Midrasch

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Aus der Reihe: Jüdische Studien
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|51|4. Die Autorität der Rabbinen als Ausleger und die Macht des Midrasch

„[Aus Rubinen mache ich deine Zinnen,] aus Beryll deine Tore (und alle deine Mauern aus kostbaren Steinen)“ (Jes 54,12) – entspricht dem, was R. Jochanan (auslegte), als er saß und erklärte: Der Heilige, gepriesen sei er, wird in Zukunft 30x30 (Ellen) große Edelsteine und Perlen hervorbringen und wird aus ihnen 10x20 [Ellen] (Öffnungen) schneiden und sie an die Tore Jerusalems setzen. Ein bestimmter Schüler verspottete ihn: Solche (Steine) in der Größe eines Taubeneis findet man nicht; gibt es denn welche in dieser Größe zu finden? Nach einiger Zeit segelte sein Schiff im Meer. Er sah die Dienstengel, die saßen und Edelsteine und Perlen sägten, die dreißig (Ellen) maßen, und auf denen (eine Öffnung von) 10x20 in der Höhe eingeschnitten war. Er fragte sie: Für wen sind diese? Sie sagten ihm: Der Heilige, gepriesen sei er, wird sie in den Toren Jerusalems aufstellen. Er kam vor Rabbi Jochanan und sagte zu ihm: Lege aus, Rabbi! Dir geziemt es auszulegen. Wie du gesagt hast, habe ich gesehen. Dieser antwortete ihm: Bösewicht! Hättest du nicht gesehen, hättest du nicht geglaubt! Du bist einer, der über die Worte der Weisen spottet. Er richtete seine Augen auf ihn und dieser wurde zu einem Knochenhaufen.

(bBava Batra 75a mit Parallele in bSanhedrin 100a und vor allem PesK 18.5, vgl. Stemberger, Münchhausen. In: JM II, S. 313).

Diese eindringliche Stelle aus einer längeren Passage über fantastische Reiseberichte im babylonischen Talmud erhellt wie kaum eine andere die Bedeutung der Rabbinen und die Frage nach den Quellen der ErkenntnisQuellen der Erkenntnis.

Der Student ist frech und skeptisch, untergräbt die Autorität des Lehrers und braucht visuelle „Beweise“, um zu glauben, was die Gelehrten allein durch ihre exegetische Arbeit erläutern. Der Tod durch das richtende Auge entspricht der Unfähigkeit, die „Wahrheit“ allein aus dem Text abzuleiten (vgl. Dina Stein, Textual Mirrors, Chapter 3). Erkenntnis außerhalb des Midrasch zu erlangen ist unnötig, ja sogar gefährlich. Der ungläubige Schüler bestreitet nicht nur die Erkenntnis seines Lehrers, sondern auch die Macht der Schrift, die dem Kundigen die Einsicht in die Zusammenhänge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gewährt.

In der in mehreren Varianten erzählten Gründungslegende der rabbinischen Bewegung wird davon berichtet, dass Jochanan ben Zakkai sich als Leiche aus dem von römischen Truppen eingekesselten Jerusalem zum Feldherrn Vespasian bringen lässt. In der bekanntesten Version in bGittin 56bbGittin 56b begrüßt Jochanan Vespasian als König, worauf dieser ihm antwortet, dass der Rabbi sein Leben verwirkt habe, da Vespasian kein König sei. Jochanan entgegnet ihm:

|52|In Wahrheit bist du ein König, denn wenn du kein König wärst, wäre Jerusalem nicht in deine Hand überliefert, wie es heißt: „Der Libanon fällt durch die Hand eines Mächtigen“ (Jes 10,34). „Eines Mächtigen“ bezeichnet nur einen König, wie es heißt: „Sein Mächtiger wird ihm selbst entstammen, [sein Herrscher] aus seiner Mitte hervorgehen“ (Jer 30,21); und der Libanon bezieht sich auf das Heiligtum, wie es heißt: „[Lass mich das prächtige Land jenseits des Jordan sehen], diesen prächtigen Berg (ha-har ha-tov) und den Libanon!“ (Dtn 3,25).

Wenig später überbringt ein Bote die Botschaft, dass Nero gestorben und Vespasian zum Kaiser akklamiert worden sei. Jochanan aber hat sein Wissen nicht aus einer sinnlich erfahrbaren oder durch Nachrichten übermittelten Quelle, sondern ausschließlich als Ergebnis seiner Beschäftigung mit der Schrift erworben. Die Schriftauslegung befähigt ihn, dem Kaiser selbstbewusst entgegenzutreten und die „richtige“ Anrede zu wählen. In der Folge gibt Jochanan noch zweimal Erklärungen aus der Bibel. Als nämlich Vespasians Fuß anschwillt und er nicht in die Stiefel steigen kann, zitiert er Spr 15,30 („[Strahlende Augen erfreuen das Herz], frohe Kunde macht den Knochen dick“) und schließlich als „Heilung“ Spr 17,22 („ein bedrücktes Gemüt lässt die Glieder verdorren“), wobei er Vespasian den Rat gibt, eine ihm unliebsame Person an ihm vorbeigehen zu lassen. Als Dank für seine (wirksame) Weisheit erhält Jochanan u.a. die Möglichkeit, mit seinen Getreuen in Javne einen Ort für die Lehre einzurichten. Diese Gründungslegende Javnes zeigt nachdrücklich die Macht des MidraschMacht des Midrasch. Er ist jeder anderen Erkenntnisquelle überlegen und geht ihr voraus. Die Auslegung der Schrift hat eben keinesfalls nur „wissenschaftlichen“ Wert, sie bietet selbst in den einfachen Lebensfragen – etwa dem Anschwellen eines Beines – wirkmächtige Antworten. Und sie überzeugt sogar einen römischen Kaiser, der gerade dabei ist, Jerusalem zu belagern. Während Nero in bGittin 56a – also wenig vorher im Text – zum Judentum konvertiert (wobei im Übrigen die Auslegung von Ez 25,14 eine wichtige Rolle spielt), gibt Vespasian den Weg frei für die Zukunft des Judentums aus den Quellen der Bibel und der Kraft des Midrasch.

Midrasch steht als Entscheidendes identitätsstiftendes Erkenntnismediumentscheidendes identitätsstiftendes Erkenntnismedium den anderen Möglichkeiten der Erkenntnis oder Selbstbestimmung gegenüber. Im MidMish 1.1 beispielsweise schützt die Kraft des Midrasch im Kontext der Rätselfragen der Königin von Saba vor der gefährlichen Macht des/der Fremden. Fragen werden mithilfe des Rückgriffs auf die Schrift beantwortet, im Ausfüllen der gaps in der biblischen Erzählung. Die Rätsel selbst werden in die Form des Midrasch integriert. Damit wird jegliche andere Diskursform unterminiert.

|53|Die Diskrepanz zwischen Anschauung und Auslegung wird beispielsweise auch in PesK 11 thematisiert. Hier legt R. Jochanan aus, dass die Wasser am Schilfmeer, die wie eine Wand für Israel standen, wie ein Gitter ausgesehen hätten. Dagegen wehrt sich Serach bat Ascher mit dem Hinweis, sie sei dabei gewesen und habe es wie ein durchscheinendes Fenster erblickt. Der Umstand, dass Serach noch lebt, um die Geschichte zu erzählen, ist natürlich ver-wunder-lich. Dina Stein vergleicht diese Herausforderung midraschischer Epistemologie mit der schon erwähnten Erzählung in bMenachot 29b, in der Moses im himmlischen Lehrhaus der Auslegung R. Aqivas lauscht und sie nicht versteht, obwohl sie sich auf ihn selbst zurückführt. In diesen Erzählungen geht es um eine Reflexion über Autorität und Hegemonie, die von den Rabbinen und der Epistemologie des Midrasch im Besonderen ausgeht. Sie wird mehrfach hinterfragt. Midrasch ist eine selbst-reflektierende Praxis. Die Macht des Midrasch ist mit der Macht der AuslegerMacht der Ausleger selbst eng verwoben. In SifDev § 49 zu Dtn 11,22 heißt es:

„[Wenn ihr auf dieses ganze Gebot, auf das ich euch heute verpflichte, genau achtet und es haltet, wenn ihr JHWH, euren Gott, liebt, auf allen seinen Wegen geht] und euch an ihm festhaltet“ (Dtn 11,22): Wie ist es einem Menschen möglich, aufzusteigen zum Höchsten und sich am Feuer festzuhalten? Heißt es nicht: „Denn JHWH, dein Gott, ist ein verzehrendes Feuer“? (Dtn 4,24). Und es heißt: „Feuerflammen waren sein Thron“ (Dan 7,9). Haltet euch vielmehr an den Gelehrten und ihren Studierenden fest und ich will es euch anrechnen, als wäret ihr zum Himmel aufgestiegen und hättet dort (die Tora) empfangen, und nicht nur das, sondern als wäret ihr aufgestiegen und hättet sie nicht in Frieden empfangen, sondern nach einem Krieg, um sie zu erringen, wie es heißt: „Du zogst hinauf zur Höhe, führtest Gefangene mit“ (Ps 68,19).

Der Ausleger der Tora ist der Mittler zu GottDer Ausleger der Tora ist der Mittler zu Gott. Eine Alternative gibt es nicht (oder besser: sollte es nicht geben). Der direkte Weg, beispielsweise der mystische Aufstieg oder auch die Privatoffenbarung, wird, wenn nicht gänzlich abgelehnt, so doch in deutliche Schranken verwiesen.

Die Tora ist symbolisch aufgeladen und wird gern mit Wasser verglichen. Der Ausleger muss darin schwimmen:

Wie bei Wasser, wenn jemand nicht schwimmen kann, er ertrinken wird, so ist es mit den Worten der Tora. Wenn jemand nicht versteht, seinen Weg in ihr zu gehen und in Übereinstimmung mit ihr zu lehren, wird er am Ende verschluckt. (ShirR 1.2.8)

Häufig findet sich der Vergleich mit Feuer, das den Ausleger verzehren kann (SifDev § 343). Die vor allem im Mittelalter stark mit Bedeutung aufgefüllte Rede von der Schrift als schwarzes Feuer auf weißem Feuer (jScheqalim 6,1,25b; jSota 8,3,37a; Tan zu Gen 1,1 |54|u.ö.) impliziert spezialisierte kundige Ausleger der verborgenen (weißen) Elemente. Besonders eindrücklich schildert in diesem Zusammenhang der mittelalterliche Midrasch Aseret ha-Dibrot gleich zu Beginn die Weltschöpfung mithilfe der Tora, wobei Gott sich in Ermangelung von vorhandenem Pergament den Text mit schwarzem auf weißem Feuer auf seinen Arm „tätowiert“.

Auch Erneuerung und Ausgestaltung der Halacha, also der Lebensordnung des Alltags, bleibt mehr und mehr den Auslegern vorbehalten und der prophetischen Einführung entzogen (vgl. bMegilla 2b/3a, bJoma 80a, bTemura 16a, Sifra Bechuqqotai 13, Weiss 115d zu Lev 27). Die Prophetie als OffenbarungsquelleProphetie als Offenbarungsquelle verschwindet in der rabbinischen Tradition nicht, aber sie tritt massiv in den Hintergrund. Die Himmelsstimme (Bat Qol) lässt sich des Öfteren als eine Art Nachhall zur Prophetie hören, aber sie ist nicht präsent, wo es um die großen Fragen der religiös-ethischen Regeln und Normen geht. Die oft zitierte Erzählung von der Bannung R. Eliezers erläutert dies besonders drastisch. Eliezer stellt sich in einer bestimmten halachischen Frage gegen seine Kollegen und beruft sich auf die durch himmlische Zeichen legitimierte Richtigkeit, also auf einen „direkten Draht“.

 

Man hat gelehrt: An diesem Tag äußerte R. Eliezer alle Einwendungen, die es auf der Welt gibt, und man nahm sie von ihm nicht an. Er sagte zu ihnen: Wenn die Halacha meiner Position entspricht, so möge dies jener Johannisbrotbaum erweisen! Da entwurzelte sich der Johannisbrotbaum (und bewegte sich) 100 Ellen von seinem Platz fort. Manche sagen: 400 Ellen. Sie sagten zu ihm: Man entnimmt keinen Beweis von einem Johannisbrotbaum! Er redete erneut zu ihnen: Wenn die Halacha meiner Position entspricht, so möge dies der Wasserkanal erweisen! Da floss der Wasserkanal rückwärts. Sie sagten zu ihm: Man entnimmt keinen Beweis von einem Wasserkanal! Er redete erneut zu ihnen: Wenn die Halacha meiner Position entspricht, so mögen dies die Wände des Lehrhauses erweisen! Da neigten sich die Wände des Lehrhauses, um einzustürzen. Da herrschte sie R. Jehoschua an, und er sagte zu ihnen: Wenn die Gelehrten sich gegenseitig in der Halacha besiegen, was kümmert es euch?! Da fielen sie nicht um wegen der Ehre des R. Jehoschua und stellten sich auch nicht auf wegen der Ehre des R. Eliezer und stehen bis jetzt geneigt. Er redete erneut zu ihnen: Wenn die Halacha meiner Position entspricht, so möge sich dies aus dem Himmel erweisen! Da erklang eine Bat Qol (Himmelsstimme) und sagte: Was habt ihr gegen R. Eliezer? Die Halacha ist wie er in jedem Fall. Da stellte sich R. Jehoschua auf seine Füße und sagte: „Sie ist nicht im Himmel!“ (Dtn 30,12). Warum (heißt es): „Sie ist nicht im Himmel“? Es sagte R. Jeremja, dass die Tora schon am Sinai gegeben wurde. Wir achten nicht auf die Bat Qol, denn du hast schon geschrieben am Berg Sinai in die Tora: „Nach der Mehrheit (ist) zu entscheiden“ (Ex 23,2). Es traf R. Natan Elija. Er fragte ihn: Was tat der Heilige, gepriesen sei er, in dieser Stunde? Er sagte ihm: Er lächelte und sagte: Meine Kinder haben mich besiegt, meine Kinder haben mich besiegt! (bBava Metzia 59bbBava Metzia 59b; vgl. jMoʿed Qatan 3,1,81cd)

|55|Eliezer ist hier mehr als ein konservativer Eigenbrötler, als der er gelegentlich in den rabbinischen Schriften erscheint, er stellt den Typus des Propheten dar, der durch Zeichen und Wunder seine eigene Autorität unter Beweis stellt. Seine Kollegen repräsentieren die andere Seite der Offenbarungsvermittlung – durch im Lehrhaus ermittelte Mehrheitsentscheidung. Die Wunder können eintreffen, selbst Gott kann auf Seiten des Propheten sein, sein Anspruch auf Offenbarungsvermittlung ist mit der Gabe der Tora am Sinai praktisch verwirkt. Auch der große Prophet Elija, ein häufiger Gast in rabbinischen Erzählungen, kann nur die lächelnde Zustimmung Gottes zur „Machtübernahme“ durch die Rabbinen bekunden.

Neben der Prophetie bieten die mystischen Spekulationen alternative Möglichkeiten, Offenbarung „hautnah“ zu erleben. Auch hierauf reagieren die Rabbinen mehr als nur vorsichtig. Auf der einen Seite stehen sie ihnen sehr skeptisch gegenüber, auf der anderen Seite vereinnahmen sie den richtigen Umgang mit der MystikMystik für sich. So werden die Spekulationen um die himmlischen Thronhallen (Hechalot) und den Thronwagen (Merkava) zu geheimnisumwitterten Lehren, die man versucht, rabbinisch zu kontrollieren. In WaR 16.4 heißt es:

Ben Azzai saß und legte aus (haja joschev we-doresch) und Feuer entflammte rund um ihn. [(Seine Schüler) gingen und sagten zu R. Aqiva: Ben Azzai sitzt und legt aus und Feuer ist rund um ihn entflammt.] Er ging zu ihm und sagte: Beschäftigst du dich mit den Geheimnissen der Merkava (Thronwagenmystik)? Er antwortete ihm: „Nein! Vielmehr verknüpfe ich die Worte der Tora mit den Propheten und die Worte der Propheten mit den Schriften, und die Worte der Tora jubeln wie am Tag(, als sie) vom Sinai (gegeben wurden) – und ist es nicht wesenhaft, dass sie, als sie vom Sinai gegeben wurden, durch Feuer gegeben wurden?, wie es heißt: „Und der Berg brannte im Feuer bis zum Herzen des Himmels“ (Dtn 4,11).

Das Feuer der Offenbarung vom Sinai kommt hier betont – obwohl so „befürchtet“ – nicht durch die mystische Spekulation auf den Schüler, sondern nachdem er – modern formuliert – intertextuelle Exegese betrieben hat. Damit markieren die Rabbinen ihr Territorium. Denn Wissen bedeutet Macht. Die Weitergabe der richtigen Lehre und der besonderen Gotteserkenntnis ist daher auch ein exklusives Gut, das man in der Gruppe zu halten versucht. In BerR 3.4 mit Parallelen in WaR 31.7 oder MidTeh 104.4 beantwortet R. Schmuel b. Nachman eine Anfrage des Schimon b. R. Jechozadaq, woher das Licht erschaffen wurde, als Haggadalehrer mit Flüstern:

Er hat gesagt: Der Heilige, gepriesen sei er, hat sich darin eingehüllt wie in einen Mantel, und der Glanz der Hoheit strahlte von einem Ende der Welt bis zum anderen Ende. Er hat zu ihm mit Flüstern (lechischa) gesprochen. |56|Daraufhin hat ihm (Schimon) geantwortet: Ein voller Schriftvers ist es: „Du hüllst dich in Licht wie in ein Kleid“ etc. (Ps 104,2) – und du sprichst mit Flüstern? Er antwortete ihm: Wie ich es mit Flüstern gehört habe, so sage ich es dir mit Flüstern.

Das Flüstern ist Teil des Geheimnisses, der besonderen Vorsicht um seine Weitergabe. Auch wenn die Botschaft nichts anderes vermittelt als etwas, das jeder aus der Bibel erfahren könnte, enthält es durch die spezifische Situation der Weitergabe im Kontext der rabbinischen Haggadagruppe eine besondere Bedeutung.

Der innerste Kreis der Offenbarungsvermittler sind die Gelehrten. Zu ihren Schülern gehören, also Den Weisen dienenden Weisen dienen, ist die größte Ehre, die Ansehen und Freude über den Tod hinaus garantiert. SER 7.17 (Friedmann 37) formuliert es so:

Hat jemand (Bibel) gelesen und nicht Mischna studiert, steht er noch draußen. Hat einer Mischna studiert, aber nicht (Bibel) gelesen, steht er noch draußen. Hat jemand (Bibel) gelesen und Mischna studiert und nicht den Weisen gedient, gleicht er einem, vor dem [die Worte] der Tora verborgen sind, da es heißt: „Nach meiner Umkehr fühle ich Reue“ (Jer 31,19). Doch hat jemand Tora, Propheten und Schriften gelesen und Mischna, Midrasch und Halachot und Aggadot studiert und den Weisen gedient, der mag dafür sogar sterben oder getötet werden, so ist er doch in Freude auf ewig. Daher heißt es: „Daher lieben sie dich auf ewig“ (Hld 1,3). (Übersetzung Stemberger, Schaff dir einen Lehrer. In: JM II, S. 369)

5. „Textzentrierte“ und „angewandte“ Auslegung und eine Hermeneutik der Anknüpfungen

Eine logische Schlussfolgerung des bisher Gesagten ist, dass im biblischen Text entdeckte Fragen beantwortet werden sollen, Unklarheiten aufgeklärt, Spannungen gelöst. Dazu verwenden die Rabbinen die hermeneutischen Regeln, stellen intertextuelle Bezüge zu anderen – aus unterschiedlichsten Gründen vergleichbaren – Bibelstellen her, benützen Gleichnisse oder Beispielerzählungen etc. Gerade die so genannten gaps, also die Leerstellen und offenen Fragen innerhalb des Textes ermöglichen es zudem, wichtige Botschaften zu transportieren, die in der Form der Auslegung des Bibeltextes erscheinen, über bloße „Exegese“ aber weit hinausgehen. Isaak Heinemanns in Bezug auf die Haggada geprägte Begriffe der „schöpferischen Philologie“ bzw. der „schöpferischen Geschichtsschreibung“ (Darche ha-Aggada) haben hier ihre tiefe Berechtigung. „Schöpferisch“ trifft insofern zu, als es sich bei den Auslegungen der Rabbinen tatsächlich um Kreationen von Zusammenhängen mit dem Ziel handelt, diese für die eigene Lebenswelt anwendbar zu machen.

|57|Eine Unterscheidung zwischen „reiner“ und „angewandter“ ExegeseUnterscheidung zwischen „reiner“ und „angewandter“ Exegese, wie sie etwa Geza Vermes (Bible and Midrash) vorschlägt, hat mit Einschränkungen Berechtigung. Er verwendet den Begriff „reine Exegese“ („pure exegesis“) in Bezug auf jene Texte, die ihren Anknüpfungspunkt in einem Problem im Text haben, während „angewandte Exegese“ („applied exegesis“) dann zu verwenden sei, wenn der Ausgangspunkt der Argumentation außerhalb des Textes liegt, wenn also der Text durch eine Thematik oder einen Aspekt angereichert wird, der aus der Welt der Ausleger stammt. Es ist fraglich, ob eine solche strikte Trennung möglich ist, da beide Aspekte sich verbinden. Man entdeckt schließlich jene Probleme im Text, die in der eigenen Welt von Bedeutung sind, und lässt sich umgekehrt von der Textwelt selbst massiv beeinflussen. Die Welt der Ausleger und die Welt der Bibel stehen in einem beständigen Dialog. Dennoch ergibt es Sinn, im Rahmen der Analyse von rabbinischen Midraschtexten mit aller Vorsicht die Unterscheidung zwischen einer stark textbezogenen und einer von textexternen Fragen dominierten Auslegung zu treffen und dabei die Übergänge, Grauzonen und Zwischentöne zu beachten. Auf diese Weise kann eruiert werden, welche Werthaltungen, Vorstellungen, auch Ideologien sich über die rabbinische Auslegung vermitteln, welche Fragen an den Text gestellt werden und welche man – von außen betrachtet – vermisst.

Hierzu sind einige wichtige Beobachtungen zu machen. Die rabbinische Hermeneutik ist eine „Hermeneutik der Anknüpfungen“. Damit ist gemeint, dass die Rabbinen ihre Auslegungen zu einem großen Teil auf der Basis von Assoziationen treffen, die sie aus dem intertextuellen Zusammenhang des Bibeltextes erschließen. Solche Assoziationen können sich aufgrund von Stichwörtern ergeben, sie können auf der Wortebene, der Satzebene, der Textebene bestehen, können sprachlich oder auch inhaltlich bestimmt sein. Des Öfteren setzen sie eine bereits vorhandene Assoziation(skette) bzw. einen von den Rabbinen geschaffenen Zusammenhang voraus. Macht man sich die Mühe, längere Abschnitte zu analysieren, wird die klare Strukturierung und Logik der Argumentation häufig deutlich, auch die Auswahl der Traditionsstoffe, was bei einem Blick auf kleine und begrenzte Textteile mitunter nicht möglich ist. Assoziation meint hier das Gegenteil von Willkür und Zufälligkeit, was nicht selten fälschlicherweise mit dem Begriff verbunden wird. Um diese Fehlinterpretation zu vermeiden, sei die Bezeichnung „Anknüpfung“ gewählt, in der das „Textgewebe“ als enger Verbund deutlich vor Augen tritt.

Hier seien einige wichtige Elemente an Beispielen erläutert.

|58|Die Bedeutung eines Wortes wird intertextuell erhelltDie Bedeutung eines Wortes wird intertextuell erhellt:

Die Identifikation des Ortes Morija, auf dem Abraham seinen Sohn opfern soll, mit dem Tempel wird in BerR 56.10 in Verbindung mit dem zentralen Stichwort „Sehen“ aus Gen 22,14 erläutert und mit anderen Texten mit „Sehen“ (mit Rückblick auf die Zerstörung und hoffnungsvollem Ausblick) verknüpft:

Siehe: Gebaut, wie es heißt: „Dreimal im Jahr lasse sich sehen (jerae)“ (Dtn 16,16). „Wie man noch heute den Berg nennt: [JHWH lässt sich sehen (jerae)]“ (Gen 22,14). Siehe: Niedergerissen, wie es heißt: „über den Zionsberg, der verwüstet liegt“ (Klgl 5,18). „JHWH wird ersehen (jire)“ (Gen 22,14). Gebaut und vollkommen, wie es heißt: „Denn JHWH baut Zion wieder auf und erscheint (nira) in all seiner Herrlichkeit“ (Ps 102,17).

Die Identifikation von Morija mit (dem Tempel in) Jerusalem ist bereits in 2 Chr 3,1 gegeben und liegt mit großer Wahrscheinlichkeit den Autoren von Gen 22 bereits vor. Die Rabbinen setzen diese Beziehung zu Jerusalem voraus, wenn in BerR 56.10 die Erzählung in Gen 14 mit der in Gen 22 verknüpft wird:

Abraham nannte ihn „Er sieht“ (jire): „Und Abraham nannte den Ort JHWH sieht“ (Gen 22,14). Schem nannte ihn Salem: „Und Melchisedek war König von Salem“ (Gen 14,18). Der Heilige sprach: Wenn ich ihn jire nenne, wie Abraham ihn nannte, so wird sich Schem, der Gerechte, darüber beschweren; nenne ich ihn dagegen „Salem“, so wird wieder Abraham, der Gerechte, sich darüber beschweren. Ich nenne ihn mit dem Namen, mit dem beide ihn nannten: „Jerusalem“, jire schalem. R. Berechja sagte im Namen des R. Chelbo: Als er noch Salem hieß, baute dir der Heilige eine Hütte und betete in ihr, wie es heißt: „Sein Zelt erstand in Salem, seine Wohnung auf dem Zion“ (Ps 76,3). Und was sagt er darin? Möge es doch sein, dass sich mein Haus in vollendetem Zustand zeigen werde. Eine andere Auslegung: Das lehrt, dass der Heilige, gepriesen sei er, ihm (in einer Vision) das Heiligtum gebaut, niedergerissen und gebaut gezeigt hatte.

In diesen Kontext der intertextuellen Auslegung gehören zahlreiche Beispiele, in denen ein Text aufgrund seiner Begrifflichkeit mit anderen Texten in Verbindung gesetzt wird, die auf den ersten Blick nichts mit ihm zu tun haben. In BerR 56.1 führt das Stichwort „am dritten Tag“ dazu, dass verschiedene biblische Belege miteinander in Beziehung gesetzt werden, in denen ebenfalls vom „dritten Tag“ die Rede ist. Dadurch entsteht ein neuer, von den Rabbinen gestifteter Zusammenhang mit dem Geschehen um Abraham und Isaak, in dem nicht zuletzt die Bezüge zum Sinai, die Geschichte Israels, aber auch die eschatologische Dimension des Isaakopfers anklingen bzw. verbunden werden:

 

„Nach zwei Tagen gibt er uns das Leben zurück; [am dritten Tag richtet er uns wieder auf]“ (Hos 6,2). Am dritten Tag der Stämme: „Am dritten Tag sagte Josef zu ihnen: [Tut folgendes, und ihr werdet am Leben bleiben, |59|denn ich fürchte Gott]“ (Gen 42,18). Am dritten Tag der Gabe der Tora: „Am dritten Tag, im Morgengrauen, [begann es zu donnern und zu blitzen. Schwere Wolken lagen über dem Berg, und gewaltiger Hörnerschall erklang. Das ganze Volk im Lager begann zu zittern]“ (Ex 19,16). Am dritten Tag [der Kundschafter]: „[Sie riet ihnen: Geht ins Gebirge, damit die Verfolger euch nicht finden;] dort haltet euch drei Tage lang verborgen, [bis die Verfolger zurückgekehrt sind; dann könnt ihr eures Weges gehen]“ (Jos 2,16). Am dritten Tag der Heimkehrer aus dem Exil: „[Ich ließ alle an dem Fluss zusammenkommen, der an Ahava vorbeifließt.] Dort blieben wir drei Tage“ (Esr 8,15). Am dritten Tag des Jona: „Jona war drei Tage [und drei Nächte] im Bauch des Fisches“ (Jona 2,1). Der Auferstehung der Toten: „Nach zwei Tagen gibt er uns das Leben zurück, [am dritten Tag richtet er uns wieder auf, und wir leben vor seinem Angesicht]“ (Hos 6,2). Am dritten Tag der Ester: „[Am dritten Tag] legte Ester ihre königlichen Gewänder an“ (Est 5,1). Aus Verdienst ihres Vaterhauses. R. Levi und die Rabbanan: R. Levi sagte: Aus Verdienst des dritten Tages Abrahams: „Segnen sollen sich mit deinen Nachkommen alle Völker der Erde, weil Abraham auf meine Stimme gehört hat“ (Gen 22,18, abweichend vom Bibeltext). Die Rabbanan sagten: Aus Verdienst der Gabe der Tora.

Die Verweise auf den Sinai oder das Schicksal Israels sind bereits den Autoren von Gen 22 wichtig. Sie werden also nicht erst von den Rabbinen in den Text eingetragen. Gleichwohl bereichern die Rabbinen (und einige Auslegungen vorher) den Text um weitere Aspekte wie die Errettung aus dem Tod oder die Folgen der messianischen Erlösung.

Die Doppelbedeutung von BegriffenDoppelbedeutung von Begriffen wird ausgelegt:

In BerR 55.4 knüpft man an „nach diesen devarim“ in Gen 22,1 an. devarim kann sowohl „Ereignisse“ als auch „Worte“ bedeuten. Versteht man es als „Worte“, so kann man fragen, auf welche Worte hier Bezug genommen wird. Daraus entsteht eine Selbstreflexion, die Schlussfolgerungen aus der bereits bekannten Geschichte Abrahams zieht:

Nach was für Worten? Nach den Betrachtungen, welche Abraham dort angestellt hatte. Er sprach nämlich: Ich war erfreut und habe auch alle andern erfreut und ich habe dem Heiligen, gepriesen sei er, keinen Stier und keinen Widder dargebracht. Da sprach der Heilige, gepriesen sei er, zu ihm: Unter der Bedingung, dass, wenn dir gesagt wird: Bringe mir deinen Sohn dar!, du dich nicht entziehst.

Die Beobachtung, dass Abraham noch nicht auf diese Weise geopfert hat, ist durchaus aus dem Bibeltext ableitbar. Die Reflexion stellt den Kontext zum Opfer her, der sich in Bezug auf Isaak nahe legt, aber vor allem dann Bedeutung bekommt, wenn der Ort Morija als Tempelberg und Ort der Opfer bereits im Hintergrund steht.

|60|Die doppelte Bedeutung eines Wortes kann auch Gott als Entlastung dienen, wie in dem Fall aus BerR 56.8, wo der Begriff ala (im Hifil haʿalot) im Mittelpunkt steht, der sowohl „hinaufbringen“ als auch „als Opfer (ola) darbringen“ bedeuten kann:

Abraham! „Meinen Bund werde ich nicht entweihen“ etc. (Ps 89,35). In der Stunde, in der ich dir sage: „Nimm [deinen Sohn]“ (Gen 22,2), „was meine Lippen gesprochen haben, will ich nicht ändern“ (Ps 89,35). Habe ich so zu dir gesagt: „Schlachte ihn“? Nein: „Bringe ihn hinauf (wehaʿalehu)“ (Gen 22,2). Jetzt bringe ihn hinunter.

Gott wendet sich hier gegen den Vorwurf, seine eigene Bundeszusage (Gen 17,21; 21,12) in Frage gestellt zu haben. Die Mehrdeutigkeit der Schrift ermöglicht die Lösung des Konfliktes zwischen der Verheißung der dauerhaften und generationenübergreifenden Zuwendung Gottes und dem radikal drohenden Abbruch dieser Zuwendung durch das Opfer Isaaks. Erst aus dem größeren Kontext der Schrift wird der Konflikt überhaupt bewusst.

In der Auslegung von Gen 22,13 in BerR 56.9 wird die Doppelbedeutung von achar als „hinten“ und „danach“ wichtig:

„Als Abraham aufschaute, sah er: Ein Widder hatte sich hinter [ihm mit seinen Hörnern im Gebüsch verfangen]“ (Gen 22,13) – was bedeutet „hinter“ (achar)?

Es sagte R. Judan: Nach (achar) allen diesen Ereignissen wird Israel in Verfehlungen verfangen und verstrickt sich in Problemen. Und am Ende wird es erlöst durch die Hörner des Widders, wie es heißt: „[JHWH selbst wird über ihnen erscheinen (jerae). Wie der Blitz schießt sein Pfeil dahin.] Gott, JHWH, bläst ins Schofar, [er kommt in den Stürmen des Südens]. JHWH Tzevaot beschirmt die Seinen“ (Sach 9,14–15).

In der Auslegung zur Aufzählung der unreinen Tiere in Lev 11 in WaR 13 wird das Kamel mit Babylon identifiziert:

„Das Kamel (gamal)“ – das ist Babylon, wie es heißt: „Wohl dem, der dir vergilt, was du uns aufgeladen hast (aschre sche-jeschallem lach et gemulech sche-gamalt lanu)“ (Ps 137,8).

Hinter dem Kamel, dem Aufladen und dem Vergelten steckt im Hebräischen dasselbe Wort, gamal, wodurch der Psalmtext als Belegvers fungieren kann, der das Leiden der Israeliten im babylonischen Exil betrauert.

Die Bedeutung eines Begriffes diskutiertBedeutung eines Begriffes kann auf mehrfache Weise aufgelöst werden:

Die Bedeutung des Begriffes und die Identifizierung des Ortes Morija in Gen 22 wird zum einen durch sprachliche Anklänge – zu den hebräischen Worten für Belehrung, Gottesfurcht, Sehen, Herrschaft |61|oder Myrrhe – bestimmt, zum anderen durch eine bereits existierende Bezugnahme auf den Jerusalemer Tempel. In BerR 55.7 wird daher die Auslegung von Morija mit der zur Bundeslade (aron) und dem Allerheiligsten (devir) eng verwoben:

(In Bezug auf Morija gibt es unterschiedliche Erklärungen:) R. Chijja der Große und R. Jannai: Einer sagt: Zu dem Ort, von dem Belehrung in die Welt hinausgeht (horaja), und der andere sagt: Zu dem Ort, von dem Furcht (jira) in die Welt hinausgeht.

(In Bezug auf die) Bundeslade (aron) (gibt es unterschiedliche Erklärungen): R. Chijja der Große und R. Jannai: Einer sagt: Zu dem Ort, von dem Licht (ora) in die Welt hinausgeht etc. Und der andere sagt: Zu dem Ort, von dem Gottesfurcht in die Welt hinausgeht.

(In Bezug auf das) Allerheiligste (devir) (gibt es unterschiedliche Erklärungen): R. Chijja der Große und R. Jannai: Einer sagt: Zu dem Ort, von dem die [göttliche] Anrede (ha-dibber) in die Welt hinausgeht. Und der andere sagt: Zu dem Ort, von dem die Seuche (ha-dever) in die Welt hinausgeht. Jehoschua b. Levi sagte: Denn von dort aus ist der Heilige, gepriesen sei er, der Völker überdrüssig und führt sie hinab (moridam) ins Gehinnom.

(In Bezug auf Morija gibt es unterschiedliche Erklärungen:) R. Schimon b. Jochai sagte: Zu dem Ort, der würdig ist (raui), gegenüber dem himmlischen Tempel zu liegen. R. Judan b. Philaja sagte: Zu dem Ort, den JHWH dir zeigt (mare). R. Pinchas sagte: Zu dem Ort, der die Herrschaft (maruta) der Welt ist. Die Rabbanan sagten: Zu dem Ort, wo man Weihrauch opfert, wie es heißt: „Wenn der Tag verweht und die Schatten wachsen, will ich zum Myrrhenberg (har hamor) gehen etc.“ (Hld 4,6).