Sehnsucht nach dem Süden

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Von der Esskultur zur Sprachkultur

Das nach dem Forum des Julius Caesar benannte Friaul ist eine Landschaft, in der die Geschichte, auch wenn sie Vergangenheit geworden ist, nicht stirbt. Vielmehr lebt sie in den Gebräuchen des Volkes und auch in mannigfachen Gewohnheiten, Kulturschöpfungen sowie im Furlanischen, einer eigenen romanischen Sprache, fort. Im Friaul sagt man demnach nicht buongiorno, sondern mandi, ein im übrigen Italien völlig unbekannter Gruß. Seine Herkunft ist ungewiss. Vielleicht leitet sich das Wort vom lateinischen manibus dei, also „in Gottes Hand“, ab.

Pier Paolo Pasolini hatte seine Wurzeln im Friaul. Auch die seines Denkens und seiner Sprache fußen hier. In der Sprache seiner friulanischen Mutter schrieb er die ersten Gedichte.

Pasolini setzte sich für das Furlanische oder auch Friulanische ein und forderte die Gründung einer „Academiuta di lenga furlana“. Nicht mehr vom Friulanischen als Dialekt, sondern als Sprache sollte die Rede sein.

Pasolini: „Der Dialekt ist die bescheidenste, die gewöhnlichste Ausdrucksweise, er wird nur gesprochen, keinem fällt ein, ihn zu schreiben. Doch wenn jemand auf diese Idee käme? Ich meine, mit dem Dialekt seine Gefühle, seine Leidenschaft auszudrücken? Wohlgemerkt, nicht, um Leute mit Dummheiten zum Lachen zu bringen oder ein paar alte Geschichten aus seinem Heimatdorf zu erzählen …, sondern mit dem Ehrgeiz, anspruchsvollere, schwierigere Dinge zu sagen. Wenn jemand diese Idee gut umsetzt und andere, die denselben Dialekt sprechen, seinem Beispiel folgen und so allmählich eine Menge schriftliches Material zusammenkommt, dann wird dieser Dialekt zur ‚Sprache‘.“ Und Pasolini gibt uns eine Lektion Friulanisch.

„Ich gehe das Vieh füttern und melken. Und du wirst mir helfen, sofort.“

„I vai a governà e molzi. E tu ven a judami, e subit.”

„Der Wille des Herrn geschehe!”

„Ch’a si fedi la voluntàt dal Signòur.“

„Lass mich in Ruhe.“

„Va e tàs.“

„Habt ihr schon zu Abend gegessen?“

„Vèizu belzà senàt?“

Aus: Pier Paolo Pasolini, I Turcs tal Friùl.

Die Türken im Friaul (1944).

Pasolinis Bemühungen waren von Erfolg gekrönt. Heute ist das Friulanische oder Furlanische als Minderheitensprache anerkannt.


Armut ist keine Schande

Friaul war die längste Zeit seiner Geschichte eine arme Region, ein Landstrich, der von den Mächtigen nicht wirklich geliebt wurde, ein Übergang vom mächtigen Norden in den Süden. Ein Land zwischen Kaiser und Papst, zwischen Apfel- und Zitronenblüte.

Heute ist Friaul reich. Eine der reichsten Regionen Italiens. Die Ursprünge seiner Küche liegen aber, wie Christoph Wagner schreibt, in seiner „armen Vergangenheit“. Heute würde man die vielfältigen Einflüsse, die diese Küche geprägt haben, als „Multikulti“ bezeichnen. Die traditionellen Speisen werden aus Rüben, Sauerkraut, Bohnen, Reis, Mais und Kartoffeln zubereitet.

Ein Beispiel dafür ist der Frico, die Antwort Friauls auf die Schweizer Rösti.

Für dieses Erdäpfel-Käse-Gericht werden würfelig geschnittene Kartoffeln in der Pfanne zusammen mit einer Zwiebel in wenig Öl gebraten. Dann wird frischer Käse (höchstens einen Monat alt) untergemengt und gebraten, bis man auf beiden Seiten eine schöne Kruste bekommt. Üblicherweise wird der Frico mit Polenta serviert.

Weil wir schon beim Käse sind: In Friaul gibt es zahlreiche köstliche Käsesorten, deren bekanntester Vertreter der Montasio ist. Diesen Käse, den man hier seit dem 13. Jahrhundert kennt, verdanken die Friulaner den Benediktinern der Abbazia di Moggio Udinese. Ihre Produktions- und Konservierungsmethode verbreitete sich in Karnien und der friulanisch-venetischen Ebene sehr rasch. Das Geheimnis der Benediktiner war die sanfte Technik der Milchverarbeitung und diese Art hat sich bis heute erhalten.

Die meisten Käse werden nach den Orten ihrer Herkunft benannt. Es sind in erster Linie Kuhmilchkäse (Schafkäse sind eher selten) und sie haben üblicherweise einen hohen Fettanteil. In Scheiben geschnitten und unter die heiße Polenta gelegt (die mit Pilzen bedeckt sein kann), sodass der Käse leicht schmilzt, ergibt es ein köstliches, typisch friulanisches Gericht.

Fleisch war meist den Festtagen vorbehalten. Hier spielt heute noch der „Fogolar“ eine wichtige Rolle. Eine Art Kamin, über dessen offenem Feuer Geflügel und Bratenstücke von Rind und Schwein zubereitet werden. Die Betreiber jener Lokale, die einen Fogolar besitzen und ihn auch noch benützen, sind jedenfalls überzeugt, dass dieser eine große Anziehungskraft auf die Gäste ausübt.

Frico

ZUTATEN

für 4 Personen:

400 g würziger Käse

1 mittelgroße Zwiebel

600 g geschälte, gekochte Kartoffeln

ZUBEREITUNG

Die gekochten Kartoffeln zerstampfen, den Käse in Stücke schneiden. Eine fein gehackte Zwiebel in Olivenöl anlaufen lassen. Den Käse und die zerstampften Kartoffeln dazugeben und verrühren. Bei mäßiger Hitze den Käse schmelzen lassen. Immer wieder verrühren. Wenn sich der Käse an der Unterseite zu bräunen beginnt, Temperatur reduzieren und durch Rütteln der Pfanne verhindern, dass sich die Unterseite des Frico anlegt. Wenn die untere Schichte fest geworden ist, den Frico mithilfe einer zweiten Pfanne wenden (wie einen Deckel draufgeben und dann umdrehen). Mit Polenta anrichten.



Von Basiliken, Mosaiken und würdevollen Frauen

Aquileia war um die Zeitenwende zu einer mächtigen Großstadt mit circa 100 000 Einwohnern angewachsen, die einem ganzen Kosmos an Göttern und Göttinnen huldigten.

„Es begab sich aber zu der Zeit“ des Kaisers Augustus, dass ein Mensch namens Jesus als Sohn Gottes Begründer einer neuen Religion wurde. Es heißt, Petrus, der Felsen, auf dem die neue (römische) Kirche gebaut wurde, habe den Apostel Markus in die Provinz Venetia et Histria geschickt, um die Menschen dort zu christianisieren. Markus ging, verkündete das Evangelium und bekehrte viele, unter ihnen auch Hermagoras. Diesen nahm der Evangelist mit nach Rom. Dort beeindruckte Hermagoras Petrus dermaßen, dass dieser ihn zum Bischof von Aquileia erkor. Dort jedoch erlitt Hermagoras gemeinsam mit seinem Diakon Fortunatus das Martyrium.

Im 14. Jahrhundert stiftete Betrand de Saint-Geniès, Patriarch von Aquileia, den beiden Märtyrern einen Sarkophag. Hinein aber kamen nicht die Gebeine der Heiligen, sondern der Patriarch selbst, nachdem er im Jahr 1350 einem Mordanschlag zum Opfer gefallen war. Der Sarkophag mit Szenen aus dem Leben der beiden Heiligen ist im Dommuseum von Udine ausgestellt.

Hermagoras und Fortunatus waren nicht die Einzigen, die in Aquileia für den neuen Glauben starben. Der Sarkophag der Canziani in der Basilika von Aquileia zeigt uns gleich vier Märtyrer: Canzius, Canzianus, Canzianilla sowie Protos, ihren Lehrer. Als Christen verfolgt, verließen sie Rom, wurden aber in Aquileia festgenommen und in Aquae Gradate, dem heutigen San Canzian d‘Isonzo, hingerichtet.

Das Christentum musste in den Untergrund gehen, gewann aber, je mehr es mit Rom bergab ging, an Bedeutung.

In Aquileia hatte, noch bevor Kaiser Konstantin (272 – 337) im Jahr 313 das Toleranzpatent erließ, eine ansehnliche christliche Glaubensgemeinde bestanden. In keiner Stadt außer in Rom war das Christentum gegenwärtiger als in Aquileia, dessen Bischof bald zu den höchsten Würdenträgern der römischen Kirche zählte. Nachdem die Christen bislang in Privathäusern und/​oder in unterirdischen Sälen zusammengekommen waren, konnte Bischof Theodorus († 319) die erste Kirche erbauen. Deren Fußbodenmosaik, mit 760 m2 das flächenmäßig größte frühchristliche der westlichen Welt, zeigt Christus als guten Hirten zwischen einer mystischen Herde von Schafen, Hirschen, Gazellen, Delfinen, Ziegen, Vögeln, Enten, Stelzvögeln und Fischen. Sie alle symbolisieren das Gottesvolk. Und als Hahn stellt Christus das Licht der Welt dar. Er kämpft gegen die Schildkröte an, die das Dunkel (im Griechischen bedeutet ihr Name „Bewohnerin der Finsternis“) verkörpert.

Der Sakralbau selbst, mehrfach verändert und erweitert, ist vom Typus her eine Basilika. Im antiken Rom dienten Basiliken als Markt- oder Gerichtshallen. Sie präsentierten sich als rechteckige, in eine Apsis mündende Räume mit einem hohen Mittelschiff und niedrigeren Seitenschiffen. Das Christentum versetzte die Apsis gegen Osten, also in Richtung Jerusalem, und schon war der kirchliche Bautypus geboren.

Feindliche Einfälle, wie jener der Hunnen im Jahr 452, veranlassten den Patriarchen von Aquileia, immer wieder nach Grado zu fliehen. Die dortige Isolation bedeutete Sicherheit. Als die Langobarden 568 erobernd ins Land kamen, entstand in Grado die Basilika Sant‘Eufemia. In den dogmatischen Auseinandersetzungen der Kirche blieb Grado im Gegensatz zu Aquileia byzantinisch beeinflusst. Die Folgen: Der einstige Fluchtort des Bischofs von Aquileia wurde ein eigenes Bistum. Und – innerkirchliche Zwistigkeiten und feindliche Einfälle ließen Aquileia zu einem „Banditennest“ verkommen. So zumindest wird der Ort in einem Lied aus dem 8. Jahrhundert bezeichnet.

 

Dem Niedergang folgte im Hochmittelalter eine neuerliche Blüte, als die römisch-deutschen Kaiser und Könige die Patriarchen von Aquileia förderten und mit ausgedehntem Landbesitz bedachten. Es waren ja Kirchenfürsten, die aus dem Norden kamen, wie Poppo (1019 – 1042), der mit weltlichem Namen Wolfgang hieß und aus dem Geschlecht der Traungauer stammte. Poppo ist im Apsisfresko in vornehmer Gesellschaft weltlicher wie kirchlichhimmlischer Persönlichkeiten, das Kirchenmodell haltend, dargestellt.

Später wurde der Bischofsitz nach Cividale bzw. nach Udine verlegt. Die Diözese blieb aber weiterhin flächenmäßig eine der größten und reichte über die Berge bis zur Drau, was diverse Hermagoras- und Kanzian-Patrozinien bzw. Ortsnamen in Kärnten verdeutlichen.

Viele Ähnlichkeiten mit Aquileia zeigt die Kirchengeschichte von Poreč. Die einstige Hauptstadt der Histrier erlangte eine wichtige Funktion im Rahmen der römischen Expansionspolitik. Wie Aquileia wurde Poreč eine Stätte frühen Christentums, hatte bald mit dem Bischof Maurus einen Märtyrer und auch hier finden wir das Fischmosaik als Symbol einer geheimen frühchristlichen Kultstätte.

Nach der Teilung des Römischen Imperiums überstrahlte Ostrom mit der Metropole Konstantinopel/​Byzanz den Westen: „Ex oriente lux“!

Die Kirche von San Vitale in Ravenna steht für den Höhepunkt der byzantinischen Herrschaft. Und von Ravenna führte der Weg gleich nach Poreč, das mit Istrien im 6. Jahrhundert unter byzantinische Herrschaft gekommen war. Durch Künstler aus Ravenna, aber auch aus Konstantinopel entstand hier die dreischiffige Euphrasius-Basilika, ausgestattet mit Marmor vom Marmarameer. Wandmosaiken aus Perlmutt und Gold verleihen dem monumentalen Bau eine überirdische Sphäre. 1977 wurde die Kirche in die Liste des Unesco-Weltkulturerbes aufgenommen.

Wie Poreč war auch Grado an der Ostkirche orientiert. Den Rang des Gradeser Patriarchen verdeutlicht die Basilika Sant‘Eufemia mit ihren antiken Säulen und ihrem Fußbodenmosaik, das die Wellenlinien des Meeresgrundes wiederholt. Die Kirchenheilige weist nach Byzanz: Euphemia erlitt 303/​304 in Chalcedon den Märtyrertod. Als die Perser den Ort einnahmen, kamen ihre Reliquien nach Konstantinopel. Euphemia hatte Gott ihre Keuschheit gelobt. Zur Zeit der Christenverfolgung habe man sie in den Kerker geworfen, ihr alle Zähne ausgerissen und sie schließlich verbrannt.

Ebenfalls zu Byzanz gehörte Cividale. Im Jahr 568 machten die ursprünglich „Winiler“ genannten Langobarden den Ort zum Sitz eines Herzogtums. Die Langobarden waren Krieger, die von den gar nicht friedfertigen Römern als roh und wild, also „barbarisch“ erachtet wurden. Als abstoßendes Beispiel sei der Langobardenkönig Alboin († 572) genannt, der aus dem Schädel seines Schwiegervaters einen Becher machen ließ und seine Frau zwang, daraus zu trinken. Umso anziehender sind die künstlerischen Relikte der langobardischen Herrschaft. Der Altar des Langobardenherzogs Ratchis in Cividale weist mit seinen klobigen, expressionistisch verkürzten Figuren und deren entrücktem Blick auf byzantinische Ikonen. Und mit dem so genannten Tempietto Longobardo verabschiedet sich die Spätantike mit einzigartigen weiblichen Figuren aus Kalkstuck. Sie erinnern in ihrer Aufreihung sowie in ihrem hoheitsvollen Stehen an die Mosaikdarstellungen in San Vitale, womit wir wieder in Ravenna sind.



Im Reich des Markuslöwen

Der heilige Markus war nicht nur in Aquileia. Den Evangelisten verschlug es mit seinem Schiffchen auch in die venezianische Lagune. Nach überstandenem Sturm in tiefen Schlaf versunken, sei ihm der Legende nach im Traum ein Engel erschienen. Und der Engel sprach: „Pax tibi, Marce, evangelista meus, hic requiescat corpus tuum“ (Friede sei mit dir, Markus, mein Evangelist, hier wird dein Leib ruhen).

Zudem wurde ihm prophezeit, dass an dieser seiner letzten Ruhestätte aus dem Schlamm der Lagune eine prächtige marmorne Stadt entstehen werde. Und diese Stadt sei auserwählt, den Ruhm des Evangelisten in alle Welt zu tragen. Nun erlitt aber der Heilige nicht an der nördlichen Adria, sondern im ägyptischen Alexandria den Märtyrertod.

Jahrhunderte später wuchs tatsächlich die Markus im Traum prophezeite Stadt aus dem Wasser der Adria – Venedig! Eine derartige Stadt brauchte einen identitätsstiftenden Heiligen. Was lag näher, als die Gebeine des Evangelisten aus Ägypten zu holen, sprich sie zu entwenden. Das wundergläubige Mittelalter fragte dabei nicht nach der Echtheit der Reliquie. Im Falle des Markus wird diese heute als höchst unwahrscheinlich erachtet.

Nicht unproblematisch war der Transport der heiligen Gebeine, zürnte Gott ob des Raubes? Das den Sarg transportierende Schiff strandete vor Umag. Doch die Bewohner des istrischen Ortes bemächtigten sich nicht der sterblichen Überreste, sondern übergaben diese dem Dogen von Venedig. Ab diesem Zeitpunkt stand Umag bei den Venezianern hoch im Kurs. Wir schreiben das Jahr 827. Venedig hatte seinen Heiligen in corpore und verkündete stolz, man genieße dessen Wohlwollen und stehe unter seinem besonderen Schutz. Markus bekam eine Kirche zu seinen Ehren und als Grablege. Doch im Jahr 976 brannte der Bau vollständig nieder. Und wie peinlich: die heiligen Gebeine waren weg.

Eine neue Kirche wurde errichtet und parallel dazu lief die Suche nach den Knochen. Es bedurfte eines Wunders. Dieses geschah, wenngleich es lange auf sich warten ließ. Endlich, im Jahr 1094 (!), bröckelte von einer alten Säule Gestein ab und gab die Reliquien frei. Markus war wieder da und ruht seitdem unter dem Hauptaltar der Basilica di San Marco.

Die wundersame Findung war umso wichtiger, als während seiner Absenz ein außerordentlicher Kult um den Stadtpatron erblüht war. Der Heilige hatte mehr politische denn religiöse Bedeutung erlangt, seitdem die Dogenrepublik mit einem Markusbanner auf dem Flaggschiff der venezianischen Kriegsflotte in See stach, um auf Gebietserwerb zu gehen. Im Jahr 900 besiegte der Doge Kroatien, das durch Thronstreitigkeiten geschwächt war. Die Region wurde in der Folge zum Zankapfel zwischen Ungarn und Venedig.

Als dann Venedig zur Zeit der Kreuzzüge zahlreiche Handelsstützpunkte im östlichen Mittelmeerraum eroberte, exportierte die Dogenrepublik die Markusverehrung auch dorthin. Mit dem Schlachtruf „Viva San Marco!“ stürmten die venezianischen Krieger an der Seite der Kreuzritter im Jahr 1204 das christliche Konstantinopel. Die venezianische Dominanz im Mittelmeerraum hatte damit begonnen und das war ganz im Sinne dessen, was der Engel einst dem heiligen Markus aufgetragen hatte: „Pax tibi, Marce“, las künftig alle Welt aus seinem aufgeschlagenen Buch, das der geflügelte Löwe in seiner Pranke hält. Nur bei Darstellungen, die sich auf Kriege oder Eroberungen beziehen, bleibt das Buch geschlossen.

Um 1300 verzichtete man auf die Abbildung der Person des Heiligen und so blieb nur sein Attribut, der Löwe, als Hoheitszeichen übrig.

Der bronzene Leu auf der östlichen Säule der Piazzetta nahe dem Dogenpalast ist wahrscheinlich der Stammvater aller venezianischen Säulenlöwen. Und diese finden sich in unserem Betrachtungsraum zuhauf, sind wir doch inmitten der terraferma, des Festlandterritoriums der Dogenrepublik. Treviso war die erste Stadt, die sich der Herrschaft der Serenissima1 unterordnete. Überall, wohin der Leu kam, thronte bald, wie beispielsweise in Feltre, der Markuslöwe auf dem Marktplatz, den wiederum Palazzi umrahmen, deren Erbauer das Design der Hauptstadt kopierten.

Wir finden den Markuslöwen weit im Norden, etwa in Pieve di Cadore, dort, wo sich die Dolomiten erheben. Seine Pranke reichte bis in das Val Belluno, die Übergangszone vom Mittelmeer zur Alpenwelt. Seit hier im Jahr 1404 die Ära des Markuslöwen begann, schmückte sich das Tal mit Herrschaftszeichen venezianischen Stils. Belluno selbst wurde Mittelpunkt einer bedeutenden Malerschule venezianischer Observanz und auch Cortina d’Ampezzo gehörte zur Magnifica Comunità. Der geflügelte Löwe brachte Uhrtürme, Bürgerhäuser mit Kielbogenarkaden und Plätze, die die Kulisse für Carlo Goldonis Bühnenstücke geben könnten. So gestaltete er auch Pordenone mit den venezianischen Arkadenhäusern und einem prachtvollen Torre dell‘orologio. Im Dom zum heiligen Markus (!) findet sich das Selbstporträt des Antonio de Sacchi (1483 – 1534), jenes Malers, der sich mit der Stadt dermaßen identifizierte, dass er sich „da Pordenone“ nannte.

Zu seinem „Zweitrevier“ machte der geflügelte Löwe ab 1429 die Stadt Udine, die zuvor durch die aus deutschen Landen kommenden Patriarchen von Aquileia Weiden genannt wurde. Auch hier bauten die Venezianer Venedig nach: einen Uhrturm mit Bronzemohren, einen Palazzo aus rosaweißem Marmor gleich dem Dogenpalast und so wie dieser mit den typischen Kielbögen und Rosettenfenstern ausgestattet. Eine Renaissanceloggia gibt es ebenso wie einen Brunnen. Alles kleiner als in Venedig, für Eva Bakos „nicht atemberaubend, sondern einladend“.



Die Ara Pacis in Medea: ein Monument für den Frieden


Jasons Drache als Wappentier von Ljubljana


Die Drachenbrücke in Ljubljana


Medea – Ortsname von einer sagenhaften Frau


Aquileia – Überreste der römischen Metropole


Der Löwe (Aquileia), ein Machtsymbol zu allen Zeiten


Artisten, Tiere, Sensationen bot die römische Arena von Pula.


Pula – Tempel zu Ehren der Göttin Roma und des Kaisers Augustus


Aquileia – das Motiv vom Fischfangmotiv


Aquileia – das Motiv vom Fischfangmotiv


Die Basilika von Aquileia


Grado – Blick auf Dom und Lagune

 

Basilika von Poreč


Rovinj – ein Venedig im Kleinformat


Der Kampanile in Venedig


Sein „Bruder“ in Piran


Byzantinische Mosaikkunst in der Euphrasiusbasilika von Poreč


Die Kirche des hl. Maurus in Izola

Wenig herrschaftliche Bauten hat Marano Lagunare, dafür umso mehr Porträtbüsten venezianischer Statthalter. Deren Pomp steht in einem grotesken Verhältnis zur simplen Umgebung dieser winzig kleinen venezianischen Herrschaft.

Auch entlang der istrischen Küste sowie im Inneren der Halbinsel hinterließ der Löwe seine Spuren. Die jahrhundertelange venezianische Herrschaft hat sich hier mannigfach niedergeschlagen, in der Lebensweise wie auch in der Sprache. Die (noch) ansässigen Italiener sprechen bzw. sprachen eine eigenartige Mischung aus dem venezianischen Dialekt und dem so genannten Altrömisch. Pier Paolo Pasolini war verliebt in Fažana, den zauberhaften Ort „des alten Venetien mit engen Gassen zum Meer“, mit grauem, unregelmäßigem Pflaster, mit kleinen Bogengängen, „mit wortkargen und schwermütigen Leuten, die ein wunderbares Venetisch sprechen (das Italienische haben sie vergessen, es ist ganz durch den Dialekt ersetzt)“.

Und natürlich dokumentiert sich Venedig auch auf der istrischen Halbinsel in der Architektur. In Rovinj wie auch in Piran finden sich Kopien des Campanile von der Piazza San Marco. Und man sagt, an gewissen Tagen wäre von ihrer luftigen Höhe am Horizont im Westen der „originale“ Markusturm ausnehmbar. Nur kann niemand dies aus eigener Erfahrung bestätigen.

Nicht immer war der Löwe friedlich. Äußerst blutrünstig gebärdete er sich in Koper. Als sich die Stadt im 13. Jahrhundert von Venedig loszulösen versuchte, schlug das „Imperium“ zurück und drehte die Schrauben (noch) enger. 1348 wütete in Venedig die Pest und lähmte die Stadt. Koper versuchte es wieder und abermals reagierte Venedig massiv: Eine Heerschar venezianischer Krieger massakrierte alle Aufständischen, die istrische Stadt wurde zur „Kolonie“.

Allmählich schwand die Macht Venedigs. Und obwohl es wenig zu triumphieren gab, eröffnete 1720 Floriano Francesconi auf der Piazza San Marco seine Kaffeebottega „Venezia trionfante“, das heutige „Florian“. Ja, je schlechter es der Republik ging, desto pompöser wurden ihre Feste, allen voran der Karneval.

Im Jahr 1797 bezwang Napoleon Bonaparte fast kampflos den zahnlosen und prankenschwachen Löwen. In der Villa Manin, dem Sommersitz des letzten Dogen, logierte der Korse – „eine Villa zu klein für einen König, zu groß für einen Grafen“ – nach dem Untergang der Serenissima. Besiegt hat Napoleon Venedig, begriffen aber nie.

In der Tat war Venedig anders als alle anderen Territorien, Herrschaften und Staaten: „Eine Stadt mitten im Meer, viel bestaunt und auch als ‚Biberrepublik‘ tituliert. Ihr Reichtum basierte auf dem festen Landbesitz, aber vor allem auf Beziehungen, auf Stützpunkten, auf Kolonien. Der Doge schien ohne nennenswerte Macht, der Adel ritt nicht, kämpfte, jagte und turnierte nicht. Vielmehr fuhr er auf Schiffen, kaufte und verkaufte. Das Volk, die Mittel- und Unterschichten, begehrte nicht auf, der Klerus gehorchte nicht dem Papst, Venedig gehörte weder zum Osten noch zum Westen, sondern nur sich selbst.“ (Achaz von Müller, *1943)

Venedig kam an Österreich. An die Stelle des Löwen trat der Adler, der habsburgische Doppeladler. Jahrzehnte später sollte die nationalistisch-italienische Geschichtsschreibung das Bild von einer glanzvollen venezianischen Regierung schreiben, der die österreichische Tyrannei gegenübergestellt wurde.

Mit den Habsburgern hatte Venedig etliche Fehden ausgetragen und einige Kriege geführt. So errichtete Venedig in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts die Festung Gradisca am Isonzo als Bollwerk – laut offizieller Version – gegen die osmanischen Türken. Dabei konnte Venedig mit dem „Erbfeind der Christenheit“ recht gut, wenn es um ökonomische Interessen ging: Der Geschäftspartner vom Bosporus durfte 1573 – in der Zeit der ärgsten Türkenbedrohung – sogar ein eigenes Kontor in der Lagunenstadt, den „Fondaco dei Turchi“, errichten! Nicht ohne Grund lautete am Rialto ein Sprichwort: „Veneziani poi cristiani“ (Wir sind zunächst einmal Venezianer, dann erst Christen).

In der Tat war Gradisca aber gegen die Habsburger gerichtet. Nachdem die Festungsstadt an diese gefallen war, schuf Venedig als „Ersatz“ 1593 Palmanova, die ideale Renaissancefestungsstadt: ein neunzackiger Stern mit einem sechseckigen Platz im Zentrum. Kerzengerade Straßen stellen die Verbindungen her.

Palmanova liegt geduckt in der Ebene. Der Gegner sollte in weitgehender Ungewissheit über Art und Größe der Anlage gelassen werden. Der sich nähernde Feind hätte nichts anderes als Erdwälle gesehen. Die Festungsstadt wurde für 20 000 Einwohner geplant. Aber nur circa 2 000 fanden sich bereit, hier zu wohnen, obwohl Venedig Verurteilten sogar Straffreiheit im Falle einer Ansiedlung gewährte. Heute macht der Ort einen unbevölkerten, ausgestorbenen Eindruck.


Venedig: Glockenturm und Dogenpalast

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?