertigkeit reich geworden bin, so soll sie nie mehr aus meiner Hand weichen. R. Jose ben Chanina sagt: Er schickte ihn in der Nacht wegen des (bösen) Auges. Denn von der Stunde an, als Chananja, Mischael und Azarja aus dem Feuerofen gerettet wurden, wurden sie nicht mehr erinnert/erwähnt. Und wohin sind sie gegangen? R. Eliezer sagt: Sie starben am Speichel. R. Jose ben Chanina sagt: Sie starben wegen des (bösen) Auges. R. Jehoschua ben Levi sagt: Sie wechselten den Ort und gingen zu Jehoschua ben Jehotzadak, um von ihm Tora zu lernen, wie geschrieben steht: „Höre, Hohepriester Jehoschua[: Du und deine Gefährten, die vor dir sitzen, ihr seid Männer, die Wahrzeichen sind]“ (Sach 3,8). R. Tanchum bar Abbuna im Namen R. Chaninas: Deshalb stiegen Chananja, Mischael und Azarja in den Feuerofen hinab, damit an ihnen ein Wunder geschehe.

Diese Stelle ist bezeichnend für die Rabbinen. Abraham schickt seinen Sohn zum TorastudiumTorastudium, ganz im Sinne dessen, was sie als lebensspendende Mitte jüdischer Identität ansehen. Aber sie verabsäumen auch nicht, das Schicksal Isaaks in den Kontext der Märtyrer für den wahren einzigen Gott zu stellen. Chananja, Mischael und Azarja waren von Nebukadnezzar in den glühenden Ofen geworfen worden und hatten überlebt. Aber auch von ihnen war später nichts mehr zu hören. Was also geschah? Starben sie doch an den Folgen oder gingen sie, um Tora zu studieren? Das Torastudium als Mitte rabbinischer Lehre ist hier in den Text hineingelesen.

In BerR 63.6 heißt es zu Gen 25,22:

„Sie stießen einander im MutterleibMutterleib“: Als sie (Rebekka) an GötzentempelnGötzentempeln vorbeikam, zappelte Esau und wollte herauskommen. Als sie an SynagogenSynagogen und Lehrhäusern vorbeikam, zappelte Jakob und wollte herauskommen.

Esau ist von Anfang an verdorben, während Jakob Synagogen und Lehrhäuser schätzt. Der Bibeltext selbst erklärt nicht näher, warum |67|die beiden zappeln, was der Midrasch ausnutzt, um seine Weltsicht zu propagieren. Esau, häufig Sinnbild Roms, ist der negative Gegenpol zum lernbegierigen Jakob/Israel. Wenig später, in BerR 63.10Genesis Rabba 63.10 wird das Bild von Rom erneut zur Folie. Richtiges oder falsches VerhaltenUnter anderem heißt es hier:

„Esau verstand sich auf die JagdJagd“ (Gen 25,27Gen 25,27) – Er jagte die Geschöpfe mit seinen Worten (folgendermaßen): Du hast nicht gestohlen? – Wer hat mit dir gestohlen? Du hast nicht gemordMordet? – Wer hat mit dir gemordet?

Wie Rom ist Esau hinterhältig und verbrecherisch. In Ber 63.12 wird Gen 25,29 ausgelegt. Hier kommt Esau vom Feld. Der Begriff „Feld“ wird intertextuell aufgelöst und negativ auf Esau gedeutet. Demnach habe Esau eine verlobte Jungfrau vergewaltigt und einen Mord begangen. Belege dafür sind Dtn 22,25 (wo eine Jungfrau „auf freiem Feld“ vergewaltigt wird) und Jer 4,31 („Ja, ich höre Geschrei wie von einer Frau in Wehen, Stöhnen wie von einer Erstgebärenden, das Schreien der Tochter Zion, die nach Atem ringt und die Hände ausstreckt: Weh mir, unter Mörderhand endet mein Leben“). Nach einer weiteren Ansicht habe er auch – mit Beleg Obd 1,5(-6) („Wenn in der Nacht Diebe oder Räuber bei dir einbrechen […] Wie wird man Esau durchsuchen und seine Verstecke durchstöbern!“) – gestohlen.

Biblische Texte, Personen oder Handlungen können zu weiterführenden Betrachtungen über richtiges oder falsches Verhalten führen. So heißt es in Anknüpfung an Doëg, der David einst verriet (1 Sam 22) in Tan Metzora 2 bzw. TanB Metzora 4 (22b/23a), dass der Verrat sogar die drei großen Kapitalvergehen übersteigt:

Und Doëg wurde aus dem Leben dieser Welt entwurzelt und (auch) aus allen Leben der zukünftigen Welt, wie es heißt: „Darum wird Gott dich verderben für immer, (dich packen und herausreißen aus deinem Zelt, dich entwurzeln aus dem Land der Lebenden)“ (Ps 52,7Ps 52,7) – aus dem Leben der zukünftigen Welt. Was ist schwerwiegender: wer mit dem Schwert tötet, oder wer mit dem Pfeil tötet? Sag: Wer mit dem Pfeil tötet! Denn wer mit dem Schwert tötet, kann sein Gegenüber nur töten, wenn er nahe bei ihm ist und ihn trifft. Wer mit dem Pfeil tötet, bei dem ist es nicht so, sondern er schießt den Pfeil ab und tötet ihn überall, wo er ihn sieht. Deswegen wird (der Verleumder) mit dem Pfeil verglichen, wie es heißt: „Ein tödlicher Pfeil ist ihre Zunge“ (Jer 9,7). Und so sagt sie (die Schrift): „Ich muss mich mitten unter Löwen lagern, die gierig auf Menschen sind. Ihre Zähne sind Spieße und Pfeile, ein scharfes Schwert ihre Zunge“ (Ps 57,5Ps 57,5). Sieh, wie schwer die Verleumdung ist – dass sie schwerer (wiegt) als Blutvergießen und Unzucht und Götzendienst. Von der Unzucht steht geschrieben: „Wie sollte ich da ein so großes Unrecht begehen und gegen Gott sündigen?“ (Gen 39,9).Vom Blutvergießen steht geschrieben: „Da sprach Kain zum Herrn: Meine Sünde ist größer, als dass ich sie tragen könnte“ (Gen 4,13). Vom Götzendienst steht geschrieben: „Ach, dieses Volk hat gesündigt“ |68|etc. (Ex 32,31). Aber wenn er die Verleumdung erwähnt, sagt er weder „groß“ noch „große(s)“ (Sg.), sondern „große“ (Plural), wie es heißt: „Der Herr vertilge alle falschen Zungen, jede Zunge, die Großes (Pl.) redet.“ (Ps 12,4). Deshalb wird gesagt: „Tod und Leben steht in der Gewalt der Zunge“ (Spr 18,21).

Die wenigen Beispiele illustrieren, wie rabbinisches Welt- und Menschenbild sich an den Text anheften kann. Dabei kommt es nicht selten zu einer Neubewertung von Figuren in der Bibel. Grundsätzlich werden die Ideale der Rabbinen auch in den Bibeltext hineinprojiziert. Dazu gehören der Vorrang des Studiums und der Lehre, die mit der höchsten Wertschätzung der Tora verbunden wird, und die vielen Beispiele für richtiges und toragemäßes Verhalten, für Bescheidenheit und Tugendhaftigkeit.

Die Beispiele haben jeweils nur einzelne kurze Passagen in den Blick genommen. Die „Hermeneutik der Anknüpfungen“ ist natürlich nicht zuletzt über längere Abschnitte zu beobachten. Sehr gut lässt sich dies etwa an WaR illustrieren, wo im Grunde jede Parascha eine Fülle von Wissen vermittelt, das sich assoziativ an den Text anbindet und sukzessive weiter durch Anknüpfungen thematisch verbunden und dadurch ausgeweitet wird. Damit gelingt es, in die Auslegung der verwendeten Bibeltexte auf den ersten Blick weit entfernte Themen einzubinden und doch immer wieder – was allerdings durchaus Aufmerksamkeit verlangt – auf den biblischen Ausgangstext des Buches Levitikus zu verweisen.

6. Polysemie

Angeregt durch die Thesen der poststrukturalistischen Literaturwissenschaft gab es vor wenigen Jahrzehnten einen Trend, Rabbinische Texte als Ausdruck einer polyvalenten und unbestimmten Textproduktionrabbinische Texte als Ausdruck einer polyvalenten und unbestimmten Textproduktion zu lesen, in der der Autor verschwindet, die historische Verankerung keine Rolle spielt, der Text vielmehr als freies Spiel verstanden wird, in dem die Leserinnen und Leser eine wichtige Rolle als Sinnkonstrukteure spielen. Vor allem in den USA entwickelten sich poststrukturalistische literarische Zirkel, welche Midrasch als Hermeneutik untersuchen. Midrasch wird hier nicht als Gattung oder als Textform verstanden, sondern als exegetisches Vorgehen, als Methode (vgl. Gelhard, Spuren des Sagens). Hier ist nicht zuletzt die viel diskutierte Arbeit von Susan Handelman (The Slayers of Moses) zu nennen. Unter anderem galt Jacques Derridas Dekonstruktionismus als moderne Form des Midrasch im Unterschied zur Exegese, welche letztlich nach der einen „richtigen“ Bedeutung suche (vgl. Joseph Dan, Exegesis).

|69|Ein zentrales Stichwort in der poststrukturalistischen Analyse ist die „Unbestimmtheit“ (indeterminacy)„Unbestimmtheit“ (indeterminacy) des Textes. Diesbezüglich wird in der rabbinischen Literatur gern auf bSanhedrin 34a oder bSchabbat 88b verwiesen, wo Jer 23,29 ausgelegt und der vom Hammer zerschmetterte Felsen mit den biblischen Versen verglichen wird, die auf vielfältige Weise auszulegen sind. Im mittelalterlichen BemR 13.15 ist schließlich von den 70 Gesichtern der Tora die Rede.

Zweifellos trachtet die rabbinische Bewegung danach, unterschiedliche Meinungen und im Studium erworbene Auslegungen nebeneinander zu belassen und gleichzeitig ihre gemeinsame Herkunft aus einer Quelle (von Gott am Sinai) zu betonen. Die mündliche und schriftliche Anordnung der Überlieferungen allein macht aber aus dieser Gleichzeitigkeit eine Nachordnung, eine Abfolge, bedingt eine Auswahl und Beschränkung, die – bewusst oder unbewusst, darüber lässt sich trefflich streiten – die Rezeption beeinflusst (vgl. Steven Fraade, From Tradition to Commentary, vor allem S. 124).

In Bezug auf die Offenheit und Geschlossenheit des rabbinischen „Systems“ gilt, was David Stern bereits 1988 in seinem Beitrag Indeterminacy geschrieben hat:

Die Zitation von verschiedenartigen Interpretationen im Midrasch ist ein Versuch, mit textlichen Mitteln eine idealisierte Akademie rabbinischer Tradition vorzustellen, in der alle Meinungen der Gelehrten gleichwertig als Teil des einen göttlichen Gesprächs aufgezeichnet werden. Meinungen, die im menschlichen Diskurs als widersprüchlich oder einander ausschließend erscheinen, werden auf die Ebene einer paradoxen Einheit gehoben, die sich auf ihre eine gemeinsame Quelle im Sprechen des göttlichen Autors zurückführt. […] Das Phänomen, das wir in vielen Auslegungen beobachten, ist, in anderen Worten, in Wirklichkeit ein Eindruck, den die Redaktoren der rabbinischen Literatur bieten, ein Resultat einer allgemeinen Entscheidung, die von den anonymen Redaktoren getroffen wurde, die Minderheitenpositionen ebenso wie die Mehrheitspositionen zu bewahren, die Verschiedenheit der Traditionen anstatt von einzelnen Versionen. (Stern, Indeterminacy, S. 155)

 

Vorbilder dazu finden sich bereits im Vorgehen der biblischen Redaktoren, die unterschiedliche Texte nebeneinander bewahren und die Spannungen nicht immer ausgleichen. Der Unterschied zur rabbinischen Literatur besteht darin, dass die Rabbinen mehr und mehr den redaktionellen Pluralismus als eine Art Ideologie verstehen, die gerade die textliche Stabilität und den sozialen Zusammenhalt einer Gruppe betont, die harmonisch Uneinigkeit aushält und bereit ist, diese in Frieden zu akzeptieren. Der von Stern bevorzugte Begriff Polysemie gegenüber dem mehr belasteten und missverständlichen „Indeterminiertheit“ bringt zum Ausdruck, dass |70|rabbinische Literatur nicht grenzenlos offen und nicht unbestimmt bleibt, sondern der im letzten vor allem auf die Redaktion zurückgehende Pluralismus sich an Bedingungen knüpft. Eine davon ist die Quelle aller Auslegung selbst, nämlich Gott. In einem Beleg aus QohR 12.11.1QohR 12.11.1 (mit Teil-Parallelen in tSota 7.11; bChagiga 3ab und Avot de-Rabbi Natan A 18.10–12) wird dies besonders deutlich:

„Worte von Gelehrten sind wie Ochsenstecken (ka-ddarvonot)“ (Koh 12,11) – (das bedeutet) wie ein Ball von Mädchen (kekaddur schel banot). Was meint „Ball“? Dieser wird von Hand zu Hand geworfen und fällt nicht zu Boden. „Von den Worten[, die er durch seinen Knecht Moses verkündet hat,] ist nicht eines hinfällig geworden“ (1 Kön 8,56).

Wie ein Ball in ihre Hände geworfen wird und nicht herunterfällt, so bekam Moses die Tora vom Sinai und überlieferte sie Josua und Josua den Ältesten und die Ältesten den Propheten und die Propheten überlieferten sie der großen Versammlung etc.

[…]

Wann werden die Worte der Tora in ihrer besten Weise gesprochen? In der Stunde, wo die, die sie beherrschen, sie in der Versammlung hören. Woher sagst du, dass, wenn jemand es aus dem Mund eines Israeliten hört, es ist, als habe er es aus dem Mund eines Weisen gehört? Die Schrift sagt: „[Diese Worte], auf die ich dich heute verpflichte, [sollen auf deinem Herzen geschrieben stehen]“ (Dtn 6,6). Nicht wie etwas, das man aus dem Mund eines Weisen gehört hat, sondern aus dem Mund der Weisen, wie es heißt: „Die Worte der Weisen sind wie Ochsenstecken.“ Und nicht wie etwas, das man aus dem Mund der Weisen gehört hat, sondern aus dem Mund des Sanhedrin: „Versammle siebzig [von den Ältesten Israels vor mir]“ (Num 11,16). Und nicht wie etwas, das man aus dem Mund des Sanhedrin gehört hat, sondern wie etwas, das man aus dem Mund von Moses gehört hat, wie es heißt: „Gegeben von einem Hirten“ (Koh 12,11). – Das ist Moses. Und nicht wie etwas, das man von dem Hirten Moses gehört hat, sondern wie etwas, das man aus dem Mund des Heiligen, gepriesen sei er, gehört hat, wie es heißt: „Du Hirte Israels, höre, [der du Josef weidest wie eine Herde! Der du auf den Kerubim thronst, erscheine!]“ (Ps 80,2), und „einer“ bezeichnet niemand anderen als den Heiligen, gepriesen sei er, wie es heißt: „Höre, Israel, JHWH unser Gott, JHWH ist einer“ (Dtn 6,4). (Druckfassung)

Die finale Botschaft ist schließlich, dass alle Weisung, in allen ihren unterschiedlichen Varianten und allen möglichen konkreten Quellen, letztlich als Aussage aus dem Mund des einen Gottes stammend verstanden werden soll. Selbst Moses ist nur ein Vermittler des Wortes. Das rabbinische Schulideal ist deutlich zu spüren. Man lernt in der Gruppe, der Gemeinschaft. Hier ereignet sich die Polysemie der Auslegung. Hier wird aber auch und umso mehr bewusst, dass alle Differenz in der Einheit des Hirten aufgelöstDifferenz in der Einheit des Hirten aufgelöst ist. In der Parallele bChagiga 3ab wird noch deutlicher, dass die unterschiedlichen Auslegungen durchaus die Schüler verwirren, dass sie sich dadurch aber nicht entmutigen lassen sollen, sondern |71|in ihrem Herzen (ihrem „Verstandesapparat“) mnemotechnisch geordnete Räume einrichten, um die unterschiedlichen Positionen inklusive ihrer Quelle zuordnen zu können. In tSota 7.11 dient diese Leistung der Schüler letztlich dazu, das Richtige vom Falschen zu unterscheiden (vgl. zu dieser Diskussion Rubenstein, Stories of the Babylonian Talmud, S. 100–113).

In jüngerer Zeit ist verstärkt, und hier sind besonders die Arbeiten von Rubenstein zu nennen, auf den Umstand aufmerksam gemacht worden, dass vor allem die späten babylonischen Redaktionen großen Wert auf die offene Diskussion, die Rezeption unterschiedlicher Standpunkte legten. Die Unterscheidung zwischen babylonischen und palästinischen Quellen, früheren und späteren Texten ist zweifellos hilfreich, um die (steigende) Bedeutung der Polysemie zu verstehen und in einen Kontext setzen zu können.

An dieser Stelle wäre noch viel über die Frage zu diskutieren, welche Traditionen in den Sammlungen aus welchen Gründen gesammelt, welche aber nicht aufgenommen wurden, die Frage der Zugehörigkeit zur Gruppe, die Mechanismen der Distanzierung oder gar des VerschweigensMechanismen der Distanzierung oder gar des Verschweigens. Die kritische Wahrnehmung einzelner Rabbinen (wie beispielsweise Elischa ben Avuja) oder die komplexe Sicht auf Rabbinen, die als Grenzgänger erlebt werden (z.B. Eliezer ben Hyrkanos), seien hier ebenso erwähnt wie die differenzierte Haltung gegenüber Apokalyptik, Magie oder esoterischen Strömungen, die ihre Spuren deutlich hinterlassen. Darüber hinaus mögen Statistiken des Vorkommens bestimmter Rabbinen Aufschluss darüber geben, wer im rabbinischen „Kanon“ besonders gefragt ist. Dies gilt natürlich auch für einzelne Entwicklungsstufen der jeweiligen Texte.

Zu erwähnen sind auch die in bSanhedrin 99b genannten haggadot schel dofi, also jene Auslegungen, die von den Rabbinen als beleidigend und anstößig gekennzeichnet wurden. Damit schaffen die Rabbinen Abgrenzungen gegenüber Auslegungen, die als unpassend oder aus fragwürdiger Quelle stammend – weil im Kontext des rabbinischen Konsenses als frivol, überheblich, grenzüberschreitend erlebt – empfunden wurden. In bSanhedrin 99b wird beispielsweise Manasse ben Hiskija gerügt, der fragt, ob Moses nicht Besseres zu schreiben gehabt hätte als die Bemerkung „Die Schwester Lotans ist Timna“ (in Gen 36,22) und „Timna war die Nebenfrau des Esau“ (in Gen 36,12) oder „Einst ging Ruben zur Zeit der Weizenernte weg und fand auf dem Feld Alraunen“ (in Gen 30,14).

In jedem Fall ist Polysemie ein Phänomen, das innerhalb der rabbinischen Tradition eine wichtige Rolle spielt, zeitlich und örtlich unterschiedlich wichtig ist und gleichzeitig nicht den Blick verstellen darf auf die GrenzenGrenzen, die sich von Zeit zu Zeit verschieben |72|mögen, grundsätzlich aber nicht zu leugnen sind. Entscheidend bleibt, dass Polysemie nicht mit einer allgemeinen Meinungsfreiheit zu verwechseln ist. Sie findet im Rahmen der abgegrenzten Gruppe der Rabbinen statt, also einer Binnenwelt. Zurecht wurde in der Forschung vielfach bemerkt, dass und wie die rabbinische Bewegung als Gruppe von Männern für Männer (die Welt be-)schreibt. Die weibliche Stimme im Chor der Polysemie kann daher nur indirekt erschlossen werden. Weibliche Figuren, die im Rahmen der rabbinischen Gelehrtenwelt eine Rolle spielen – u.a. Berurja, Tabita, Jalta, die Frau Aqivas etc. – sind über die Erzählungen der Männer präsent und erhalten heute nicht selten über neue Midraschim (siehe dazu unter XIV), aber auch durch kritische Textanalysen (vgl. etwa Baskin, Midrashic Women; Kosman, Gender; Hartman/Buckholtz, Man of God) Profil.