Midrasch

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Aus der Reihe: Jüdische Studien
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2. Offenbarung, Mündlichkeit und Schriftlichkeit

Die Offenbarung der Tora geschah nach rabbinischer Ansicht entweder (hauptsächlich) in direkter Gottesbegegnung mit dem Volk oder (wesentlich seltener) – so vor allem in späterer Entwicklung – über den Mittler Moses (vgl. Stemberger, Mose).

In der MekhJ Bachodesch 9 heißt es:

„Und das ganze Volk sah die Stimmen (und die Blitze)“ (Ex 20,18). Sie sahen das Sichtbare und hörten das Hörbare – Worte des Rabbi Jischmael. Rabbi Aqiva sagt: Sie sahen und hörten das Sichtbare. Sie sahen das feurige Wort, wie es aus dem Mund des Allmächtigen kam und sich auf den Tafeln einschlug. Es heißt ja: „Die Stimme JHWHs schlägt feurige Flammen aus“ (Ps 29,7).

|41|„Und das ganze Volk sah die Stimmen“: Stimme, Stimmen über Stimmen; Blitz, Blitze über Blitze. Wie viele Stimmen und wie viele Blitze waren es denn? Vielmehr ließen sie jeden einzelnen nach seiner Fassungskraft hören. Es heißt ja: „die Stimme JHWHs in Kraft, [die Stimme JHWHs voll Majestät]“ (Ps 29,4).

Rabbi sagt: Das soll das Lob der Israeliten verkünden. Denn als sie alle vor dem Berg Sinai standen, um die Tora zu empfangen, da hörten sie das Gotteswort und wussten es zu deuten (mefarschim oto). Es heißt ja: „Er umfasst es, er versteht es, er hütet es wie seinen Augenstern“ (Dtn 32,10): Sobald das Wort ausging, wussten sie es zu deuten.

Das Volk Israel empfängt die OffenbarungDas Volk Israel empfängt die Offenbarung und unterscheidet sich von allen anderen Völkern darin, dass es das Wort Gottes nicht nur hört (und sieht), sondern versteht und dadurch interpretieren kann.

Dabei ist das Thema der mündlichen Überlieferung für die jüdische Tradition wesentlich. Was versteht man darunter? Einmal wird der Begriff sehr allgemein als Hinweis auf die Bedeutung der nichtschriftlichen Weitergabe von Tradition im Lehr- und Lernkontext verstanden, bei der Auswendiglernen und mündliche Diskussion eine große Rolle spielen. Dann kann damit eine Fülle an Meinungen, Lehren und halachischen Entscheidungen gemeint sein, die aus der Schrift mithilfe des Midrasch abgeleitet und weitergegeben werden.

Darüber hinaus gibt es die Vorstellung von einer von der Schrift getrennt zu betrachtenden Überlieferung, der Halacha an Moses vom SinaiHalacha an Moses vom Sinai. Das beweist etwa die bekannte Stelle in bMenachot 29b. Hier lauscht Moses im himmlischen Lehrhaus der komplexen Bibelauslegung des R. Aqiva, der er aber nicht folgen kann. Er beruhigt sich jedoch, als Aqiva bei einer bestimmten Sache von der „Halacha an Moses vom Sinai“ als Erkenntnisquelle spricht. In jPea 2,6,17a wird formuliert, dass „Schrift, Mischna, Halachot, Talmud, Toseftot, Haggadot und auch das, was ein kundiger Schüler in Zukunft einmal vor seinem Lehrer sagen wird, bereits am Sinai dem Moses gesagt wurde.“ In bBerachot 5a wird Ex 24,12 atomisiert und die einzelnen Begriffe werden auf Pentateuch, Mischna, Propheten, Schriften und Talmud bezogen, die alle Moses am Sinai erhielt.

Zu diesem Konzept hat z.B. David Weiss Halivni (Revelation, S. 54–74) wichtige Beobachtungen gemacht. Dementsprechend begegnet in der tannaitischen Periode die Rede von einer schriftunabhängigen Moseshalacha äußerst selten (vgl. SifDev § 351) und wird vor allem in den Meinungsäußerungen R. Aqivas in Frage gestellt. Vielmehr dienen mehrheitlich Schriftpassagen als Belege für eine EntscheidungSchriftpassagen als Belege für eine Entscheidung. Im folgenden Text ist Aqiva der Meinung, dass die eine Tora vom Sinai bereits alle Auslegung enthält:

|42|„Und die Torot“ (Lev 26,46): Das lehrt, dass Israel zwei Torot gegeben wurden, eine schriftlich und eine mündlich.

Es sagte (dagegen) R. Aqiva: Hatte denn Israel nur zwei Torot? Es wurden Israel doch viele Torot gegeben! (So heißt es doch:) „Das ist die Tora des Ganzopfers“ (Lev 6,2); „das ist die Tora der Mincha“ (Lev 6,7); „das ist die Tora des Schuldopfers“ (Lev 7,1); „das ist die Tora des Heilsopfers“ (Lev 7,11); „Das ist die Tora, wenn ein Mensch in einem Zelt stirbt“ (Num 19,14). „Die JHWH zwischen sich und den Israeliten gegeben hat“ (Lev 26,46) – Moses verdiente es, zum Mittler zwischen Israel und seinem Vater im Himmel zu werden. „Auf dem Sinai durch die Hand des Moses“ (ebd.): Das lehrt, dass die Tora mit ihren Halachot, ihren Feinheiten und ihren Erklärungen durch Moses vom Sinai gegeben wurde. (Sifra Bechuqqotai 8.12, Weiss 112c)

Aqivas Position ist hier die einer im Grunde einzigen Tora, die in sich das Potenzial der Auslegung enthält. Auch SifDev § 313 drückt diese Meinung aus (oben schon zitiert), wonach die Israeliten am Sinai das Wort Gottes verstanden „und wussten, wieviel Midrasch in ihm ist, wieviel Halacha, wieviele Schlüsse vom Leichteren auf das Schwerere und wieviele Analogieschlüsse“.

Die eigenständige und vom Bibeltext unabhängige Überlieferung – vor allem von Halacha – ist in der frühen rabbinischen Ära präsent, man denke an viele Stellen der Mischna, die keine Ableitung aus der Schrift haben. Gleichwohl verstärkt sich das Bemühen – z.B. in den halachischen Midraschim –, diese Neuerungen in Einklang mit der Schrift zu deuten.

Weiss Halivni ortet eine Tendenz der Tannaiten, das gültige Recht weitgehend aus dem Text selbst abzuleiten.

Gegen Ende der talmudischen Periode und darüber hinaus änderte sich der rabbinische Standpunkt total, indem man nun existierendes Recht – sogar solches, das mit wohlbekannten exegetischen Erklärungen verbunden war – aus einem eigenen Corpus nichtschriftlicher Information ableitete, das explizit geoffenbart und gemeinsam mit den Schriften genauestens überliefert wurde – die Halacha an Moses vom Sinai. (Weiss Halivni, Revelation, S. 64)

Die Rede von der Halacha an Moses vom Sinai unterliegt tatsächlich im Laufe der Zeit einem Wandel und ist abhängig von der jeweiligen Quelle (vgl. dazu die umfassende Studie von Hayes, Halakhah le-Moshe). In Mischna, Tosefta und im Bavli ist diese Halacha an Moses als eigenständig gegenüber der Schrift zu denken. Im Bavli wird sie schließlich zur Demonstration der rabbinischen Autorität, die sich unabhängig von einer midraschischen Ableitung aus der Schrift als unveränderliche Lehre durchsetzt, während im palästinischen Talmud nicht immer klar zwischen Schrift und Halacha an Moses unterschieden wird.

Die mündliche Tora wird in jPea 2,4,17a als Basis des Bundes bezeichnet und ist wichtiger als die schriftliche Tora. Die Mischna |43|als Inbegriff mündlicher Tora wird als alleiniges Mysterium Israels Grundlage der Kindschaft Israels vor Gott (PesR 5.2–3). Hierin spiegelt sich die Auseinandersetzung mit dem ChristentumAuseinandersetzung mit dem Christentum, das z.B. in Form der Septuaginta den Bibeltext besitzt.

Die Mündlichkeit ist jedoch nicht nur ein ideologisches Motiv zur Abwehr von fremder Vereinnahmung der Schrift und zur Stärkung der Autorität rabbinischer Gesetzgebung, sondern eng an die Struktur des Studiums gebunden. Zur Mündlichkeit gehört die Praxis des Auswendiglernens, des Memorierens, des lauten Lernens, des Lernens in Gemeinschaft, auch des Weitertradierens in Gemeinschaft (vgl. bEruvin 54b).

Im Rahmen der Vorstellung einer Offenbarung am Sinai, die in erster Linie als eine mündliche Begegnung mit Gottes Wort erscheint, erhält der Midrasch eine ganz besondere Bedeutung. Auch wenn der Text selbst als Schrift bewahrt und geehrt wird, wird im Zuge der Auslegung – z.B. über die mündliche Vermittlung der Lehre von Lehrer an Schüler – die Ursprungssituation der Weitergabe der Tora am Sinai gewissermaßen nachempfunden, repräsentiert, der Text im Lehrer „verkörpert“ (vgl. dazu auch Fraade, Literary Composition, z.B. S. 45. In: Legal Fictions, S. 378).

Das Memorieren, geistiges Aufnehmen und StrukturierenMemorieren, geistige Aufnehmen und Strukturieren des mündlich gelernten und wiederholten Stoffs wird vielfach in den Quellen erläutert. Damit verbunden sind auch methodische Fragen in Bezug auf die Sammlung und Verwendung eines Thesaurus an Überlieferungen, auf die man zugreifen und die man in unterschiedlichen Kontexten verwerten kann (vgl. z.B. David W. Nelson, Orality and Mnemonics in Aggadic Midrash, oder Jaffee, Torah in the Mouth bzw. Orality).

Neben dem „ideologischen“ Aspekt von Mündlichkeit und Schriftlichkeit gibt es auch einen ganz praktischen. Mehrfach ist in den Quellen – außer im Bavli, wo man dies wohl bewusst vermeidet – von Notizbüchern und Gedächtnisstützen die Rede, die man auch als Korrekturen mündlicher Überlieferung verwendet (jMaʿaser 2,4,49d; jKilajim 1,1,27d).

Die erstaunliche textliche Stabilität der Überlieferung von verschiedenen Werken wie etwa auch der halachischen Midraschim ist ohne schriftliche Vorlagen undenkbar, aber im babylonischen Talmud dominiert noch lange das mündliche Studium, was natürlich auch Auswirkungen auf die komplexe Textüberlieferung zeitigt. Mit Stemberger (Mündliche Tora) ist das Nebeneinander von schriftlichen und mündlichen Überlieferungen zu betonen. Texte werden mündlich weitertradiert, der mündliche Vortrag hat wiederum Einfluss auf weitere Textentwicklung etc.

|44|Was herauskommt ist ein „zirkuläres“ Verständnis der Wechselbeziehung der rabbinischen Texte und ihrer mündlichen performativen Darstellung: Mündlichkeit, die in einer Textlichkeit gründet, die mündlich im Fluss bleibt. (Fraade, Literary Composition, S. 36. In: Legal Fictions, S. 369)

Nicht zu unterschätzen sind neben der mangelnden Kenntnis des Schreibens die praktischen Probleme wie die Kosten des Materials, die großen Mühen der Niederschriften und Vervielfältigungen, die keineswegs einfache Handhabung der Rollen (zuletzt im 10. Jh. belegt), die mit dazu beitragen, dass man bis zu den Anfängen des Buchdrucks primär (aber natürlich nicht nur) mündlich kommentiert und weitergibt (auch dazu vgl. Stemberger, Mündliche Tora).

 

3. Die Bibel ist ein vollkommener Text

Nach rabbinischer Ansicht ist die Schrift ein von Gott stammender und in seinen kleinsten Details von ihm so gewollter Text. Diese Hermeneutische Prämisse des vollkommenen Texteshermeneutische Prämisse des vollkommenen Textes macht es geradezu notwendig, Abweichungen in der Schreibweise, Doppelungen, grammatische Unstimmigkeiten zu erklären. Die Tora ist bereits vor der Schöpfung vorhanden, die Welt selbst hat nur durch sie Bestand (BerR 1.1). Der Text ist durch seine Sprache, das Hebräische, bestimmt. Der den Rabbinen vorliegende Text entspricht überwiegend der protomasoretischen Version (vgl. Tov, Textual Criticism). Dabei ist weit mehr als nur bloßer Konsonantentext überliefert. „Häkchen“ und „Kronen“, Linierung der Torarolle, Zierstriche, Punkte auf bestimmten Wörtern (SifBem § 69 etc.), vor allem Abweichungen von Ketiv und Qere, also zwischen dem geschriebenen und (anders) gelesenen Wort, sind Gegenstand der Auslegung.

Häufig tritt das so genannte al-tiqre („lies nicht!“) Motiv auf. Hier wird aus exegetischen Gründen eine alternative Lesart dem vorhandenen Text hinzugefügt.

Hierzu nur ein Beispiel. In ShirR 1.5.3ShirR I.5.3 heißt es:

„Töchter Jerusalems“ (Hld 2,7Hld 2,7): Die Rabbanan sagen: Lies nicht „benot Jeruschalajim“, sondern „bonot Jeruschalajim“ (= „die Jerusalem erbauen“). Das ist die große Versammlung von Israel, die sitzt und sie (die Israeliten) unterrichtet über jede Frage und Rechtsmeinung.

Die textliche „Veränderung“ ist sehr gering und fördert doch eine grundlegend neue Bedeutung zutage.

An einer Reihe von rabbinischen Belegen wird deutlich gemacht, dass die Buchstaben der Tora als Bausteine der WeltBuchstaben der Tora als Bausteine der Welt – an bestimmten |45|Stellen mit den Gottesnamen identifiziert – fungieren und daher wirkmächtig sind. Schreiber müssen sorgfältig auf Genauigkeit achten und dürfen keinen Buchstaben hinzufügen oder weglassen (bEruvin 13a etc.). Verschreibungen sehr ähnlicher und daher verwechselbarer Buchstaben können fatale Folgen haben. Hierzu ein Beispiel aus WaR 19.2//ShirR 5.11.2:

Es steht geschrieben: „Höre Israel, JHWH, unser Gott, ist ein JHWH“. Wenn du das Dalet (von echad = einer) zu einem Resch machst (zu acher = ein anderer), zerstörst du die ganze Welt.

„Du sollst dich nicht niederwerfen vor einem anderen (acher) Gott“ (Ex 34,4). Wenn du das Resch zu einem Dalet machst (zu echad), zerstörst du die Welt.

Es steht geschrieben: „Du sollst meinen heiligen Namen nicht entweihen (jechallelu)“ (Lev 22,2). Wenn du das Chet zu einem He machst (zu jehallelu = preist), zerstörst du die Welt.

„Jedes Leben preist (tehallel) JH“ (Ps 150,6). Wenn du das He zu einem Chet machst (zu techallel = entweihst), zerstörst du die Welt.

Es steht geschrieben: „Sie verleugnen gegenüber (kichaschu ba-) JHWH“ (Jer 5,12). Wenn du das Bet zu einem Kaph machst (= kichaschu ka-JHWH = sie verleugnen wie JHWH), zerstörst du die Welt.

Es steht geschrieben: „Sie haben gegenüber JHWH die Treue gebrochen (ba-JHWH baggadu), sie haben Bastarde geboren“ (Hos 5,7). Wenn du das Bet zu einem Kaph machst (= ka-JHWH baggadu = wie JHWH haben sie die Treue gebrochen), zerstörst du die Welt.

Die Warnung vor der „Verwandlung“ des Dalet (ד) in ein Resch (ר) geht auf die Ähnlichkeit der beiden Buchstaben zurück. Im erstgenannten Fall würde aus dem echad (einer) ein acher (anderer). Weil man ja nur die Konsonanten schreibt, kann man aleph – chet – dalet leicht mit aleph – chet – resch verwechseln. Unsachgemäßer Umgang beim Schreiben oder gar absichtliche Falschschreibung hätten fatale Folgen. Das gleiche gilt auch für die Buchstaben Chet (ח) und He (ה), Kaph (כ) und Bet (ב). Aus einem Preisen würde ein Entweihen, aus einem bösartigen Handeln gegen Gott würde ein schlimmes Handeln Gottes. Änderungen in der Schrift, wie die von der paläohebräischen zur Quadratschrift, werden in rabbinischen Belegen durchaus als von Gott gewollte Entwicklungen dargestellt, die als Reaktion auf Israels Verhalten gelten (tSanhedrin 4.7).

Der scheinbar nach vielen Seiten für die Auslegung offene Text, dessen bloßer Konsonantenbestand ohne Verseinteilung viele Verbindungsmöglichkeiten bietet, wurde nach BerR 36.8 bereits seit Esra (Neh 8,8) festgelegt, und nach bNedarim 37b sind auch „jene Wörter, die man liest, aber nicht schreibt oder schreibt, aber nicht liest, bereits Halacha an Moses vom Sinai“. Bereits Arnold Goldberg hat in seinem Aufsatz Die Schrift der rabbinischen Schriftausleger betont, dass die Schrift

|46|eine genau definierte Menge graphischer Zeichen (ist). Das Artefakt ‚Schrift‘ ist präzise festgelegt und kann keiner Veränderung unterliegen. Dieser bestimmten, endlichen Menge graphischer Zeichen entspricht eine noch offene Menge sprachlicher Zeichen. Die Menge der sprachlichen Zeichen nimmt in der Auslegung zu, weil immer mehr entdeckt wird, was alles sprachliches Zeichen ist. (Goldberg, Die Schrift, S. 14)

Doch nicht jegliche Bestimmung, die von den Rabbinen erlassen wurde, wird gleichzeitig als biblisch verankert betrachtet. Nicht selten wird zwischen einer rabbinischen Anordnung und der biblischen Halacha unterschieden (z.B. bKetubbot 28b in Bezug auf das Zeugnis eines Kindes).

Der biblische Text will jedenfalls in seinen Tiefendimensionen verstanden werden, seine sprachlichen Zeichen müssen identifiziert und gedeutet, seine Widersprüche geklärt, seine Doppelungen aufgelöst, seine vielen Textmarker von der kleinsten bis zur größten Einheit in Auslegung erläutert werden (vgl. dazu Stemberger, Grundzüge rabbinischer Hermeneutik). Der häufig zitierte Talmudabschnitt bSchabbat 88b spricht von den siebzig Zungen, in die sich jedes Wort aus dem Mund Gottes teilte. Dies stützt sich auf Bibelverse wie Ps 62,12 oder Jer 23,29. Der dort genannte Fels wird in viele Splitter zerhauen.

Die Mehrdeutigkeit der SchriftMehrdeutigkeit der Schrift ist Gegenstand einer über Jahrhunderte weiterentwickelten Hermeneutik, deren Grundlage nicht nur die Vollkommenheit der Schrift als göttliche Mitteilung, sondern vor allem ihre Dauerhafte Gültigkeitdauerhafte Gültigkeit ist.

Der religiöse Charakter der Schrift richtet sich gegen jegliche verächtliche Betrachtung des Textes und gegen die Behauptung, die Schrift habe keine tiefere Bedeutung. Ein Beispiel ist das Auflösen der Namenslisten in den Chronikbüchern an verschiedenen Stellen der rabbinischen Literatur.

Traditionell wird ein unterschiedlicher Zugang zur Schrift auch mit den Namen der Schulen R. Jischmaels und R. Aqivas verbunden. Diese werden uns noch in Bezug auf die halachischen Midraschim begegnen. R. Jischmael habe den Grundsatz vertreten, dass die Tora in der Sprache der Menschen rede (SifBem § 112). Dies bedeutet jedoch keine historisch-kritische Exegese im modernen Sinn. Denn auch für die Schule Jischmaels bleibt die Tora Wort Gottes vom Sinai. Moses schreibt nach Gottes Diktat. Aber Gott passt sich darin menschlicher Ausdrucksweise an. R. Aqivas Schule sieht die Schrift in ihrer aufzudeckenden Tiefendimension, in der jedes Detail Auslegung nach sich zieht. Hier nur ein Beispiel:

R. Jischmael fragte R. Aqiva: Da du Nachum aus Gamzu 22 Jahre lang als Schüler gedient hast (hast du gelernt, dass die hebräischen Partikel) ach und raq („nur“) dazu dienen, einzuschränken, während et (Akkusativpartikel) |47|und gam („auch“) dazu dienen, auszuweiten/einzuschließen. Was bedeutet dann et hier (in Gen 1,1: „Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde“ = be-reschit bara elohim et ha-schamajim we-et ha-aretz)?

Er (Aqiva) sagte zu ihm: (?)

(Jischmael): Wenn die Bibel gesagt hätte: es schuf(en) im Anfang Elohim (pl.), (nämlich) Himmel und Erde, könnten wir sagen, dass auch Himmel und Erde Gottheiten sind.

Er (Aqiva) sagte: „Das ist kein leeres Wort, das ohne Bedeutung für euch wäre (ki lo davar req hu mikkem)“ (Dtn 32,47). Und wenn es leer ist, dann liegt es an euch (mikkem), weil ihr nicht wisst, wie ihr es auslegen (li-drosch) sollt;

et ha-schamajim (den Himmel)“ (steht) um einzuschließen (le-rabbot) Sonne, Mond, Sterne und Gestirne; „we-et ha-aretz (und die Erde)“ (steht) um einzuschließen (le-rabbot) Bäume, Gräser und den Garten Eden. (BerR 1.14)

Dieser öfter emendierte, nicht ganz eindeutige Text (mit Visotzky, Jots, S. 259–260, der sich wiederum an einen Vorschlag von Graetz hält, muss man wohl die erste Antwort als Rede Jischmaels verstehen) ist letztlich in seiner Aussage klar. Während Jischmael et als Akkusativpartikel für notwendig erachtet, um – nicht zuletzt angeregt durch die Pluralform elohim – nicht in den Irrtum zu verfallen, Himmel und Erde seien Subjekt und nicht Objekt der Aussage und daher auch Götter, nützt Aqiva dieselbe Partikel als hermeneutischen Anker. Wenn ein gam oder et steht, ist es ein Indiz dafür, dass die Bibel etwas einschließen will, was nicht direkt im Text steht. Aqiva wendet hier ein Verfahren an, das als Ribbui (Einschließung) bzw. Miut (Ausschließung) bekannt ist (vgl. IV.5).

Stemberger (Grundzüge rabbinischer Hermeneutik. In: JM I, S. 115–116) erwähnt neben Ribbui und Miut beispielhaft den Analogieschluss sowie Gematria und NotarikonNotarikon. Die Methode des Notarikon (ein Wort, das sich vom Schnellschreiber, dem Notarius, ableitet) versteht Buchstaben eines Wortes als Anfangsbuchstaben neuer Wörter oder zerlegt die Worte in ihre Silben, die wiederum als Worte verstanden werden.

So wird etwa in BerR 7.1 zu Gen 1,20 („Das Wasser wimmle von [lebenden] Wesen“ = jischretzu hammajim scheretz [nefesch]) durch Buchstabenumstellung „Er schuf eine Form im Wasser“ (tzar tzura bammajim) gelesen.

Die GematriaGematria versteht Buchstaben als Zahlen, da jeder hebräische Buchstabe einem Zahlenwert entspricht (aleph = 1; jod = 10; taw = 400). So wird bis heute gern – vor allem im Zusammenhang mit dem Fest Schawuot – darauf verwiesen, dass der Zahlenwert des Namens Rut (resch = 200; waw = 6; taw = 400) 606 beträgt. Da Rut als Moabiterin bereits sieben noachidische Gebote hielt, verweist nach traditioneller Lesart der Zahlenwert 613, der sich |48|aus ihrem Namen + 7 ergibt, dass sie die Vollzahl der 613 Gebote und Verbote gehalten hat, also Konvertitin war.

In BerR 43.2 wird Gen 14,14 ausgelegt: „Als Abram hörte, sein Bruder sei gefangen, musterte er seine ausgebildete Mannschaft, 318 Mann, die alle in seinem Haus geboren waren, und nahm die Verfolgung auf bis nach Dan“. Die 318 Männer sind demnach nur einer, nämlich Eliezer, da der Zahlenwert des Namens 318 beträgt (aleph = 1; lamed = 30; jod = 10; ajin = 70; zajin = 7; resch = 200).

Jegliche Redundanz, jegliches als unnötig empfundene Wort ist den Rabbinen Grund zur Auslegung. Sie gehen eben von einem klaren, schnörkellosen und logischen Text aus. Gibt es also Hinweise, dass er diesen Kriterien nicht entspricht, verweisen diese auf eine aufzudeckende Botschaft.

Hier ein Beispiel aus BerR 55.7BerR 55.7: In Gen 22,2 heißt es: „Gott sprach: Nimm deinen Sohn, deinen einzigen, den du liebst, Isaak“. Diese Information hätte logischerweise auch viel kürzer sein können – z.B. „Nimm Isaak“. Die lange Formulierung bedarf daher einer Erklärung. Sie kann nicht ohne Absicht und Bedeutung sein:

Er sagte: „Nimm deinen Sohn“.

Er (Abraham) antwortete: Welchen Sohn?

Er sagte zu ihm: „deinen einzigen“.

Er antwortete: Dieser ist der einzige seiner Mutter und jener ist der einzige seiner Mutter.

Er sagte: „den du liebst“.

Er antwortete: Gibt es denn im Inneren Grenzen?

Er sagte zu ihm: „Isaak“.

Warum hat er es ihm nicht offenbart?

Um ihm Belohnung für jedes einzelne Wort zu geben.

Das ist die Ansicht von R. Jochai:

„Zieh weg aus deinem Land, [von deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde]“ (Gen 12,1) – das ist deine Provinz (Eparchie);

 

„von deiner Verwandtschaft“ – das ist deine Nachbarschaft;

„und aus deinem Vaterhaus“ – das ist dein Vaterhaus;

„in das Land, das ich dir zeigen werde“.

Warum hat er es ihm nicht offenbart?

Um es wertvoll zu machen in seinen Augen und ihm für jeden einzelnen Schritt Belohnung zu geben.

Neben der Begründung, warum jeder einzelne Satzteil Sinn ergibt und Bedeutung hat, wird hier die naheliegende Verbindung zu einem verwandten Bibeltext hergestellt und daraus eine gemeinsame Folgerung gezogen.

Zum vollkommenen Text gehört, dass Scheinbar Überflüssiges gedeutetscheinbar Überflüssiges gedeutet, Doppelungen exegetisch erläutert oder unklare Namen erklärt werden. Dies kann, wie schon erwähnt, z.B. durch die Identifizierung |49|mit bekannten Namen oder durch eine gewissermaßen Allegorische Interpretationallegorische Interpretation gelöst werden. Dazu abschließend ein Beispiel aus SifBem § 78SifBem § 78 im Kontext einer Diskussion um Proselyten:

Und so findest du es bei den Gibeoniten.

Was ist es (, was die Bibel dazu) sagt? „Und Joqim und die Männer von Koseba“ (1 Chron 4,22)?

Und Joqim, weil Josua ihnen den Bund bestätigte (qijjem).

Koseba, weil sie Josua anlogen (kisbu) und sagten: „Aus einem sehr fernen Lande kamen deine Knechte“ (Jos 9,9). Sie kamen aber nur aus dem Land Israel.

[…]

Und so findest du es bei Rut, der Moabiterin.

Was sagte sie zu ihrer Schwiegermutter?

„Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott, wo du stirbst, will ich sterben“ (Rut 1,16–17). Gott sagte zu ihr: Du hast keinerlei Schaden (davon). Siehe, die Königsherrschaft ist dein in dieser Welt. Siehe, die Königsherrschaft ist dein in der Welt, die kommt.

„Und Joasch und Saraf, die in Moab herrschten“ (1 Chron 4,22): Joasch und Saraf, das sind Machlon und Kiljon (Rut 1,2).

Joasch, weil sie die Hoffnung auf Erlösung aufgaben (nitjaʿaschu). Joasch, weil sie die Hoffnung auf die Worte der Tora aufgaben.

Saraf, weil sie ihre Kinder für den Götzendienst verbrannten (sarfu).

„Die in Moab herrschten“ (baʿalu), weil sie moabitische Frauen heirateten. (baʿal = Ehemann)

„Die in Moab herrschten“ (baʿalu), weil sie das Land Israel verließen und sich dem Gebiet Moabs zuwandten. [Sie kehrten aber nach Bethlehem zurück].

„Wie eine alte Rede (lautet)“: Jedes einzelne ist an seiner Stelle erläutert.

„Und Bewohner von Netaïm“ (1 Chr 4,23): Das ist Salomo, der einer Pflanzung (netia) in seinem Königreich glich.

„Und Gedera“: das ist der Sanhedrin, der dasaß und die Worte der Tora einzäunte (goderet).

Dort bei dem König, in seinem Dienst, saßen sie.

Woher (ist zu belegen) dass du sagst, dass Rut, die Moabiterin nicht starb, bevor sie ihren Nachkommen Salomo gesehen hatte, (wie) er dasaß und die Rechtssache der beiden Dirnen richtete?

Weil es heißt: „Bei dem König, in seinem Dienst, dort saßen sie“.

Und siehe, die Dinge (ergeben) einen Schluss vom Leichteren auf das Schwerere: Wenn Gott diese, die aus einem Volk war, (von) dem es heißt: „Ihr sollt nicht mit ihnen verkehren, und sie sollen nicht mit euch verkehren“ (1 Kön 11,2), weil sie sich (ihm) selbst genähert hat, sich nahe gebracht hat, um wieviel mehr Israel, das die Tora befolgt.

Wenn du aber sagst, in Israel war es nicht so, siehe, so heißt es bereits:

„Da befahl der König Ägyptens den Hebammen der Hebräerinnen[, von denen die eine Schifra, die andere Pua hieß]“ (Ex 1,15). Schifra, das ist Jochebed. Pua, das ist Mirjam.

Schifra, weil sie fruchtbar war (sche-para) und sich vermehrte.

Schifra, weil sie die Neugeborenen reinigte (meschaperet).

|50|Schifra, weil Israel in ihren Tagen fruchtbar war und sich mehrte.

Pua, weil sie ihres Bruders wegen schrie (poa) und weinte. Denn es heißt: „Seine Schwester aber stellte sich von ferne hin, um zu erfahren, was mit ihm geschehen würde“ (Ex 2,4). (Übersetzung nach Börner-Klein, Sifre zu Numeri, S. 127–129)

Midrasch ist die Auseinandersetzung mit dem vollkommenen Text, der keine Widersprüche enthält, der logisch, kurz und bündig Informationen vermittelt, dessen Unklarheiten erklärt, dessen weiße Flecken erforscht werden müssen. Die beste Quelle, um Fragen zu beantworten, ist der Text selbst, der in seinen verschiedenen Teilen das Material bereithält, um die Lücken zu füllen. Die Antworten können dabei durchaus differieren. So legt z.B. auch BerR 8.7BerR 8.7 1 Chr 4,23 allegorisch aus und versteht die Namen als Hinweise auf Wortwurzeln (Netaim von nata = pflanzen bzw. neta = Pflanzung; Gedera von gadar – einzäunen). Demnach lässt sich der Text hier, anders als im vorher genannten Beispiel, auf die Seelen der Gerechten anwenden, die an der Schöpfung mitwirken:

[„Lasst uns einen Menschen machen“:] Jehoschua aus Sichnin: (das bedeutet:) Gott beriet sich mit den Seelen der Gerechten, wie es heißt: „Sie sind die Töpfer/Former (jotzrim) und Bewohner von Netaïm (joschve netaim) und Gedera (gedera) und wohnen/sitzen dort im Dienst des Königs“ (1 Chr 4,23). „Sie sind die Töpfer/Former“, denn: „Und es formte (wa-jitzer) JHWH Gott den Menschen aus Erde vom Ackerboden [und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen]“ (Gen 2,7). „Und Bewohner der Pflanzungen“ (joschve netaim), denn: „und es pflanzte JHWH Gott, im Garten Eden, [einen Garten an und setzte dorthin den Menschen, den er geformt hatte]“ (Gen 2,8). „Und des Zauns“ (gedera), denn: „Ich bin es, der dem Meer die Düne als Grenze gesetzt hat“ etc. (Jer 5,22). „Und wohnen/sitzen dort im Dienst des Königs“ – mit dem Höchsten aller Könige, gepriesen sei er, saßen die Seelen der Gerechten; mit ihnen beriet er sich und schuf die Welt.

Midraschische Auslegung ist bei aller Offenheit nicht willkürlich. Gleichwohl ist die Freiheit der Exegese und die Offenheit der Interpretation schon in rabbinischer Zeit ein Diskussionspunkt. So sagt R. Jischmael etwa kritisch über R. Eliezers Auslegungspraxis: „Siehe, du sagst zur Schrift: Sei still, bis ich auslege!“ (Sifra, Tazriʿa 5.13.2, Weiss 68b)

In kritischer Weise setzt sich auch das zwischen dem 8. und 10. Jh. entstandene Alphabet des Ben Sira mit rabbinischer Auslegung auseinander. Das wörtliche Schriftverständnis wird darin bevorzugt, aber dieses kann nicht alle menschlichen Fragen lösen, weshalb es einen Rückgriff auf eine Tugendlehre braucht, die sich nicht zuletzt auf beispielhafte Geschichten und Fabeln stützt.