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Theologisch gewann er durch das Damaskusgeschehen die Einsicht, dass der Gekreuzigte der Messias ist.47 Diese Erkenntnis läuft wie ein roter Faden durch die Briefe, und der Begriff »Kreuz« ist in den paulinischen Briefen viel häufiger zu finden als in den anderen ntl. und frühchristlichen Schriften. Man vgl. dazu die Erläuterungen zum »Kreuz Christi« in 1Kor 1,17 (»… damit nicht das Kreuz Christi zunichte werde«); Gal 6,14 (»Es sei aber fern von mir, mich zu rühmen als allein des Kreuzes unseres Herrn Jesus Christus, durch den mir die Welt gekreuzigt ist und ich der Welt«); Phil 3,18 (»Denn viele wandeln so, von denen ich euch oft gesagt habe, nun aber sage ich’s unter Tränen: sie sind die Feinde des Kreuzes Christi«), die Ausführungen zum »Wort vom Kreuz« in 1Kor 1,18, zum Ärgernis des Kreuzes in 1Kor 1,23; Gal 5,11 und schließlich die Betonung, dass Jesus am Kreuz den Tod erlitten hat (Phil 2,8 [»gehorsam bis zum Tode, bis zum Tode am Kreuz«]). Man vgl. ferner die Darlegungen zum Gekreuzigten 1Kor 1,23 (»Wir aber predigen den gekreuzigten Christus, den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit«); 1Kor 2,2 (»Denn ich hielt es für richtig, unter euch nichts zu wissen als allein Jesus Christus, den Gekreuzigten«) oder die Erkenntnis, dass die Christen mit Christus mitgekreuzigt worden seien (vgl. Gal 2,19; Röm 6,6).

»Mitgekreuzigt werden« bezeichnet hierbei eine gegenwärtige Beziehung zu dem gekreuzigten Christus. Paulus setzt also bei seinen Kreuzesaussagen das historische Kreuzesgeschehen voraus, immer aber so, dass das Kreuz und der Gekreuzigte unmittelbar in die Gegenwart hineinwirken.48

Von dieser im Damaskusgeschehen gewonnenen Einsicht, dass der Gekreuzigte der Messias ist, leitet Paulus auch das Gegensatzpaar Gesetz/​Christus ab, dass nämlich Gott dem Gesetz durch den Kreuzestod des Messias an entscheidender Stelle widersprochen hat und Leben, zu dem das Gesetz ursprünglich gegeben war (Röm 7,10), fortan in Christus gegenwärtig ist. Von daher ergab sich für den ausgebildeten Theologen Paulus als Aufgabe, Gesetz und Christus in ein neues Verhältnis zu setzen. Im Rückblick spricht er diese neue Einsicht Gal 2,16 aus:

»Da wir aber wissen,

dass der Mensch nicht aus Werken des Gesetzes gerechtfertigt wird, sondern durch den Glauben an Christus Jesus,

sind auch wir zum Glauben an Christus Jesus gekommen, damit wir gerechtfertigt werden aus Glauben an Christus und nicht aus Werken des Gesetzes, weil aus Werken des Gesetzes kein Fleisch gerechtfertigt wird.«

Dabei ist es relativ gleichgültig, ob Paulus bereits zur Zeit des Damaskusereignisses jene Formulierungen gefunden hat oder nicht – jedenfalls ist klar, dass die Rechtfertigungslehre im Damaskuserlebnis enthalten ist und von Anfang an die Struktur der paulinischen Theologie darstellt, auch dort, wo sie sprachlich durch verschiedene Bilder ausgedrückt wird, z. B. in den Bildern vom Loskauf (1Kor 6,20), der Sühne (Röm 3,25), der Versöhnung (2Kor 5,18), des Mündigwerdens (Gal 4), des Gestaltwandels (2Kor 3,18 – 4,6) oder der Vereinigung (1Kor 6,15 – 17).

Mit dem Damaskusgeschehen beginnt der zweite Teil des Lebens des Paulus, das von einer rastlosen Tätigkeit geprägt ist.

Chronologie

Bei seiner Bekehrung war Paulus ca. 30 Jahre alt, denn in dem gegen Mitte der fünfziger Jahre geschriebenen Brief an Philemon (V. 9) nennt er sich einen älteren Mann (etwa 50 – 56 Jahre).

Die christliche Zeit im Leben des Paulus lässt sich in zwei Phasen einteilen: von der Bekehrung (ca. 32) bis zur Jerusalemer Konferenz (ca. 47) und von der Konferenz bis zur Gefangenschaft in Rom (ca. 57).

Bis vor kurzem meinte man, alle echten paulinischen Briefe stammten aus dem zweiten Zeitabschnitt. Doch mehren sich neuerdings die Stimmen, dass der 1Thess, der allgemein als der älteste erhaltene Paulusbrief angesehen wird, aus dem ersten Zeitabschnitt stammen könnte.49

Während die Verfechter der zuerst angeführten These darauf verweisen, dass der Apg zufolge die Gemeinden Griechenlands erst nach der Jerusalemer Konferenz (Apg 15/​Gal 2) gegründet wurden, benutzen die Verfechter der zuletzt genannten Ansicht als Kriterium der Datierung die allein auf der Grundlage der paulinischen Briefe zu gewinnenden Angaben über die Kollekte, die lt. Gal 2,10 auf der Jerusalemer Konferenz beschlossen wurde. Je nach dem, in welcher Entwicklungsphase sich die Kollekte befindet, werden dann die Briefe datiert. Das Fehlen des Kollektenthemas in 1Thess und Phil (und Phlm) erkläre sich dadurch, dass das Kollektenwerk zum Zeitpunkt der Abfassung dieser Briefe nicht bestanden habe, z. Zt. des 1Thess noch nicht – daher die Abfassung dieses Briefes vor der Konferenz –, z. Zt. des Phil nicht mehr, weil dieser Brief nach Abschluss der Kollekte in der Gefangenschaft in Rom verfasst worden sei.

Des weiteren verweisen die Verfechter der Frühdatierung des 1Thess darauf, dass es sehr merkwürdig gewesen wäre, wenn Paulus auf der Konferenz eine Kollekte von Gemeinden einzusammeln versprochen hätte, die damals noch gar nicht existierten. Sodann sei es mit dem apostolischen Selbstbewusstsein des Paulus als des Apostels der Heiden (Röm 11,13) nur schwer zu vereinbaren gewesen, wenn er die Mission in Europa erst gegen Ende seines Lebens begonnen hätte.

Daraus ergeben sich folgende mutmaßliche Daten des Lebens des Paulus:


33 Bekehrung
35 Erster Jerusalembesuch (Gal 1,18): ca. 3 Jahre nach der Bekehrung
35-48 Mission in Syrien, Kilikien (Gal 1,21), wohl auch in Kleinasien und Griechenland (in diesem Fall entstand 1Thess um 40)
48 Zweiter Jerusalembesuch (Jerusalemer Konferenz [Gal 2,1]): ca. 14 Jahre nach dem ersten Jerusalembesuch
48-53 Reise in die kleinasiatischen und griechischen paulinischen Gemeinden; in dieser Zeit Abfassung von 1Kor, 2Kor, Gal, Röm, Phlm
53 Dritter Jerusalembesuch: Reise nach Jerusalem zwecks Überbringung der Kollekte
56 Reise nach Rom

Die Zukunft der Christen

Als Paulus vom Verfolger zum Verkündiger des Evangeliums wurde, schloss er sich einer Bewegung an, die von einer starken Naherwartung geprägt war und das Kommen Jesu vom Himmel geradezu stündlich erwartete.50 Diese Erkenntnis wurde erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts gewonnen. Ohne sie ist Paulus nicht zu verstehen. Daher zunächst ein kurzer Rückblick:

Im Jahre 1892 veröffentlichte der Göttinger außerordentliche Professor für Neues Testament Johannes Weiß (1863 – 1914)51 ein nur 67 Seiten starkes Büchlein52, das in der theologisch-kirchlichen Welt ein mittelschweres Erdbeben auslöste. Ihn beunruhigte, dass der im Kulturprotestantismus53 seiner Tage vertretene Gedanke vom Reich Gottes als Kulturmacht etwas ganz anderes sei als die gleichnamige Idee vom Reich Gottes in der Verkündigung Jesu.

An keiner Stelle identifiziere Jesus das Reich Gottes mit dem Jüngerkreis, wie die Kulturprotestanten seiner Zeit meinten. Ferner schließe besonders die zweite Bitte des Vaterunsers (»Dein Reich komme«) die Vorstellung eines innerweltlichen Wachsens des Reiches Gottes aus. »Es heisst nicht etwa: Es wachse Dein Reich, es vollende sich Dein Reich, sondern: es komme Dein Reich«54, d. h. das Reich ist auch in seinen Anfängen noch nicht da. Weiß bezieht sich in diesem Zusammenhang auf Mt 12,28 (Lk 11,20): »Wenn ich durch den Geist (Finger) Gottes die Dämonen austreibe, so ist das Reich Gottes zu euch gekommen«, um die besondere Weise der Gegenwart des Reiches Gottes bei Jesus auszudrücken. Diese Aussage sei nämlich auf dem Hintergrund jüdisch-endzeitlichen Denkens zu verstehen, nach dem alles, was auf Erden geschieht, seine Parallele oder Vorgeschichte im Himmel habe. »Und nun kommt es vor, dass im Himmel ein Ereignis nicht blos schon beschlossen, sondern bereits insceniert ist, während es auf Erden erst langsam sich zu vollziehen beginnt.«55

Auch die weitverbreitete Bezeichnung Jesu als Gründers und Stifters des Gottesreiches sei abzulehnen, denn Jesus habe sich die Errichtung des Gottesreiches durch einen übernatürlichen Eingriff Gottes vorgestellt.56 Er habe anfangs die Reichserrichtung zu erleben gehofft, aber allmählich die Gewissheit gewonnen, dass er vorher sterben und durch seinen Tod zur Errichtung des Reiches auch in Israel beitragen müsse. Er werde »er auf den Wolken des Himmels zur Reichserrichtung wiederkehren, und zwar noch zu Lebzeiten der Generation, die ihn verworfen hat.«57

So war mit einem Schlag die theologische Grundlage des damaligen Kulturprotestantismus schwer beschädigt, nach dem Reich Gottes und Kultur eng aufeinander zu beziehen seien. Dagegen stand hart und unerbittlich die Erkenntnis: Die unmittelbaren Anfänge des Urchristentums waren endzeitlich geprägt und von einer starken Naherwartung beherrscht. Diese Naherwartung hatte zum Inhalt, dass die erste Generation der Christen nach Jesu Tod und Auferstehung(svisionen) in aller Regel meinte, nicht mehr sterben zu müssen, weil nämlich die Ankunft des Menschensohnes bzw. das Gottesreich unmittelbar bevorstünden. M. a. W., die ältesten Gemeindeglieder haben sich nicht nur als die ersten Christen betrachtet, sondern vor allem als die letzten Christen.

 

Um das genauer zu erkennen, sei zunächst ein Blick auf das älteste Dokument des Neuen Testaments geworfen, den 1Thess. Dieses hochinteressante Schreiben wurde wahrscheinlich um das Jahr 40 abgefasst.

Im Abschnitt 1Thess 4,13 – 1758 äußert sich Paulus wie folgt über seine Zukunftserwartungen: »Denn das sagen wir euch mit einem Wort des Herrn, dass wir, die wir leben und übrigbleiben bis zur Ankunft des Herrn, denen nicht zuvorkommen werden, die entschlafen sind«. (V. 15). Hernach malt er den kosmisch-dramatischen Vorgang aus: Der Herr kommt unter einem Befehlswort, unter der Stimme eines Erzengels und unter dem Schall der Posaune Gottes vom Himmel, die wenigen Entschlafenen stehen auf und die mehrheitlich Überlebenden, zu denen auch Paulus gehört, werden zusammen mit den Auferweckten dem Herrn entgegen in die Luft entrückt werden.

Wichtig für die Beurteilung des Textes sind die Sätze V. 15: »Wir, die wir übrigbleiben bis zur Ankunft des Herrn« und V. 17: »Wir, die wir übrigbleiben, werden mit ihnen zusammen …«.

Jahrhundertelang bezogen die jeweiligen Leser und Leserinnen des 1Thess das »Wir« auf sich und verstanden es so, dass zu ihrer eigenen Lebenszeit die Ankunft des Herrn stattfinden werde. Auch heute lesen nicht wenige fundamentalistische bzw. evangelikale Christen den Text als Aussage für die Gegenwart, und das ist eigentlich nur konsequent, wenn denn die Bibel als absolut irrtumslose Autorität gilt. Dann nämlich hätte Paulus in seiner glasklaren Voraussicht, wie die anderen Propheten auch, über die wirklich letzte Zeit gesprochen. Doch respektiert eine solche Sicht nicht den uns zunächst fremden Menschen und Briefschreiber Paulus und vereinnahmt ihn rücksichtslos, obwohl er doch an die historische Gemeinde in Thessalonich und über sich selbst (!) geschrieben hat.

Dass eine fundamentalistische Lektüre der Paulusbriefe gleichwohl mit einem gewissen Recht geschieht, muss sogleich eingeräumt werden. Denn der 1Thess begegnet den heutigen Christen ja nicht als Brief des Paulus aus dem 1. Jh., sondern als Urkunde der heiligen Schrift des Neuen Testaments. M. a. W., zwischen Paulus und der heutigen Leserschaft liegt die Kanonisierung, die unter anderem den 1Thess als Bestandteil der Bibel sanktioniert hat. Diese Kanonisierung hat ein solches zeitloses (aber darin eben unhistorisches) Verständnis des »Wir« in 1Thess 4,17 ja erst möglich gemacht. Daraus folgt, dass ein kanonisches und ein historisches Verständnis sich gegenseitig ausschließen. Zudem betreibe ich keine Auslegung des 1Thess im Rahmen des Kanons59, sondern will Paulus selbst verstehen, der zum Zeitpunkt des 1Thess weder Bestandteil des Kanons war noch sich selbst kanonisiert hatte.60

Historisch gesehen ist das »Wir« natürlich auf Paulus und die Briefempfänger – nur auf diese – zu beziehen. Dann ist aber auch zu sagen: Paulus meinte, dass er mit den Christen aus Thessalonich die Ankunft Jesu vom Himmel unter der Stimme des Erzengels und der Trompete Gottes erleben werde. Es gibt im ganzen Neuen Testament kein besseres Bild davon, was Naherwartung meint, als den eben genannten Satz. Naherwartung heißt also: Das Kommen Jesu steht unmittelbar bevor, es wird unter kosmischen Zeichen innerhalb der Lebenszeit der ersten christlichen Generation stattfinden.

Nun kann man angesichts von einzelnen Todesfällen wie in Thessalonich natürlich fragen: Wie viele werden vor der Ankunft Jesu noch sterben? Antwort: Da Paulus sagt: »Wir, die wir übrig bleiben«, und sich im »Wir« mit den Thessalonichern zusammenschließt, ist zu folgern: Paulus setzt anscheinend voraus, dass, obwohl einige gestorben sind, kein weiterer mehr (oder höchstens wenige) sterben wird (werden).61 Jesu Kommen auf den Wolken des Himmels findet also nicht nur innerhalb der Lebenszeit der ersten Generation statt, auch der Tod selbst stellt eine Ausnahme dar.

Wie allgemein bekannt ist, schlug diese Erwartung fehl. Die Zeit schritt voran, und mit ihr traten immer mehr Todesfälle ein, bis schließlich die erste Generation größtenteils gestorben war. Es sei gefragt: Was geschah darauf mit der Naherwartung des Paulus? Wie verhielt sich der Apostel gegenüber ihrem offenkundigen Scheitern?

Als nächsten der erhaltenen Briefe schrieb Paulus den 1Kor.62 In 1Kor 15,51 f beschäftigt er sich wiederum mit der Frage, wie viele Christen bis zum Kommen Jesu überleben werden. Er schreibt:

»Siehe, ich sage euch ein Geheimnis: Alle werden wir nicht entschlafen, alle aber verwandelt werden. Und das plötzlich, in einem Augenblick, zur Zeit der letzten Posaune. Denn es wird die Posaune erschallen, und die Toten werden auferstehen unverweslich, und wir werden verwandelt werden.«

Zunächst einmal sei hier hervorgehoben, dass die Erwartung von Jesu Ankunft (= Parusie) konstant geblieben ist, und ebenso, dass Paulus weiterhin das Überleben von Christen bis dahin annahm.

Aber was heißt genau der Satz: »Alle werden wir nicht entschlafen«? Mir scheint folgende Antwort wahrscheinlich: Obwohl nicht alle sterben werden, so doch die meisten der jetzt Lebenden.63 Daher dürfte in 1Kor 15 das Überleben die Ausnahme darstellen, während in 1Thess 4 das Überleben die Regel war. Anders gesagt: In 1Kor 15 ist der Tod vor der Parusie Jesu die Normalität, in 1Thess 4 dagegen nicht. Dann aber liegt der Schluss nahe, dass 1Kor 15 eine Parusieverzögerung und eine erste Umschichtung der Naherwartung widerspiegelt. Doch handelt es sich nur um eine leichte Veränderung, denn die Erwartung von Jesu Kommen auf den Wolken des Himmels noch zu Zeiten dieser Generation bleibt ja konstant. Dann werden die toten und die überlebenden Christen verwandelt und mit einem Auferstehungsleib überkleidet. Der Zwischenzustand zwischen dem Tod des einzelnen und dem Kommen Jesu wird vom diese Zeilen schreibenden Paulus offenbar noch nicht reflektiert, oder – vorsichtiger ausgedrückt – er äußert sich darüber nicht.64

Ebenso ist unsicher, ob sich Paulus zur Zeit des 1Kor zu denen rechnet, die bei der Parusie am Leben sind. Die Entscheidung dieser Frage hängt davon ab, ob das »Wir« in »wir werden verwandelt werden«. (1Kor 15,52) sich ausschließlich auf die zum Zeitpunkt der Parusie Lebenden bezieht oder die unverweslich auferstehenden Toten mit einbezieht. Da »unverweslich« jedoch bereits eine Verwandlung voraussetzt (vgl. 1Kor 15,42.53), dürfte die zuerst genannte Möglichkeit zutreffen und sich Paulus auch zum Zeitpunkt von 1Kor 15 zu denen gezählt haben, die die Parusie erleben und dann verwandelt werden.65

Ca. zwei Jahre später, als er 2Kor 5,1 – 10 diktierte66, hat sich das offenbar geändert: V. 1 mit dem Bezug auf den Abbruch der irdischen Hütte bezieht sich auf den Moment des Todes und darauf, was bei ihm geschieht (»Denn wir wissen: Wenn unser irdisches Haus, diese Hütte, abgebrochen wird, so haben wir einen Bau, von Gott erbaut, ein Haus, nicht mit Händen gemacht, das ewig ist im Himmel«). Dieses Verständnis ist jedenfalls das naheliegendste, es sei denn, man hielte es aus anderen Gründen für undenkbar, dass der Apostel seine Auffassungen verändert haben könnte. Paulus denkt offenbar, anders als in 1Kor 15, nicht mehr, dass die Christen bei Jesu Parusie gemeinsam verwandelt werden. Vielmehr behandelt er nun die Frage, was mit ihnen als einzelnen zum Zeitpunkt ihres Todes geschehen wird, und rechnet mit ihrer Verwandlung im Moment des Todes, was er sich nach 1Kor 15 offenbar für das Kommen Jesu auf den Wolken des Himmels reserviert gedacht hatte. Das scheint ein wirklicher Schritt über die Position von 1Kor hinaus zu sein und reflektiert das Bewusstsein einer zunehmenden Verzögerung des Kommens Jesu.

Die Umschichtung der Aussagen zur Zukunft der Christen mag durch Ereignisse mitverursacht worden sein, die Paulus in 2Kor 1,8 f andeutet. Er schreibt dort: »Denn wir wollen euch, liebe Brüder, nicht die Bedrängnis verschweigen, die uns in der Provinz Asien widerfahren ist, wo wir über die Maßen beschwert waren und über unsere Kraft, so dass wir auch am Leben verzagten und es bei uns selbst für beschlossen hielten, wir müssten sterben.«67

Paulus gibt hier und auch später (vgl. bes. Röm 13,1168) die Hoffnung auf Jesu baldiges Kommen nicht auf, obwohl es sich faktisch verzögerte. Jedoch entwickelt er, mitverursacht durch die Parusieverzögerung, eine Zweistufenlösung: Jeder Christ erhält zum Zeitpunkt des Todes einen verwandelten Leib, und in einer weiter entfernten Zukunft wird Jesus wiederkommen. Die Kombination dieser beiden Erwartungen ist in 2Kor 5 zu finden. V. 1 und V. 8 (»Wir sind aber getrost und haben vielmehr Lust, den Leib zu verlassen und daheim zu sein bei dem Herrn«) sprechen über die Vereinigung der Christen mit Christus unmittelbar nach dem Tod und V. 10 von dem Gericht, das nach Jesu Kommen vom Himmel stattfindet: »Wir müssen alle erscheinen vor dem Richterstuhl Christi«.

Zur Bestätigung dieser Ergebnisse sei hingewiesen auf Phil 1,23: »Ich habe Lust abzuscheiden und bei Christus zu sein«. Hier denkt sich Paulus die Vereinigung des Glaubenden mit Christus unmittelbar nach dem Tod, lehrt aber im selben Brief gleichzeitig (im Anschluss an Tradition69) das Kommen Jesu als des Retters vom Himmel in der Zukunft (Phil 3,20 f) – ein Beispiel dafür, wie flüssig die verschiedenen Vorstellungen im frühen Christentum noch waren.

Aus chronologischen und quellenkritischen Gesichtspunkten ergeben sich keine Gegenargumente zur Verwendung des Phil in diesem Zusammenhang. Chronologisch ist der Brief entweder etwa gleichzeitig mit dem 2Kor bzw. seinen Teilen in Ephesus geschrieben, oder einige Jahre später in Rom. Im letzteren Falle hätte Paulus die in 2Kor 5 zugrunde liegende Struktur wieder zur Geltung gebracht. Quellenkritisch dürfte Phil trotz früherer Bestreitungen einheitlich sein und Phil 1,23 und 3,20 f zu ein und demselben Brief gehören.70

Eins fällt auf: Der Paulus von 1Thess 4 und 1Kor 15 ist (an diesem Punkt) von dem des 2Kor und des Phil zu unterscheiden. Jesu Parusie verzögerte sich faktisch, und das »Zweistufenmodell« des 2Kor und des Phil, das mit dem Tod der meisten Zeitgenossen des Paulus rechnet, ersetzte sowohl die frühe paulinische »Lösung« im 1Thess, gemäß der nur eine Minderheit entschlafen wird, als auch deren Modifikation in 1Kor 15, nach der eine Minorität überleben wird, während die Mehrheit stirbt.

Wie war Paulus in der Lage, seine frühere Überzeugung mit der Tatsache des Todes von immer mehr Christen zu vereinbaren? Welche Voraussetzungen ermöglichten die dargestellten Uminterpretationen bzw. Revisionen, das Eingehen auf eine enttäuschende, unerwartete Entwicklung der Realität?

Eine theologische Erklärungsmöglichkeit besteht in Folgendem: Der Grund für die Fähigkeit des Paulus, sich auf die harte Tatsache des Todes einzustellen, lag offenbar in der zunehmenden Bedeutung der Person Jesu Christi für den Apostel. Bestimmte zu einem frühen Zeitpunkt der kommende Herr die Gegenwart, so von einem gewissen Zeitpunkt an der in der Gegenwart erfahrene Herr immer mehr die Zukunft. War der frühere Glaube als Glaube an Jesus Christus noch im Parusierahmen gefasst – Glaube ist Glaube an den kommenden Christus –, so entwickelt er als lebendiger Glaube eine Eigendynamik und überholt Zeitvorstellungen. Denn es kam ihm eigentlich schon immer auf die unzerstörbare Gemeinschaft der Christen mit Christus an.71

 

Dies lässt sich auf das vorliegende Beispiel beziehen: Paulus sagte: Ich werde mit Jesus bei seiner Parusie vereinigt werden; er meinte aber eigentlich: Wir werden mit Jesus vereinigt, unabhängig davon, ob es beim Kommen Jesu oder bei meinem eigenen Tod geschieht.

Der Grund für diese so kühne Aussage lag darin beschlossen, dass Jesus gegenwärtig war und seit Damaskus in Paulus immer mehr zum Durchbruch kam. Diesen Christus erfuhr Paulus fortan als Gnade, Geist und Leben. Wenn er daher in einem kühnen Gedankensprung, aber gleichzeitig in Konsequenz des Damaskusgeschehens, die Unzerstörbarkeit dieses ihm geschenkten Lebens auch sprachlich formulieren kann, so mag man diesen Vorgang mit Fritz Buri als Wille zur absoluten Lebensvollendung bezeichnen.72 Eigentliches Leben – so Paulus – ist nur bei, mit und in Christus möglich.

Paulus der Heidenapostel

Die Vision vor Damaskus, die einem Durchbruch des Lebens gleichkam, hat Paulus als Ruf verstanden, das Evangelium in die Heidenwelt zu tragen (Gal 1,15 f). Womöglich hat dabei die zunehmende Verzögerung des Kommens Jesu vom Himmel die Missionsaktivität des Paulus ebenso verstärkt, wie das in Millenniums-Gruppen der Gegenwart der Fall ist.73 Von Anfang an war sie an Heiden gerichtet. Zwar wird gelegentlich unter Hinweis auf Gal 5,11 (»Ich aber, Brüder, wenn ich noch Beschneidung predige, warum werde ich noch verfolgt«)74 erwogen, ob Paulus anfangs auch Juden missioniert habe, doch gibt es dafür keine klaren Belege.75 Seine Eigenzeugnisse76 schließen eine bewusste Judenmission des Paulus geradezu aus77, ebenso die Tatsache, dass nur überwiegend heidenchristliche paulinische Gemeinden bekannt sind (Galatien, Philippi, Thessalonich, Korinth).78 Andere Anhaltspunkte kommen hinzu, so z. B. die Protokollnotiz der Jerusalemer Konferenz (Gal 2,9), dass Paulus und Barnabas zu den Heiden gehen (und die Jerusalemer Jakobus, Kephas, Johannes zu den Juden).

Den Heiden verkündigte Paulus also im Rahmen eines von vielen Mitarbeitern mitgetragenen Missionsunternehmens79 das Evangelium, wie es ihm vor Damaskus offenbart worden war und wie es die Gemeinde, die er verfolgte, ausformuliert hatte.80 An einer Stelle verweist der Apostel selbst darauf, dass er den Korinthern das Evangelium so überlieferte, wie er es selbst empfangen hatte, »dass Christus starb für unsere Sünden nach den Schriften und begraben wurde, dass er auferweckt ist nach den Schriften und dem Kephas erschien, dann den Zwölfen«. (1Kor 15,3b–5).

Andere Lehren, die aus der traditionellen jüdischen Predigt an Heiden stammen, kamen hinzu: die Abkehr von den Götzen zu dem einen Gott (1Thess 1,9 f) und die ethischen Überlieferungen, die am Dekalog (Röm 13,8 – 10) und besonders am Liebesgebot (Gal 5,14) orientiert waren.

In seinem ältesten Brief (1Thess) erinnert Paulus seine Konvertiten im Rückblick auf die Unterweisung während der Gründung der Gemeinde:

(4,2) »Denn ihr wisst, welche Gebote wir euch gegeben haben durch den Herrn Jesus. (3) Denn das ist der Wille Gottes, eure Heiligung, dass ihr meidet die Unzucht (4) und dass ein jeder von euch seine eigene Frau zu gewinnen suche in Heiligkeit und Ehrerbietung, (5) nicht in gieriger Lust wie die Heiden, die von Gott nichts wissen. (6) Niemand gehe zu weit und übervorteile seinen Bruder im Handel; denn der Herr ist ein Richter über das alles, wie wir euch schon früher gesagt und bezeugt haben. (7) Denn Gott hat uns nicht berufen zur Unreinheit, sondern zur Heiligung.«

An diesem Stück fällt zweierlei auf, a) die Betonung, die auf der Heiligung liegt (sie wird dreimal genannt) und b) die Abkehr von der Unzucht (porneia) als Vollzug der Heiligung.

Paulus steht hier im Traditionsstrom einer jüdisch geprägten Ethik, bei der die Unzucht eine zentrale Stellung in den zu bekämpfenden heidnischen Fehlhandlungen hatte.81 Dies lässt sich auch weiter an den Lasterkatalogen der Paulusbriefe illustrieren, in denen die Unzucht z. T. die Spitzenstellung innehat (Gal 5,19). Nach 1Kor 6,13.15 besteht die Alternative für den Leib darin, entweder Christus anzugehören oder der Unzucht. Peter Brown hat folgende einfühlsame Schilderung des ethischen Empfindens auch des Christen Paulus gegeben:

»Paulus war ein Jude, der darauf brannte, Heiden zu Kindern des wahren Gottes zu machen. Er blickte mit unverhülltem Abscheu auf die öde Landschaft der Sünden der heidnischen Welt. In dieser dunklen Landschaft bedeckten sexuelle Sünden den Vordergrund. Indem sie sich der äußersten Anomalie verschrieben, geschaffene Dinge zu verehren und nicht ihren Schöpfer, hatten sie sexuelle Anomalien über sich gebracht. Alle Grenzen waren vor ihrem Ignorantenstolz und ihrer Gier zusammengebrochen.«82

Seine eigene Ehelosigkeit erhob Paulus in seinen Gemeinden nicht zur Norm, fand sie aber eigentlich erstrebenswert, denn »wer ledig ist, der sorgt sich um die Sache des Herrn, wie er dem Herrn gefalle«. (1Kor 7,32). Heiraten war als Kampf gegen die Unzucht nur die zweitbeste christliche Möglichkeit, aber immerhin, sie war sicherer als unbedachte Ehelosigkeit. (Vgl. 1Kor 7,2: »Um Unzucht [sic!] zu vermeiden, soll jeder Mann seine eigene Frau haben und jede Frau ihren eigenen Mann.«) Als Verheirateter sei man geteilten Herzens, weil man sich um die Dinge der Welt sorge, nämlich wie man dem Ehepartner gefalle (1Kor 7,34).

Aber immerhin, die Ehe war legitim, und eine Scheidung zwischen Christen kam nicht in Frage. Auch wenn ein Ehepartner Heide war, sollte der christliche Teil die Scheidung nicht betreiben, denn die Kinder waren durch die Ehe automatisch geheiligt. »Denn der ungläubige Mann ist durch die Frau geheiligt und die ungläubige Frau ist durch den Bruder geheiligt. Sonst wären ja eure Kinder unrein; in Wirklichkeit aber sind sie heilig«. (1Kor 7,14).

Paulus und die Frauen

Nach verbreitetem Urteil gilt Paulus als Frauenfeind (George Bernard Shaw nannte Paulus den »eternal enemy of women«). Seine Kritiker berufen sich dafür z. B. auf 1Kor 14,33b–35 (36), wo es heißt:

(33b) »Wie in allen Gemeinden der Heiligen (34) sollen die Frauen schweigen in der Gemeindeversammlung; denn es ist ihnen nicht gestattet zu reden, sondern sie sollen sich unterordnen, wie auch das Gesetz sagt. (35) Wollen sie aber etwas lernen, so sollen sie daheim ihre Männer fragen. Es steht der Frau schlecht an, in der Gemeinde zu reden.

(36) Oder ist von euch das Wort Gottes ausgegangen? Oder ist es allein zu euch gelangt?«

Doch drängt sich sogleich der Verdacht auf, dass in diesem Passus ein Zusatz aus der Feder »rechtgläubiger« Paulusschüler vorliegt, die die Auffassungen einer späteren Zeit in den 1Kor hineingetragen haben. Denn a) setzt V. 33b abrupt ein, während V. 37 wieder den unterbrochenen Gedankengang aufnimmt (V. 37 bezieht sich auf V. 29 – 32 [Thema: Prophetie] zurück); b) bestehen inhaltliche Spannungen zu 1Kor 11,5, wo vorausgesetzt wird, dass Frauen im Gottesdienst prophezeien.

Wenn die These, 1Kor 14,33b–35 (36) sei ein nachträglicher Zusatz, einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit hat, schließt sich unwillkürlich die Frage an: Hielt Paulus in seinem Leben an der Gleichheit von Mann und Frau fest, wie sie der Taufruf von Gal 3,28 voraussetzt? Dort heißt es: »Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht männlich oder weiblich, denn ihr seid alle einer in Christus.« Doch war Paulus nicht so modern, wie wir ihn uns wünschen. Das geht aus einem anderen Text zweifelsfrei hervor, nämlich 1Kor 11,2 – 16:

(2) »Ich lobe euch aber, dass ihr mich in jeder Hinsicht im Gedächtnis behaltet und die Überlieferungen bewahrt, wie ich sie euch überliefert habe.

(3) Ich will aber, dass ihr wisst: Eines jeden Mannes Haupt ist Christus, Haupt der Frau aber der Mann, Haupt Christi aber Gott.

(4) Jeder Mann, der betet oder prophezeit und dabei etwas auf dem Haupt trägt, schändet sein Haupt.

(5) Jede Frau aber, die betet oder prophezeit mit unverhülltem Haupt, schändet ihr Haupt; denn sie ist ein und dasselbe wie die Kahlgeschorene. (6) Denn wenn eine Frau sich nicht verhüllt, soll sie sich doch (gleich) scheren lassen; wenn es aber schändlich ist für eine Frau, sich scheren oder kahlrasieren zu lassen, soll sie sich verhüllen.

(7) Denn der Mann freilich soll sich das Haupt nicht verhüllen, da er Gottes Bild und Abglanz ist; die Frau aber ist des Mannes Abglanz. (8) Denn der Mann ist nicht aus der Frau, sondern die Frau aus dem Mann; (9) denn der Mann wurde auch nicht um der Frau willen geschaffen, sondern die Frau um des Mannes willen83. (10) Deshalb soll die Frau eine Macht auf dem Haupt haben, um der Engel willen. (11) Dennoch ist im Herrn weder die Frau ohne den Mann, noch der Mann ohne (die) Frau. (12) Denn wie die Frau aus dem Mann ist, so ist auch der Mann durch die Frau; alles aber von Gott.

(13) Urteilt bei euch selbst: Ist es anständig, dass eine Frau unverhüllt zu Gott betet? (14) Lehrt euch nicht auch die Natur selbst, dass es, wenn ein Mann langes Haar hat, eine Schande für ihn ist, (15) (dass) es aber, wenn eine Frau langes Haar hat, eine Ehre für sie ist? Denn das Haar ist ihr anstatt eines Schleiers gegeben.

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