Der Anfang vom Ende der Ewigkeit.

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Damals in den Siebzigern des letzten Jahrhunderts nannte man das aber noch nicht „ADHS“ oder „hyperaktiv“. Statt Tabletten und Therapien gab es tagsüber Schläge und nachts notfalls Bettfesseln. Im Mittelpunkt stand er schon wie zwanghaft in der Grundschule als Klassenkasper und seine Vorliebe für absurde Inszenierungen war legendär.

So wie anscheinend auch heute wieder: Der seit Anbeginn aller Zeiten berühmteste Sohn der Gemeinde Leiserheim lag ganz gegen seine Art reg- und lautlos in seltsamer Trachtenkostümierung zwischen Bierfässern hinterm Festzelt.

Die halb heruntergezogene Hose den mächtigen weißen, mit mysteriösen blauen Mustern tätowierten Hintern kaum bedeckend, eingenässt von Bier und Urin. Weiße Pulverreste um die Nasenlöcher, eine fette Albschnecke auf dem dicken Brillenglas vor dem linken Auge. Wie war dieses bizarr entwürdigende Arrangement zustande gekommen?

Sie hatten ihn eingeladen als „den“ Showakt für den Samstagabend der 1155-Jahr-Feier des Dorfes, aus dem er stammte. Und er hatte, nachdem der lokale Sponsor noch einmal kräftig nachlegte, erst nach einigem Zögern zugesagt. Schließlich lebte er zwar seit kurzem wieder in der Heimat seiner Kindheit, aber sehr zurückgezogen hinter den hohen Mauern seiner Villa am Wald oben.

Mit Fünfzehn hatte er die Kochlehre in einem Kaff namens Froschbach bei Biberach begonnen, wo er bei einer Tante unterm Dach wohnen konnte. Im Wirtshaus „Zum Ochsen“ gleich neben der Kirche schuftete er sieben Tage in der Woche von „Siabene“ in der Frühe bis „Älfe“ in der Nacht. Am Morgen ging es los mit stundenlangem Kartoffelschälen und den ersten Backpfeifen vom Ochsenwirt. Der brachte ihm so eindrücklich bei, wie man sparsam mit dem Rohmaterial umging. Es durfte auf keinen Fall zuviel weggeschält werden, „Bachl, bisch´d bacha? zahlsch Du däs? Do hosch!“ Und weil er schon heulte, konnte er gleich noch zwei Säcke Zwiebeln schälen und schneiden. „Demit d´woisch waromm d´hoilsch!“, witzelte der Wirt hämisch.

Dann hieß es Berge von Karotten und Sellerie zu putzen und zu zerkleinern. Für die Brühe musste er schon bedenklich stinkende Knochen mit Fleischresten daran aufsetzen und den Spätzlesteig rühren, bis der und die Hände Blasen warfen. Der Teig war natürlich ohne Eier, denn Spätzle mit Ei gab es, wenn überhaupt, nur sonntags. Die klebrige graue Mehlpampe schabte der Martin später in einen riesigen Topf mit siedendem Salzwasser für den Mittagstisch.

Auch in die Geheimnisse und Abgründe des Soßenmachens wurde der Kochnovize eingeführt. Es gab zwei Grundsorten, eine helle und eine dunkle. Mehl und Margarine bildeten bei beiden die Hauptzutaten, Butter kam aus Kostengründen nicht in Frage. Der Unterschied der mächtigen Tunken lag darin, dass man bei der dunklen Soße das Mehl im Fett dunkelbraun bis schwarz anröstete. Daraus rührte Martin mit Wasser eine pappige Allzweckpampe für Spätzle, Klöße und Jäger- sowie Zigeunerschnitzel, Fleischküchle oder Braten an. Bei Jägerschnitzelsoße warf er zusätzlich gummiartige Scheiben von grau angelaufenen und grauenhaft metallisch schmeckenden Dosenchampignons hinein, Zigeunerschnitzelsoße erhielt den letzten Pfiff durch matschige süßsaure rote Paprikastreifen aus dem Glas.

Zur „hella Sosa“ wurde neben Mehl etwas Milch verwendet. Eine allseits geschätzte Trauerbegleitung für den zu gräulichem Matsch verkochten Blumenkohl. Nach Art des Hauses und der damaligen Zeit würzte man großzügig aus der „Ligga“-Literflasche, wenn die Soße eine „donkla“, also braun war. Gerne setzte Martin die große Ligga-Flasche an die Lippen und nahm zur Stärkung zwischendurch heimlich einen Schluck der aromatischen Flüssigkeit, die ein Beben aus Abscheu und Verlangen durch seinen Körper schickte. Bei „weißer Soß“ gab es ein Schäufelchen vom „guten Bergli“-Streupulver aus dem Eimer, dem hellen Allround-Geschmacksverstärker. Pfeffer gab es nur in Form faden grauschwarzen Tütenpulvers, eine Mühle für frisch gemahlenes Gewürz war in der Küche nicht vorhanden. Salz nur in billigster Form, grobes Meersalz oder feines „Fleur de sel“ – solch „französischen Firlefanz“ lernte Bachel erst viel später kennen.

Gerufen wurde der Martin übrigens nicht beim Vor-, sondern beim Nachnamen, weil alle fanden, dass das besser zu ihm passt: „Bachl“. Das bedeutet im Schwäbischen so viel wie Dummkopf oder Trottel und so nennen die Schwaben gerne ihnen nicht sonderlich schlau erscheinende Mitmenschen. „Däs isch viellaicht a Bachl“ sagen sie und zum Martin sagten sie „gäh här du Bachl“. Zum Kochen brauchte er immer zwei Töpfe: einen auf dem Herd und einen unter seinen Füßen. Damit er als Fastzwerg überhaupt „schaffe konnt“.

Das erzählte er Jahre später in der Talkshow „Wie ich wurde, wer ich bin“, kurz „WIWWIB“, dem wie üblich vor Anteilnahme triefenden Moderator Hannes Speermann. Branchenspitzname „Heuchel-Hannes“. Keiner verkörperte in Mimik, Haltung und Gestik schiere Betroffenheit und größtes Mitleid so wie er. Scheinbar frei plauderte Martin hier über seine harte Kindheit und Jugend.

Das Hannes-Publikum musste ja nicht wissen, dass sein Imageberater alles vorher Punkt für Punkt über mit dem Redaktionsteam der Sendung abgesprochen hatte. Nichts erzählt hatte er von „speziellen“ Diensten, die er damals am und für den Ochsenwirt und andere verrichten musste. Die Erinnerung daran wäre ihm zu schmerzhaft und das Reden darüber zu peinlich gewesen. Er hatte früh erkannt, dass er sich eher für Männer interessierte. Das sprach sich unter denen schnell herum. Und manche von ihnen, die beim Hören des Gerüchtes besonders empört und verächtlich taten und obwohl verheiratet und sonntags als besonders fromme Kirchgänger unterwegs, nutzten das schamlos aus. Packten ihn bei Gelegenheit für schnelle Spiele in der Scheune oder auf der Toilette, knöpften ihre Hosen vor dem knienden Jungen auf, spritzten ihm in den Mund oder ins Gesicht oder ins Gesäß, drohten ihm mit Schlägen, falls er was sage, stießen ihn in den Dreck und sahen ihn mit verachtenden Blicken an, wenn sie ihn auf der Straße trafen.

Einer spuckte sogar einmal aus vor ihm, gerade der, dessen Schwanz einige Zeit lang gar nicht genug von seinen Händen, seinem Mund und seinem Hinterteil kriegen konnte. Dessen Lippen immer so schmerzhaft an seinem Schwanz saugten, dass Martin schreien musste, dessen Zunge sich mit seiner zu einem wilden nassen Tanz fand. Der beim Ficken immer stammelnd und stöhnend beteuerte, wie sehr er ihn liebe. Und der ihn natürlich im Stich ließ, verriet und verleugnete, als er seine Hilfe dringend gebraucht hätte.

Davon wollte er nichts mehr wissen, den Dreck war er endlich los, weil er jahrzehntelang hart geackert und geschuftet hatte. Außerdem waren hier im Fernsehen ja nette und harmlose Anekdoten gefordert zur Unterhaltung. Die Zuschauer wollten nach einem harten Tag auf der Couch mit fürchterlichen Gerichtsshows und elenden Schuldenschicksalen endlich etwas zu Lachen haben. Darauf hatten sie schließlich ein Grundrecht. Und das kriegten sie auch, oberflächlich und belanglos zwar, aber die Geschichte mit den zwei Töpfen kam zum Beispiel so gut an, dass die „Boing!-Zeitung“ am nächsten Tag titelte: „Zweitopf-Koch Bachel rettet die Albschnecke“.

Zweck des Besuchs bei Speermann war die Präsentation seines aktuellen Projektes: die Wiederentdeckung der schleimigen Häuschenträger als regionalem Highlight für Gourmets. Frisch von der Alb, aus den „Schneckengärten der Königin von Saba“, wie einst Eduard Mörike im „Stuttgarter Hutzelmännlein“ schrieb. Ja, der Koch hatte sich vorbereitet und sogar alte Literatur gesichtet. Dafür ließ er sich auch von „Goodfood“ vor den medialen Karren spannen, der „Organidzsation gutverdienender Geniedzßerdzspiedzßer“ – so Bachel „off räkkordsz“ gegenüber seinem Berater.

Die gehobenen Gourmets des elitären Clubs philosophierten gerne und ausführlich über die karge, aber äußerst gesunde Armenküche der Alb, wenn sie sich mal wieder überfressen hatten an Black Angus-Rind, Straußensteak und Hummer.

„Goodfood“ versprach sich hippe Publicity mit dem Kochfreak und Bachel wiederum erhoffte sich ein positives Image. Das konnte er gut gebrauchen, wenn er demnächst seinen Super-Coup landen würde. Die Verhandlungen mit dem mächtigen LEHA-Konzern waren nämlich so gut wie abgeschlossen. Als gutbezahlter frecher „Food-Scout“ sollte er für den Diskounterriesen regionale Convenience-Produkte suchen, finden und schließlich mit seinem schrillen Konterfei bewerben. Die wollte der Konzern als neue Produktreihe „LiEbe HeimAt“ groß vermarkten.

Bachel wurde rasch fündig. Warum nicht zum Start den Schwaben-Klassiker „Linsen, Spätzle und Saitenwürstle“ gekühlt im Vakupack anbieten? Vakuumiert und gekühlt blieb das Produkt wochenlang frisch, sogar ohne künstliche Hilfsmittel und das müsste dann natürlich fett vorne auf der Packung stehen: “Regionales Produkt, wie von Oma selbst gekocht, ohne Konservierungs-, Farb- und Aromastoffe!“ Das Ganze könnte man bei Erfolg der Billigausgabe später in einer Premium- oder gar Bio-Linie anbieten, auch das müsste laufen. Denn es war ja wirklich genial einfach und auch für absolute Nichtköche geeignet: Tüten aufreißen, nur noch kurz erhitzen und fertig!

Sogar Senf und etwas Essig sollten der Packung in Portionsbeutelchen beiliegen. Bisher musste man sich das ja alles mühsam einzeln zusammensuchen: Die Würstchen im Kühlregal oder an der Bedientheke hinter entschlussunfreudigen Rentnerinnen „vialleicht do no oi, zwoi Rädle vo dr Lüonär odr do liaber Schinkawurscht, wos moinet Se?“. Die Linsen in Dosen standen bei den Konserven oder zum zeitaufwändigen Selberkochen im Päckle bei den Trockenerbsen. In einem Kühlregal lagerten die Spätzle zum Warmmachen in der Pfanne oder bei den Trockennudeln wiederum die zum Kochen. Für ganz mutige Spätzleselbstschaber gab es Mehl und Eier aus weiteren Lagerplätzen, den Essig und den Senf wieder ein paar Regalmeter weiter … schrecklich und das im 21. Jahrhundert! Bald aber, in nicht allzu ferner Zukunft, konnten die Kunden mit einem Griff, die komplette Mahlzeit in ihren Wagen befördern. Noch dazu „zum günstigen Preis und trotzdem in guter Qualität von regionalen Erzeugern“. Das musste die Einkaufsabteilung der LEHA doch überzeugen.

 

Bachel war sich ganz sicher, diesmal aufs richtige Pferd zu setzen. Anders als vor zwei Jahren. Damals war er mit viel Geld aus versteuerten Fernsehgagen und anderen eher unversteuerbaren Einnahmen in das zunächst sehr vielversprechende Bauprojekt auf der Alb eingestiegen. Diesen Freizeitpark nach Vorbild des Europa-Parks in Rust, angesiedelt auf dem Gelände des ehemaligen Panzerübungsplatzes - und heutigen Biosphärenreservats. Mit allem Pipapo, wie er damals schwärmte, also Achterbahnen, Karussells, Wildwasserattraktionen ...

Da war er so richtig auf die Schnauze gefallen, mit dem „sensationellen Steuersparmodell für Freiberufler“, den kriminellen Bankberater könnte er heute noch dafür umbringen. Nichts außer Verlusten und Schulden und keiner, der einen Rettungsschirm für ihn aufspannte. Seine letzte Hoffnung war der Werbedeal.

Und er hatte ja noch jede Menge Ideen für weitere Convenience-Knüller: „Schäufele, Kraut und Kartoffelstampf“, „Käs´Spätzle“ und Maultaschen, natürlich mit fertiger Zwiebelschmelze, ebenso „Schupfnudeln mit Kraut“. Eventuell „Saure Nierle in Trollingersauce mit Bratkartoffeln“? Aber da hieß es erst mal experimentieren, wie lange das hält und wie die Konsistenz der Nierchen sich entwickelt. Gummiartig und quietschend an den Zähnen war ja nicht schlimm, nein sogar produkttypisch, so kannte und liebte es der Schwabe. Schlecht wäre es, wenn die Innereien durch die Lagerung in der Sauce entweder zu weich oder zu hart würden. Deswegen zögerte er auch mit Leber-Gerichten, obwohl die Kombination mit Kartoffelbrei und gebräunten Zwiebeln in Soße verlockend klang. Was für ihn gar nicht ging, waren „Saure Kutteln“ oder „Ochsenmaulsalat“. Er wollte sich nicht einmal vorstellen, wie das im Vakupack aussehen könnte, geschweige denn den Geschmack. Er fand diese Gerichte schon im „frischen“ Zustand extrem widerlich, geradezu brechreizerregend, um nicht zu sagen „zom kozze“. Bäh, ihn schüttelte allein der Gedanke an das Mundgefühl dieser traditionellen Landesspeisen. Aber andererseits, wenn die LEHA diese Scheußlichkeiten unbedingt im Sortiment haben wollte und zahlte ...?

Er würde einen Weg finden. Schnell an etwas anderes denken, zum Beispiel an einen Nachtisch wie „Milchreis mit Zimt“, aber das war ja nicht unbedingt regional, aber halt mal, natürlich: ein typisch schwäbisches Dessert, der „Ofenschlupfer mit Vanillesauce und Kirschkompott“, Wahnsinn, lecker, Bachel, Du bisch halt oifach genial! – so gratulierte er sich gerne selbst nach einer oder zwei Flaschen Bordeaux. Die brauchte er täglich zur Inspiration für seine Produktideen und abends einfach so zur Entspannung.

Jawohl, „Boohdooh“, denn Trollinger konnte er „pattuu“ nicht ausstehen. Dieses meist lauwarme limonadig grauenhafte nur zum Schein weinartige aus welchem Grund auch immer Kult-Getränk des hiesigen und damit – leider - seines Volksstammes.

Den trank er nur fürs Publikum zu offiziellen Anlässen als Botschafter seines Landes. Oder ließ sich, wenn es ging, von seinem Assistenten heimlich wenigstens einen feinen farbähnlichen Burgunder ins Glas schenken. So kam er französisch beschwingt durch seine regionalen Kochshows. Wein, richtiger Wein, das war für ihn etwas ganz anderes. Viel mehr als ein aus mehr oder weniger vergorenem Traubensaft hergestelltes alkoholhaltiges Getränk, wie es hier im Ländle leider immer noch allzu häufig praktiziert wurde.

Mit Schaudern dachte er an die mit Limonadenflaschenschraubverschlüssen versehenen Liter-Weine aus manchen Genossenschaftskellereien. Die überschwemmten mit ihren fruchtsaftigen Trollingern und süßsauren Rieslingen regelrecht das Land und waren in jedem Supermarkt „günschtichst“ vertreten. Und weil sie für aufgeklärtere Kunden ganz modern daher kommen wollten, legten sie schwache rote Tropfen jetzt in neue Eichenfässer, „Cuvée Barrique“ oder verkauften früher als Semsakrebsler verschriene aromafreie aber dafür sehr saure Weißweine als „Riesling brut“ und machten zur Verkaufsförderung 2 Sterne drauf. Läuft!

„Dadzs Zeug idzst ein Getränk für Menschen, die Wein eigentlich nicht mögen“, hatte er einmal gegenüber einem Reporter leichtfertig und weinselig fallen lassen. Und er musste dann mühsam sein Image wieder aufpolieren, weil der Pressefuzzi die Steilvorlage genutzt und getextet hatte „Schwabenkoch Bachel hasst Trollinger“. Er trank sogar zur Wiedergutmachung in einer Südfunk-Sendung öffentlich ein Viertele Korber Kopf aus dem Henkelglas. Was er kurz danach bitter bereute, da er seine Waghalsigkeit mit Magenkrämpfen, Sodbrennen, Übelkeit, dauerhaftem Durchfall und rasend pochenden Kopfschmerzen bezahlte. Sein Imageberater hatte ihn quasi dazu gezwungen, sonst drohe ihm der LEHA-Auftrag wegzubrechen. Nein, Wein war für ihn das exakte Gegenteil dessen, was er hierzuländle meist im Glas vorfand.

Wein ist – so dichtete er einmal vollmundig für das Hochglanz-Gourmetmagazin „Reisen und Speisen“ - eine köstliche Essenz aus Zeit und Raum, des Lebens und der Elemente. Trinkbare Philosophie gewissermaßen. Das leuchtende Feuer der Sonne aus den unendlichen Tiefen des Alls kommend trifft auf ein Staubkorn namens Erde. Aus der dunklen dünnen Humushülle des Planeten sprießen wie durch ein Wunder mit aller Kraft die Pflanzen.

Zum Lichte sich reckend und dieses in Süße verwandelnd, lässt sich die Rebe vom ewigen Kreislauf des Wassers Nahrung bringen: Mineralien aus den Steinen, Dünger aus dem Boden. Kühlung verschafft der Atemhauch des Windes. So ist der Wind die Sprache der Sonne und die Sonne treibt das Wasser rings um den Planeten und das seit Anbeginn der Zeiten.

All das zusammen bringt die Rebe und ihre Früchte in ihre höchste Form, begleitet von ihrem Freund, dem Winzer im Weinberg. Wie durch ein weiteres Wunder verwandelt sich im Herbst im kühlen Keller der Rebensaft. Abermillionen von winzigen Lebewesen verzaubern den flüssigen Lichtzucker fröhlich glucksend in ein feurig wärmendes köstliches Getränk. Und so wird die fruchtige Essenz der Elemente zu einem kostbaren Genuss für Geist und Gaumen und perfekten Begleiter wohlschmeckender Speisen ...

So ausschweifend schwafelnd pflegte er auch die kulinarischen Weinabende in seinem Lokal einzuleiten. „Ködsztliche Edsszendz audsz Raum und Zdszeit …wohldsdzchmeckende Sdzpeidszen …“. Wer da das zweifelhafte Glück hatte, in der ersten Reihe zu sitzen, wurde im übertragenen Sinne geduscht vom sprudelnden Wortschwall des lustvollen Lisplers. Und ganz real von den vielen Wassertröpfchen, die sich zwischen den Zähnen von der Zungenspitze lösten. Und sich aufmachten, den ewigen Kreislauf des Wassers von neuem zu beginnen.

All das Feine, Leichte, Schöne fand Bachel zumindest im schwäbischen Teil seines Landes nicht. Statt köstlichem Wein entweder zu süße oder zu saure Durstlöscher, dazu ein Essen, das nicht mehr war als schwerer Magenfüller und billiger Sattmacher. Aber das war wohl eine zwangsläufige Manifestierung des Volkscharakters der Schwaben. Die hatten hinter ihren Bergen in den finsteren Tälern oder auf der windigen rauen Hochebene das Lachen und die Lust am Leben eben nie gelernt. Oder mit ihrem traurigen selbstmitleidigen und deshalb andere, vor allem andersartige piesackenden Pietismus verlernt. Wo der Badener mit französisch anmutender Leichtigkeit fröhlich singend sein Dasein meistert, da bruddelt und hadert der Schwabe: mit sich und den anderen also Gott und der Welt und dem Schicksal und freut sich allenfalls aufs Jenseits. „Savoir mourire“ statt „savoire vivre“.

Bachel hasste Land und Leute seit der Kindheit. Diese Mischung aus Misstrauen allem gegenüber, was anders war. Knitze Bauernschläue gepaart mit verdruckster Bösartigkeit. Spießerhaft heuchlerisch lustfeindlichem evangelischen Duckmäusertum, Geiz, Kontrollsucht, Blockwartsmentalität, Borniertheit, „däs hämmr scho immr so gmacht“ … die Liste der Gründe, die ach so schöne Heimat zu verlassen war lang.

Der Mann auf dem Fass stöhnte vor Schmerz auf. Sein Bewusstsein meldete sich zurück. Wo war er? Was war passiert? Warum lag er im Matsch? Fast erstickt? Hatte er einen Hörsturz? Nein, sein linkes Ohr war bis zum Trommelfell gefüllt mit Morast. Die schreckliche Schnecke auf dem Auge. Er musste hier weg, sofort. Er durfte auf keinen Fall so gefunden werden.

Ebendieser Sonntag, 15. Juli, fünf Uhr in der Frühe, eine Wohnung im Asemwald, einem fürchterlich monumentalen Hochhausensemble mit mehreren tausend Bewohnern auf den Fildern zwischen Stuttgart und der Alb ...

Das verfluchte Telefon riss ihn aus dem viel zu kurzen Schlaf. Warum hatte er es auch nicht abgestellt gestern Nacht, als er - wann genau eigentlich? - nach Hause kam? Geschlafen hatte er jedenfalls so gut wie nicht. Mit übervollem Magen unruhig sich gewälzt, aufgeputscht vom vielen Alkohol und dem immer wiederkehrenden Albtraum:

Das große flache warme Meer, die Echsen am Himmel und im Wasser, fressen und gefressen werden, es gibt kein gut, kein böse. Der Kampf ums Überleben kennt keine Moral. Die kalkigen Knochen und Schalen der seelenlosen Kreaturen sinken zum Grund des Gewässers. Sie bilden hunderte Meter dicke Schichten aus Gräten, Gebein und Muschelkalk im Laufe der Jahrmillionen, heben - von Afrika geschoben - sich schließlich als Gebirge auf. Verwittern in saurem Regen, Frost und Wind. Werden wieder erobert von Pflanze, Tier ... und dem neu entstandenen Denksäuger Mensch.

Musikalische Jäger erfinden vor 40.000 Jahren die Kunst. Schnitzen abends am Lagerfeuer dünne Flöten aus Schwanenknochen und mythische Löwenmänner aus dem Elfenbein der Mammuts, hauen drallrunde Urmütter mit weichen Formen aus hartem Stein. Endlich endet die Eiszeit. Hirten ziehen mit ihren Schafherden auf der Hochfläche umher. Bauern säen Linsen und Gerste, züchten Büffel und Schnecken. Kelten bringen hohe Kultur und lebhaften Kommerz. Reiche Städte mit dicken Mauern, stolze Schlösser und Burgen, Blüte und Niedergang.

Dreißig Jahre Krieg und Pest, Hunger und Brandschatzung. Der kalte Wind pfeift durch die armseligen verfallenden Hütten. Mütter sterben schwindsüchtig hustend im Kindbett. Das gelobte Land jenseits des großen Ozeans ruft die verlorenen Söhne und Töchter der kargen Hochebene. Zeit zu gehen, etwas besseres als den Tod finden wir überall.

Aber auch der Tod findet uns überall: Die Fahrt mit Karin, der entgegenkommende Wagen, der Unfall, ihr Sterben ...

Es war doch Sonntag, verdammt, der Wecker zeigte kurz nach 5 Uhr. Über der Alb, als wundersam blaue Mauer ausgestreckt, kam langsam die Sonne hoch. Er hätte das sehen können, wenn er auf den Balkon gegangen wäre, hier oben in seiner Wohnung auf gut 60 Metern Höhe. Er wohnte im 18. Stock des südlichen Querriegels des sogenannten Hannibal-Komplexes der drei Asemwald-Hochhäuser, die er spaßeshalber Caspar, Melchior und Balthasar getauft hatte. Sein Turm war der Letztere.

Bei klarer Sicht wie heute waren geradeaus die Ruine der Burg Hohen-Neuffen und weiter rechts der Kegel der Achalm deutlich zu erkennen. „Hochreiter, “ krächzte der viel zu früh geweckte mit rauher Stimme, „wer sind Sie, was wollen Sie?“ Die angezeigte Nummer kannte er nicht. „I benn´dzs, der Martin Bachel, i brauch Ihra Hilf“, kam die Antwort leise und mit zitternder Stimme. „Bachel. kenn´ ich nicht! Wissen Sie eigentlich, wie viel Uhr es ist? und reden Sie gefälligst deutsch mit mir!“ „Entschuldiget Dzsie bitte die Störung, Herr Hochreiter, leget Dzsie bitte net auf, edzs idzsch a echta Notfall… i hoabb´ Angdzscht … i hoabb dzso Angdzscht!“

Jetzt machte es doch „Klick“ im benebelten Brummschädel: Bachel, Martin Bachel … das war doch dieser durchgeknallte Kochfuzzi, mit dem affektiert französisch eingefärbten Albakzent und dem schrecklichsten Sprachfehler, den er je gehört hatte. Außer bei dieser Nachrichtensprecherin auf einem Privatfernsehsender, wie hieß die noch gleich? Sehr, sehr blond war sie ... egal. Den Typen hatte er doch vor zwei Wochen in dieser wirklich widerlichen „WIWWIB“-Talkshow getroffen, in die sie beide neben anderen irritierenden Gästen eingeladen waren.

 

Freitag, 29. Juni, 23 Uhr, ein Fernsehstudio in Stuttgart

Thema des Talk-Abends war „Teure Heimat – geliebt oder gehasst?“ Das hätte spannend werden können. Aber der TV-Südfunk verstand seinen Programmauftrag üblicherweise darin, die Zuschauer heimattümelnd einzulullen und die Sponsoren bestens zu bedienen. Hieß an diesem Abend, dass die LEHA vertreten wurde durch diesen Bachel. Der mimte den heimatverbundenen Koch aus kleinen Verhältnissen. Ein Freund aller Menschen, der nach harter Kindheit und Jugend nun, auf dem bisherigen Höhepunkt seines Erfolges etwas zurückgeben wollte an die Menschen seiner Heimat. Denen und der er doch so viel verdanke und so weiter und so fort.

Nicht zum Aushalten dieses Geschwätz! Und dann noch die anderen schrecklichen Gäste: Susanne „Sanne“ Staißbein, selbst Moderatorinnen-Urgestein beim TV-Südfunk mit seit Jahrzehnten furchtbaren und leider erfolgreichen Formaten wie der alljährlichen „Häs-Parade“, einer unsäglichen Fastnachtsreportage oder „Woas gibbs denn hait?“ – dieser grässlichen monatlichen Heimat-Kochshow oder noch schlimmer ihr „Sonntagsausflug“ – eine entsetzliche Heimat-Musiksendung im Stil des „Mutantenstadels“, aber sogar noch jenseits dessen unterirdischem Niveau und das wöchentlich. Gegen die Staißbein ist die Clara Niesel ja eine wahre Lichtgestalt der Moderation, schoss es Hochreiter durch den langsam heller werdenden Kopf. „Herr Hochreiter, dzsennd Dzsie noch dra? Henn Dzsie mi verdzschtande ähh .. Haben Dzsie mich verdzstanden?“ „Ja, Bachel, habe ich, Sie haben Angst. Wer hat das nicht? Und was habe ich damit zu tun?“

Er versuchte, seine Gedanken weiter zu ordnen. Diese gruselige Talkshow vor gut zwei Wochen in Stuttgart im großen Sendesaal des Landesstudios. Dieser dekoriert mit grellfarbigen Wandmalereien im Stil einer Mischung aus 1000-jährigem Reich-Kitsch und DDR-Arbeiter- und Bauernsozialismusromantik. Die fürchterlichen Fresken stellten allerliebst Albhügel dar, den Schwarzwald, das Neckartal, den Bodensee und historisches Gemäuer mit trachtengewandeten fröhlichen Winzern, Schäfern, Fischern, Bürgern und Bauern bei Arbeit, Tanz und Trunk. Eingestreut in den Bollenhutkitsch waren die postmodernen Museums-Bauwerke von Daimler und Porsche sowie die Bullaugen des sehr, sehr zukünftigen Maulwurfbahnhofs in der Mitte der Landeshauptstadt.

Fehlten eigentlich nur noch Plakate der im Ländle ansässigen Pharma- und Baufirmen. Aber das war nicht wirklich nötig, denn weitere Gäste waren ja ihre Lobbyrepräsentanten wie der dicke, polternde Franz Bonzel. Größter Tunnelbauer im Lande, der trotz des undankbaren und lang anhaltenden, aber letztlich gottoderwemauchimmerseidank glücklosen Volksprotestes gegen die Bahnwohltaten immer noch tapfer hiergeblieben war. Und nicht, wie angedroht, nach China ausgewandert war, wo man als „Undärnämä“ noch bauen durfte, ausgerechnet „bei de Kummunischde“ wo und wie man wollte und keine „Prodäschtler“ störten und das sollte „dene onser Herr Exkummunischde-Minischderpräsidänt erscht amol nachmachte“. Oder der nette Herr Hans M. Walter von der SANA. Die lieferten die Pillen, mit denen man die Kopfschmerzen betäuben konnte. Die bekam man nämlich, wenn man sich dieses Geflecht von Macht, Interessen und Geschäften genauer betrachtete.

Sonntag, 15. Juli, kurz nach fünf Uhr in der Frühe, wir schalten zurück ins Telefonat zwischen Alb und Asemwald und damit in die Gegenwart ...

Kopfschmerzen, ja, da waren sie wieder. Aber diesmal kamen sie wohl vom Wein. War einfach zu viel gestern, bin halt nicht mehr dreißig, geschweige denn vierzig, sondern weit über fünfzig, schon fast sechzig … „Scheiße!“ Der alte Hochreiter stöhnte und setzte gequält hinzu: „Mal langsam, Bachel! Ja, wir haben uns neulich in dieser blöden Talkshow getroffen, ich erinnere mich, aber was verdammt, wollen Sie jetzt in aller Herrgottsfrühe von mir?“

„Er idzsch weg, oifach weg, i hann Angdzscht “ „Wer ist weg?“ „Der Yakku, der Yakku …“ jammerte Bachel. „Und wer ist der Yaakkuu? Ihr Hund oder was?“ „der Yakku idzsch, der Ya der Ya Ya …aaatdzschie!“ Bachel nieste derart laut ins Telefon, dass Hochreiter vor Schreck , zusammenzuckte, „Entschuldigung, der Yakku idzsch … Bachel zögerte, bevor es heraus war: Der Yakku idzsch halt … mein Freund“ „Wie mein Freund?“ „Na halt mein, mein Lebendzs ... äh ... Partner, mein Mann halt, verdzstehen Dzsie?“

Hochreiter verstand: Aha, der Koch war schwul – hatte er doch schon bei der Fernsehsendung geahnt. Diese typischen Handbewegungen ... war ihm aber ziemlich egal. Warum sollten eigentlich nur Friseure schwul sein? Soll doch jeder machen, was er will und lieben wen er will oder auch einfach nur vögeln, weil er will. Aber dass der noch dazu wohl auch völlig gaga war und ihn deswegen anrief, weil ihm sein Kerl weggelaufen war? „Bachel, was wollen Sie von mir? Ich bin nicht die Telefonseelsorge!“ „Dzsie müddzzssen ihn finden, dzsondzst dzstirbt er!“ Flehte Bachel schniefend. Mein Gott, warum glaubte diese jammernde Kochtunte eigentlich, man hätte sonntags um Fünf nichts anderes vor? „Ich gäbb Ihne ... Tzwandtzichtaudszend Euro.“ Pause, laaaange Pause … dann klickte es endlich in seinem Kopf. „Habe ich das richtig verstanden, Sie zahlen mir zwanzig Tausend Euro?“ Wenn das stimmte, dann wäre er auf einen Schlag einige seiner Sorgen los, und zwar die größten.

Die Geschäfte liefen zurzeit nicht wirklich gut, ehrlich gesagt, sogar miserabel. Der letzte Ermittlungsauftrag lag fast zwei Monate zurück, das Honorar dafür war längst verbraucht und das Konto im Minus, der Dispolimit fast geknackt. Die Bücher, die er seit Jahren nebenbei schrieb, waren wahrlich kein Renner und brachten nicht mal die Kosten für die von ihm finanzierten Recherchereisen ein. „Echte Küche“ hieß die bei einem regionalen Kleinverlag in Mini-Auflage erscheinende Reihe, die verschiedene Regionen Deutschlands kulinarisch vorstellte. Lief nicht. Er hatte halt keine Prominase, die er auf dem Cover präsentieren konnte.

Nach dem Tod seiner Frau vor sieben Jahren hatte er nicht mehr als Gerichts-und Polizeireporter arbeiten können. Und er war mal verdammt gut in seinem Job. Er hatte es sich nicht nehmen lassen, spektakuläre Fälle vom Tatort bis vor Gericht zu begleiten. Er schmeckte gleichsam – so erzählte er es früher gerne dem schaudernden Publikum, als ihm noch jemand zuhörte - „den Blutgeruch noch in der Nase“, wenn er Verwandte von Opfern und Tätern befragte. Wenn er Zeugen interviewte oder bei Pressekonferenzen der Polizei und Staatsanwaltschaft unbequeme Fragen stellte.

Er war immer gut vorbereitet, arbeitete sich akribisch ein in die Psychologie des Falles und der Beteiligten. Er versuchte, in die Abgründe der Seele von Mördern einzutauchen. Nachts wachte er kaltschweißnass auf von den schrecklichen Bildern, die wie in einer Endlosschleife abliefen: In ihrem Führerhaus eingeklemmt verbrannte Trucker, in der Hitze absurd verkrümmt wie Darsteller im modernen Tanztheater. Von Messern und Äxten zu Hackfleisch zerstückelte Leichen. Zerschossene Schädel. Das teuflische Grinsen eiskalter Mörder. Das glückselige Lächeln des ermordeten Kindes auf dem letzten Foto. Aufgenommen zwei Tage vor seinem grausamen Tod. Beim Ausblasen der sieben Kerzen auf der Geburtstagstorte. Sieben, nur sieben …

Er konnte es nicht mehr ertragen, vor sich all die seltsam der Welt entrückten, entsetzten, neben sich stehenden Menschen sehen zu müssen. Mit ihnen reden zu müssen. Ihr Schicksal an sich heranlassen zu müssen. Egal ob sie Täter waren oder Opfer. Schuldig oder nicht, geständig oder Lügner. Die Berichte der Betroffenen gingen ihm zu nah. Wie das des Mädchens von der Alb, jahrelang missbraucht vom eigenen Vater, der den Gerichtssaal feixend als freier Mann verließ ...