Midrasch

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Aus der Reihe: Jüdische Studien
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In den Talmudim wird der Begriff u.a. als Auslegung, die sich von logischen Schlüssen ableitet (z.B. bBava Qamma 17b), als Interpretation eines Bibelverses oder der Bibel allgemein verstanden. jScheviit 8,1,37d stellt den Grundsatz auf:

R. Bun bar Chija sagte: Jeder Midrasch, den du vorbringst (doresch) und der einen vorherigen Midrasch zerbricht, ist kein Midrasch.

Hier fungiert Midrasch, in einer Auslegung von Lev 25,6–7, im Kontext von Bestimmungen zu erlaubten und verbotenen Nutzungen von Produkten im Sabbatjahr, die sich auf einen hermeneutischen Schluss, eine Einschließung bzw. Ausschließung, stützen (vgl. dazu unter Hermeneutische Regeln). Widersprüchliche Anwendungen in Bezug auf eine Bibelstelle werden ausgeschlossen. Wenn eine Bibelstelle bereits für eine Argumentation verwendet wurde, kann sie nicht mehr für eine andere Argumentation dienen.

In jMegilla 1,12(9),72a; jJoma 3,5,40c; jJevamot 6,4 (3),7c gibt es den Grundsatz: kol midrasch [u-midrasch] beinjano („Jede Auslegung in ihrem Kontextjede Auslegung in ihrem Kontext“), wodurch die Widersprüchlichkeit von Auslegungen (unter der Verwendung von hermeneutischen Regeln) dadurch aufgelöst wird, dass man jede bezogen auf ihren jeweiligen (biblischen) Zusammenhang (injan) verstehen muss.

Midrasch wird mehr und mehr als Auslegung von TextAuslegung von Text verstanden. So etwa, wenn es in jMegilla 1,1,70a zum Buch Ester heißt:

„All das legte er dar in einer Schrift [aus der Hand JHWHs über mir, ließ verstehen alle Arbeiten, die der Plan vorsah]“ (1Chr 28,19) – das ist die Masora (der Konsonantentext); „aus der Hand JHWHs“ – das ist der Heilige Geist; „über mir, ließ es verstehen“ – von daher ergibt sich, dass sie zur Auslegung (lehiddaresch) gegeben wurde.

Dort wird auch klar gelegt, dass das Buch Ester bzw. die Esterrolle eine der Tora entsprechende Bedeutung hat und wie diese selbst der Auslegung bedarf.

Als Lerninhalt tritt Midrasch häufig aufAls Lerninhalt tritt Midrasch häufig auf. Wie bereits erwähnt, enthält die Liste von Studieninhalten in mNedarim 4.3 Midrasch, Halachot und Haggadot. Midrasch ist hier also von Haggada und Halacha getrennt zu lernen. In tBerachot 2.12 werden – im Zusammenhang mit Fragen zur rituellen Reinheit – auch die Frauen ins Studium integriert, wenn es heißt:

|31|Männer und Frauen, die an Ausflüssen im Genitalbereich leiden, Menstruierende und Wöchnerinnen dürfen Tora, Propheten und Schriften lesen, Mischna, Midrasch, Halachot und Haggadot lernen.

Im babylonischen Talmud (i.F. Bavli) schränkt man in bBerachot 22a allerdings diese großzügige Regelung wieder auf Männer ein.

Eine gewisse Lernabfolge kann man z.B. aus jPea 2,6,17a erheben, wo es heißt, dass „Schrift, Mischna, Talmud und Haggada und auch das, was ein kundiger Schüler einmal vor seinem Lehrer entscheiden wird, bereits am Sinai Moses gesagt wurde.“ Allerdings wird im Alltag nicht unbedingt nach dieser Abfolge unterrichtet. In TanB Lech lecha 10 (34b) heißt es über R. Jochanan:

Seine Schüler saßen vor ihm im (Auslegungs-)Kapitel (vertieft). Als sie mit ihrem Kapitel fertig waren, lehrte er sie eine Haggada und danach Mischna.

In bTaʿanit 30a ist davon die Rede, dass man am 9. Av, dem Trauertag über die Zerstörung des Tempels, weder Tora, Propheten und Schriften liest noch Mischna, Midrasch und Talmud, Haggadot und Halachot studiert.

Aussagekräftig ist auch bQidduschin 49a. Darin wird die Selbsteinschätzung eines EhemannesSelbsteinschätzung eines Ehemannes in spe gegenüber seiner künftigen Braut thematisiert. Wenn er behauptet, imstande zu sein, die Bibel lesen zu können, so lässt man ihn drei Verse vortragen und übersetzen, damit er sich verloben kann. Behauptet er von sich, ein Schriftkundiger zu sein, so muss er aus allen drei Teilen der Bibel (Tora, Propheten, Weisheitsschriften) genau vortragen. Hat er sich gar als Gelehrter vorgestellt, argumentieren die Rabbinen dazu keineswegs einheitlich:

Chisqija sagte: (dies meint Kenntnisse bzw. Lernstoff der) Halachot; aber R. Jochanan sagte: Tora. Man wandte ein: Was ist Mischna? R. Meir sagt: Halachot, aber R. Jehuda sagt: Midrasch. Was ist Tora? Midrasch Tora (Auslegung der Tora). Dies gilt (unter der Voraussetzung,) dass er zu ihr sagte: Ich lerne. Sagte er aber: Ich bin ein Gelehrter (tanna), so muss er Halacha, Sifra und Sifre und Tosefta studiert haben.

Midrasch wird von Jochanan allgemein als Lehre (Mischna) verstanden, demgegenüber Meir diese auf die gesetzlichen Teile (Halachot) einschränken will. In der Regel folgt die Mischna als Lernstoff nach der Bibel, die man im Grundstudium erlernen soll. Andererseits versteht man Midrasch als Auslegung von Tora. Der Schlusssatz konkretisiert diese auf die Exegese von Lev (Sifra) und Num/Dtn (Sifre).

Avot de-Rabbi Natan A 28.17–19 vergleicht den Studierenden mit Steinen. Ein behauener SteinEin behauener Stein ist jemand, der nur Midrasch lernt, ein Eckstein einer, der Midrasch und Halacha lernt, ein polierter Stein aber ist schließlich jemand, der Midrasch, Halacha, Haggada |32|und Tosefta beherrscht, also über ein umfassendes Wissen in verschiedenen Bereichen verfügt. Etwas später (A 29.26) heißt es, dass einer, der Midrasch, aber keine Halacha beherrscht, nur schwach „bewaffnet“ ist. Wer aber beides besitzt, ist stark „bewaffnet“.

Im Seder Elijahu Rabba ist das CurriculumCurriculum mehrteilig und umfasst Mischna, Midrasch, Halachot und Talmud und Aggadot (15, Friedmann 69); Mischna, Midrasch, Halachot und Aggadot (18, Friedmann 91) bzw. Midrasch, Halachot und Aggadot und den Dienst an den Gelehrten (28, Friedmann 155).

Die Bedeutung des rabbinischen Verständnisses von darasch ist nicht zuletzt auch von seinem „Sitz im Leben“ abhängig. Unter Derascha wird oft eine Predigt oder eine synagogale Schriftauslegung verstanden. Diese Bedeutung ist für das Mittelalter zutreffend, doch zeigt sich, dass eine frühe Verankerung der DeraschaDerascha im Kontext der synagogalen Liturgie problematisch ist. In mehreren Studien (vgl. z.B. Porton, Sermon) konnte inzwischen plausibel gemacht werden, dass Rabbinen in früher Zeit nur sehr bedingt am Synagogenleben teilgenommen haben dürften und kein bedeutender Anteil an der liturgischen Gestaltung von ihnen ausgeht. Viel eher ist wahrscheinlich, dass die Rabbinen ihre Auslegung eines Bibeltextes im Rahmen eines Lehrvortrages hielten. Der Begriff darasch verweist hier nicht auf eine Predigt, sondern eine Interpretation, eine Auslegung von bestimmten Schriftstellen.

4. Eine tragfähige Midraschdefinition

Von der Begriffsverwendung von darasch und Midrasch in Bibel, Qumrantexten und rabbinischer Literatur her ließ sich überblickshaft eine Entwicklung feststellen, an deren Beginn die Befragung Gottes durch Mittler stand, anschließend die Vermittlung und Verkündigung von Tora und schließlich die hermeneutische Durchdringung und Erforschung der Schrift. Eine tragfähige Definition des Midrasch muss über eine reine Begriffsanalyse hinausgehen.

In der Bedeutung von Nachforschen, Ergründen und VerkündenNachforschen, Ergründen und Verkünden mit Bezug zur Bibel und verbunden mit hermeneutischen Richtlinien, wie sie schon in tannaitischer Literatur, vor allem in der Folgezeit vorherrschend wird, ist nicht jeder kreative Umgang mit dem Text Midrasch.

In Abwandlung von Gary Portons DefinitionDefinition lässt sich Midrasch wie folgt beschreiben:


Genre
Hermeneutisches Verfahren und er in der Folge ausgelegt wird.
Referenzrahmen Midrasch basiert auf einem Verständnis der Einheit, Widerspruchslosigkeit, Klarheit und Vollkommenheit der Schrift und
Hermeneutisches Verfahren wendet hermeneutische Methoden (Ausdeutung intertextueller Bezüge, Auslegungsregeln etc.) an, um die Lücken (gaps) des Textes zu füllen und die Welt der Schrift mit der aktuellen Welt der lesenden/hörenden und auslegenden Menschen zu verbinden.

Midraschelemente können diesen Kriterien entsprechend sowohl in Rewritten Bible/parabiblischen Texten als auch im Targum enthalten sein, ohne dass diese per se Midrasch sind. Die Funktion des Midrasch besteht, was noch ausführlich behandelt werden soll, in der Aneignung des Bibeltextes im Sinne einer (meist, aber nicht immer) für verschiedene Meinungen offenen Interpretation. Dabei werden in der Regel aktuelle Fragen und Probleme beantwortet bzw. zu lösen versucht, ohne dass man Midrasch auf das Moment der Aktualisierung reduzieren dürfte. Elemente der kreativen Geschichtsschreibung oder Philologie sind darauf zu überprüfen, inwieweit sie bereits im biblischen Text und Kontext eine Stütze finden.

Macht man, wie dies z.B. Ulmer tut, die Trägergruppe der Rabbinen und ihre Theologie und Weltsicht für Midrasch besonders stark, so kann es weder in der Bibel Midrasch geben noch in der (Post-)Moderne.

 

Eine Darstellung einer engen Definition von Midrasch könnte so aussehen:


Bibeltext Rabbinen und ihr hermeneutisches System (Schriftverständnis, Weltbild, Theologie) + spezifische formale Struktur = Midrasch

Beispielerzählungen (maʿasim) oder Gleichnisse (meschalim) spielen im Rahmen der Textsorte Midrasch eine wichtige Rolle, weshalb sie in diesem Buch auch unter Abschnitt VI ausführlicher behandelt werden, sind selbst aber nicht Midrasch.

Neben der engen Definition von Midrasch findet sich eine breite Verwendung des BegriffsNeben der engen Definition von Midrasch findet sich eine breite Verwendung des Begriffs, die innerbiblische Auslegung, Rewritten |34|Bible, aber auch künstlerische Zeugnisse wie Synagogenmosaike, Nachdichtungen etc. einschließt (vgl. beispielhaft Englard, Mosaics as Midrash). So wird Midrasch mitunter gleichbedeutend mit aktualisierender Auslegung und kreativer Weiterentwicklung verstanden. Der Religionspsychologe Mordechai Rotenberg (The Trance of Terror) etwa hat 2006 Midrasch in einem Prinzip des „See it and renew it“ verortet und dem miqdash gegenübergestellt, also einem von Ritualen und Zeremonien durchsetzten Bedürfnis des Menschen („See this and sanctify it“). Rotenberg sieht das Midraschprinzip als Grundlage einer demokratischen Gesellschaft, die ohne es zugrunde gehen würde.

Von einer beliebigen Verwendung von Midrasch ist abzuraten. Ein offeneres Verständnis von Midrasch könnte allerdings dadurch entstehen, dass man die Trägergruppe nicht auf die Rabbinen beschränkt, und indem man stärker die formalen Elemente oder die hermeneutischen Grundlagen/Vorgehensweisen in den Mittelpunkt stellt.

Eine solche weitere Definition von Midrasch ließe sich so illustrieren:


Bibeltext hermeneutisches System (Schriftverständnis, Auslegungstechniken) +/oder formale Struktur = Midrasch

Eine Möglichkeit wäre, dieses offenere System zur Unterscheidung vom eigentlichen rabbinischen Midrasch als midraschisch zu bezeichnen.

In diesem Sinne findet man bereits in der Bibel eine Reihe von hermeneutischen Vorgängen, die für das Genre Midrasch typisch sind und midraschisch genannt werden können.

5. Midrasch in/aus Palästina

Midrasch hat seine örtliche Heimat vor allem im antiken Palästina. In BabylonienBabylonien wurde ebenfalls auf dem Gebiet des Midrasch gearbeitet und palästinisches Material verarbeitet, es entstand aber keine eigene Kategorie Midrasch. Vielmehr wurden Midrasch enthaltende Materialien in den babylonischen Talmud integriert. Halachische Entscheidungen werden auch im Bavli häufig mit diesem Material untermauert, vor allem, wenn Bibelstellen die in der Mischna ohne Bibelbezug gebotenen Entscheidungen festigen sollen.

|35|Haggadische Schriftauslegung taucht in vielfältiger Form auf, mitunter in kürzeren Abschnitten, nicht selten aber auch in der Form von umfassenderen und zusammenhängenden Auslegungen. Hier liegen den Redaktoren mit großer Wahrscheinlichkeit eigenständige Quellen (mündlich und schriftlich) vor. Neben Übernahmen (mit späteren Überarbeitungen) aus palästinischen Quellen sind vor allem die babylonischen „Eigenproduktionen“ von Interesse. Eine solche größere Einheit, die Dagmar Börner-Klein (babylonische Auslegung) und Eliezer Segal (Esther Midrash) intensiv untersucht haben, ist die Auslegung der Ester-Geschichte in bMegilla 10b-17a, eine andere der von Stemberger analysierte Abschnitt in bSota 9b-14a (vgl. dazu auch Langer, Ester-Midrasch; Diaspora; Drama). Ähnliches gilt auch für andere Texte wie bSchabbat 86b-89a, einen Midrasch zur Gabe der Tora oder für den apokalyptischen Abschnitt ab bSanhedrin 97a.

Eine eigene Midraschsammlung, die sehr wahrscheinlich im 9. Jh. in Babylonien entstand und damit eine große Ausnahme bleibt, ist Pitron Tora, eine Sammlung von Auslegungen zu Lev-Dtn. Sie ist auch deshalb von Interesse, weil sie Interpretationen von Benjamin al-Nahawandi, einem Karäer, zitiert.

Auch die so genannten Scheiltot, eine in gaonäischer Zeit entstehende Gattung im Frage- und-Antwortstil, enthalten viel midraschisches Material. Midrasch ist also keineswegs unbekannt und Teil der babylonischen Traditionsliteratur. Die Frage, warum es praktisch keine eigene Midraschliteratur zu größeren Einheiten oder zu gesamten biblischen Büchern zu geben scheint, ist schwer zu beantworten. Man könnte es rein als redaktionelle Entscheidung betrachten, möglicherweise darin begründet, dass man zu wenig größere Midraschkomplexe – über die eben genannten hinaus – hatte, die man selbständig hätte „publizieren“ können. Liegt dies an der anderen Struktur der rabbinischen Studien in Babylonien? Oder an der stärkeren Betonung der schon viel entwickelteren Halacha? Wieweit kennt man schon die palästinischen Midraschim und findet, dass man wenig darüber hinaus braucht? Hier steht zweifellos noch Forschung aus.

Der palästinische TalmudDer palästinische Talmud wiederum weist viele Parallelen mit den eigenständigen Midraschwerken auf. So hat Ezra Zion Melammed (Halachic Midrashim) rund 1300 Zitate allein aus den halachischen Midraschim im Jeruschalmi nachgewiesen. Die relative Mehrheit der Zitate bezieht sich mit rund 450 auf das Buch Levitikus. Auch wenn manche dieser Texte nur sehr kurz sind und daher mitunter schwer zu entscheiden ist, ob es sich um wirkliche Zitate handelt, kann man doch auch für bestimmte Werke eine schriftliche Vorlage annehmen, wie dies etwa Stemberger für Sifra (Sifra – Tosefta – |36|Yerushalmi) nachzuweisen versucht. Er untersucht ausführlich die 36 Parallelen zwischen Sifra und jJoma und kommt zum Schluss, dass den Redaktoren des Jeruschalmi eine schriftliche Version des Midrasch Sifra zur Verfügung stand, die sie wörtlich zitierten oder frei zusammenfassten (Sifra-Tosefta-Yerushalmi, S. 566).

Darüber hinaus werden mehr als 1100 mehrheitlich haggadische und meist kurze Midraschim im Namen amoräischer Rabbinen zitiert. Hans-Jürgen Becker (Relationship; Sammelwerke) hat ausführlich die Querbezüge zwischen BerR und dem Jeruschalmi untersucht, Moscovitz (Relationship) Bezüge zwischen WaR und Jeruschalmi, Lerner (Ruth) solche zwischen RutR und Jeruschalmi. In jedem Fall ist hier immer mit einer längeren und komplizierteren Entwicklungsgeschichte zu rechnen als mit einfachem „Abschreiben“ in die eine oder andere Richtung.

6. Zusammenfassung

Der Begriff darasch entwickelt und verändert sich im Laufe der Zeit bereits innerhalb der Bibel von einem Befragen Gottes durch einen Propheten, Seher etc. zu einer Haltung eines Frommen hin zu einem Instruieren, Erläutern und Vermitteln von Tora und wandelt sich vor allem in rabbinischer Zeit zu einer hermeneutischen Durchdringung und Auslegung von Schrift. Sitz im Leben des Midrasch ist dann vor allem das Lehrhaus. Midrasch stellt einen eigenständigen Lehr- und Lernstoff dar. Erst im Mittelalter wird der Kontext der Predigt bedeutend (derascha).

Wie im Forschungsbericht erwähnt, betonen neuere Definitionen den „schöpferischen“ Charakter von Midrasch (Heinemann), die mit ihm verbundene Aktualisierung von Schrift, definieren ihn als eine Hermeneutik (Boyarin), bei der die Begegnung des (rabbinischen) Lesers mit einem für ihn normativen Text im Mittelpunkt stehe; als interpretatives Verfahren (Kugel), als an klare Formen gebundene rabbinische Interpretation von Schrift (Goldberg, Teugels, Ulmer). Gary Porton bietet eine der am häufigsten zitierten Definitionen von Midrasch, die eine gute Basis für eine tragfähige Beschreibung darstellt.

Vor allem aus Joshua Levinsons Studien lässt sich erheben, dass es keinen Widerspruch zwischen einer historisch-kontextuellen und einer literaturwissenschaftlichen Betrachtung von Midrasch geben muss. Texte sind nicht einfach Ergebnis eines soziokulturellen Kontextes, sie wirken auch auf diesen ein und verändern ihn.

Neben strengen und ausschließlich auf die rabbinische Literatur beschränkten Begriffsbestimmungen von Midrasch finden sich auch |37|Meinungen, die Midrasch offener definieren. Mit Timothy Lim (Origins), der einen ausführlichen Überblick über Midraschdefinitionen bringt, ist vor einer Inflation des Begriffes Midrasch zu warnen:

Erwähnt man „Midrasch“ heute, kommt einem sofort ein ganzes Arsenal an Einsprüchen in den Sinn. Er ist überverwendet worden in einer Weise, dass er inzwischen wenig mehr bedeutet als ein sexy Synonym für Exegese. (Origins, S. 611)

In jedem Fall verbietet sich eine zu allgemeine Definition z.B. als aktualisierende Bibelauslegung. Midrasch ist aus einem hermeneutischen Bezugsrahmen erwachsen. Dazu gehört das besondere Verständnis der Schrift als über die Zeit hin gültige „Textwelt“, Zeugnis göttlicher Offenbarung und damit Mittel zur Kommunikation mit Gott.

Im Midrasch wird die Bibel als bleibende Grundlage der GottesbeziehungBibel als bleibende Grundlage der Gottesbeziehung, der Erkenntnis, der Weltsicht, erfahrbar gemacht, werden Lücken geschlossen, Fragen geklärt, wird ein Dialog eröffnet. Diese Kommunikation muss offen bleiben und stellt sich nicht der Frage nach der „einen“, „wahren“ Auslegung. Sie ist gleichzeitig nicht willkürlich. Die Auslegungen orientieren sich an im Text angelegten Fragen und Bezügen und an hermeneutischen Grundsätzen, über die noch ausführlich gesprochen werden muss.

[Zum Inhalt]

|39|III. Hermeneutische Grundlagen der rabbinischen Auslegung
1. Grundlegende Literatur

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Hirshman, Marc, The Stabilization of Rabbinic Culture, 100 C.E.-350 C.E. Texts on Education and Their Late Antique Context. New York u.a. 22012; ders., A Rivalry of Genius. Jewish and Christian Biblical Interpretation in Late Antiquity (SUNY Series in Judaica: Hermeneutics, Mysticism, and Religion). New York 1996; ders., „The Greek Fathers and the Aggada on Ecclesiastes: Formats of Exegesis in Late Antiquity.“ HUCA 59 (1988), S. 137–165.

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