Ketzer

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Kapitel 4:
Der einzige Ketzer aus der ältesten Zeit oder: Ein menschlicher Paulus1

Die Quellen

Aus der Anfangszeit des Christentums ist Paulus die einzige Person, die uns als Mensch mit all ihren Schwächen und Vorzügen gegenübertritt. Die Quellen über ihn fließen im Gegensatz zu allen anderen Gestalten des Urchristentums außerordentlich reich. So haben wir über Jesus nur Fremdberichte. Sie sind weder in seiner aramäischen Muttersprache verfaßt, noch stammen sie von Augenzeugen. Die Erzählungen über ihn sind zudem nicht selten widersprüchlich. Von Paulus besitzen wir dagegen im wahrsten Sinne des Wortes Urkunden: In Briefen hören wir in seiner Muttersprache seine eigene Stimme, frei von allen Nebengeräuschen, zugänglich für alle, die nicht die Mühe des Lesens scheuen.

Nun wäre es vermessen zu glauben, dass diese Briefe das gesamte Leben des Paulus beleuchten oder sein Denken vollständig wiedergeben. Doch haben frühchristliche Sammler von Paulusbriefen eine ziemlich gute Auswahl zusammengestellt, so dass in den uns bekannten Briefen des Paulus recht viele Informationen über seine theologischen Anschauungen und nicht wenige über sein ereignisreiches Leben überliefert sind. In der Forschung hat sich im allgemeinen Übereinstimmung darüber ergeben, von den 13 erhaltenen Briefen sieben für echt zu halten (Röm, 1/​2 Kor, Gal, Phil, 1Thess, Phlm), während die übrigen von späteren Schülern im Namen des Apostels verfasst wurden. Manchmal wird von den für nicht authentisch gehaltenen der eine oder andere Brief dem Apostel wieder zugeschrieben (Kol, 2Thess, seltener Eph). Doch ändert das nichts an dem heute erfreulich großen Konsens in der Beurteilung der Echtheit der Briefe.

Die Briefe werden ergänzt durch die Apostelgeschichte (= Apg), die zwar nicht von einem Augenzeugen geschrieben wurde, wohl aber auf der Grundlage von zahlreichen alten, zuverlässigen Traditionen, die aus dem Text der Apg herauszuarbeiten sind und dann in behutsamer Weise mit in die Darstellung einbezogen werden dürfen.2 Als Faustregel kann gelten: Der chronologische Rahmen der Apg ist zumeist unrichtig und muss von den Paulusbriefen her korrigiert werden3, während die Einzelnachrichten, soweit sie nicht eine klare lukanische Tendenz verraten, zutreffen dürften.4 Auf der anderen Seite ist die Apg ein Dokument dafür, wie ein Theologe am Ende des 1. Jh.s mit Konflikten der Anfangszeit umgegangen ist: Er hat sie harmonisiert, geordnet oder auch verschwiegen. Alles wird durch den Verlauf der Heilsgeschichte begradigt.5 Die damit notwendig gegebene Verdrehung historischer Fakten geht so weit, dass Paulus selbst in der Apg nicht Apostel ist6, praktisch in die nachapostolische Zeit hineingehört und als 13. Zeuge7 die Kontinuität zwischen der Zeit des Anfangs und der Zeit des Vf.s des lukanischen Doppelwerks sichert.

Auch die ihm in den Reden zugeschriebene Theologie hat, von Ausnahmen abgesehen, mit dem Paulus der echten Briefe wenig zu tun.8 Doch ändert das nichts an der grundsätzlichen Bedeutung der Apg vor allem für die Geschichte des Paulus. (Zum Paulusbild der Apg vgl. weiter unten, S. 147 – 148.)

Aus noch späterer Zeit (2. und 3. Jh.) stammen etliche Erzählungen über Paulus aus verschiedenen christlichen Gruppen, die aber allesamt für den wirklichen Paulus nichts austragen. So erfanden Paulusgegner, die es zu allen Zeiten in großer Zahl gegeben hat, Geschichten davon, dass Paulus ursprünglich Grieche gewesen und später in Jerusalem zum Judentum übergetreten sei, weil er die Tochter des Hohenpriesters habe heiraten wollen. Als diese ihm einen Korb gab, reagierte er beleidigt und schrieb im Zorn gegen Beschneidung, Sabbat und Gesetzgebung.9

Die Anhänger des Paulus dagegen steigerten die Wundertätigkeit und den Missionserfolg des Apostels ins Unermessliche und wussten sogar von seinem freundschaftlichen Umgang mit einem wilden Löwen in der Arena zu berichten.10

Schließlich erhalten wir sogar eine Beschreibung seines Aussehens. So heißt es von ihm, er sei »ein Mann klein von Gestalt, mit kahlem Kopf und gekrümmten Beinen, in edler Haltung mit zusammengewachsenen Augenbrauen und ein klein wenig hervortretender Nase, voller Freundlichkeit; denn bald erschien er wie ein Mensch, bald hatte er wieder eines Engels Angesicht.«11

Diese Beispiele dokumentieren die historische Unbrauchbarkeit solcher Quellen.12 Sie zeigen aber auch: Sowohl im frühen als auch im späteren Christentum besaß Paulus eine lebendige Wirkungsgeschichte, und es ging dabei sehr menschlich zu, weil die genannten Interpreten (und andere hier nicht angeführte) jeweils ihre eigenen Ansichten in Paulus hineingelesen haben – ein Hinweis darauf, auch unsere eigene Voraussetzung jeweils der kritischen Prüfung auszusetzen.

Der vorchristliche Paulus 13

Zunächst können wir mit Zuversicht behaupten, dass Paulus ein Stadtmensch ist14, sind doch die Bilder, in denen ein Mensch spricht, die getreuen Spiegel seiner Umgebung. Die Verkündigung Jesu reflektiert demgegenüber das Dorf. Man vgl. die Welt seiner Gleichnisse: Jesus kennt den Sämann auf dem Acker (Mk 4,3 – 8), die Senfstaude im Garten (Mk 4,30 – 32), er sieht den Hirten mit seiner Herde (Mk 6,34) und die Vögel unter dem Himmel (Mt 6,26) sowie die Lilien auf dem Feld (Mt 6,28) u. a.m.

Auch Paulus gebraucht Bilder aus der Natur. Er spricht vom Samenkorn und seinem Aufgehen als einem Bild der Auferstehung (1Kor 15,37), von den Sternen und ihren glänzenden Leibern (1Kor 15,40 f), er vergleicht sich und andere mit Gärtnern (1Kor 3,6 – 8), und spricht vom ängstlichen Harren der Kreatur auf die Offenbarung der Kinder Gottes (Röm 8,19 – 23). Das zuletzt genannte Wort zeigt, wie sehr der Apostel sich in die Sehnsucht der Natur hineingefühlt hat. Es spiegelt aber gerade auch seinen Abstand zu Jesus wider, denn aus ihm klingt das Gefühl, mit dem der Mensch die harte Arbeit der müden und gequälten Tiere einer Großstadt erlebt, während dem Dorfbewohner auch der Spatz, der auf die Erde fällt (Mt 10,29), nicht die allgemeine Vergänglichkeit, sondern vielmehr das allmächtige Wirken Gottes nahebringt.

Jedenfalls stammt die Mehrzahl der Bilder des Paulus aus dem Stadtleben. Außerordentlich häufig verwendet er das Bild vom Bauen: Vgl. 1Kor 3,12: »Wenn aber einer auf das Fundament Gold, Silber, kostbare Steine, Holz, Heu, Stroh baut, …« Angefangen von den Palästen aus Gold und Silber bis hin zu den Strohhütten der Vorstadtarbeiter kennt er diese Häuser.

Seine Briefe zeigen das Leben in der Stadt mit ihren Krämerbuden (2Kor 2,17), an denen vorbei der Erzieher (Gal 3,24 f) mit seinen Zöglingen an der Hand zur Schule geht, die Straße, durch die sich der feierliche Triumphzug bewegt (vgl. 2Kor 2,14).

Oft entnimmt er seine Bilder dem Leben der Soldaten (2Kor 10,3 – 5), und selbst ihre Trompeten (1Kor 14,8) dienen ihm zum Vergleich; ebenso bezieht er Entsprechungen aus dem Rechtsleben (Gal 3,17), ja, sogar aus dem Theater (1Kor 4,9) und von den Wettspielen her (1Kor 9,24 ff).

Die relative Häufigkeit und Unbefangenheit, mit der Paulus sich dieser Bildersprache bedient, macht es wahrscheinlich, dass sie Bestandteil seiner Akkulturation gewesen ist. Ebenso ist auch die Tatsache, dass der Christ Paulus »praktisch nur hellenistisch-römische Städte aufgesucht (sc. hat), wohl jedenfalls ein Reflex seiner Sozialisation in hellenistisch-urbaner Atmosphäre.«15

In welcher Stadt wuchs Paulus auf? Er selbst gibt darauf keine Antwort, wohl aber Lukas in Apg 22,3: »Ich bin ein jüdischer Mann, geboren in Tarsus in Kilikien«. (vgl. 9,30; 21,39). Unter der Voraussetzung, dass hier zuverlässige Tradition zugrunde liegt, kommt dieser Angabe eine hohe Wahrscheinlichkeit zu.16 Sie findet eine gewisse Bestätigung darin, dass Paulus sich drei Jahre nach seiner Bekehrung ohne jeden anderen Beweggrund in diese weit von seinem damaligen Aufenthaltsort abgelegene Stadt in Kilikien zurückzog (Gal 1,21; Apg 9,30). Hier wird er Kindheit und Jugend verbracht haben.

Unbekannt ist, wie lange Paulus in Tarsus war. Jedenfalls dürfte er hier eine Schule besucht und die allgemeine Bildung seiner Zeit erfahren haben. Dazu gehörte vor allem eine stilistische Schulung durch die Rhetorik, ferner einige Kenntnis der wichtigsten griechischen Literatur und Mythologie. Man vgl. den von Paulus 1Kor 15,33 zitierten Vers des griechischen Komödiendichters Menander: »Lasst euch nicht verführen! Schlechter Umgang verdirbt gute Sitten!« Gleichzeitig wird ihn sein Vater, von dem er das römische Bürgerrecht geerbt haben dürfte (vgl. Apg 22,27), in die Grundelemente der Bibel eingeführt und vielleicht auch das Hebräische bzw. Aramäische gelehrt haben. Dabei ist der regelmäßige Besuch des Gottesdienstes der jüdischen Synagoge und die Unterweisung über die Besonderheit des eigenen Volkes als selbstverständlich vorauszusetzen.

Nach seinen eigenen Angaben wurde Paulus am achten Tage beschnitten (Phil 3,5). Zur Beschneidung ist jeder Jude seinem Sohn gegenüber (nach Gen 17,12 am achten Tag) verpflichtet. Hier erfolgte im allgemeinen auch die Namensgebung (vgl. Lk 1,59; 2,21). Paulus erhielt den hebräischen Namen »Saul« nach dem berühmten königlichen Ahnherrn des Stammes Benjamin, dem er selbst angehörte (Phil 3,5), während »Paulus« ein Wortspiel zu Saulus und sein römischer Name war (jeder römische Bürger hatte die Pflicht und das Recht, einen römischen Namen zu tragen).

 

Paulus nennt sich auch selbst einen »Hebräer von Hebräern«. (Phil 3,5). Das wird gelegentlich als Beweis dafür gewertet, dass er aramäisch sprach. Doch kann »Hebräer« auch die Nationalität der Juden im Gegensatz zu der der Heiden bezeichnen. Jedenfalls war die Muttersprache des Paulus Griechisch17, wie es auch aus seinem Gebrauch der griechischen Übersetzung des Alten Testaments (der Septuaginta)18 in seinen Briefen eindeutig hervorgeht. Eine Zweisprachigkeit der Familie ist allerdings nicht völlig ausgeschlossen.

Außerdem sieht sich Paulus in Phil 3,5 als »Pharisäer nach dem Gesetz«. Das Wort in seiner aramäischen Wurzel, wohl als Fremdbenennung entstanden (= »die Abgesonderten«) aber dann als Eigenbezeichnung übernommen, stellt die Pharisäer19 als die Heiligen heraus. Ziel der Pharisäer war Heiligung des Alltags durch Übernahme der Lebensweise, welcher der Priester im Tempeldienst unterworfen war. Sie suchten Heiligung durch Absonderung zu erreichen. Damit wurden für Priester geltende und sich auf den Tempelkult beziehende Regelungen der Thora zur Sache des einzelnen Juden. Man vgl. Lev 19,2: »Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, der Herr, euer Gott.« Doch war diese fast modern anmutende Heiligung »im Alltag der Welt« – gleichsam ein Priestertum aller Gläubigen – außerhalb des Tempels nur durch Interpretation möglich. Das pharisäische Ideal rief darum nach der Mitarbeit von Schriftgelehrten, die nicht notwendig mit Pharisäern identisch sind. Die Pharisäer haben so bei methodisch gepflegter Bindung an den atl. Buchstaben die Religion Israels weiterentwickelt und beispielsweise, anders als die Sadduzäer (vgl. Mk 12,18: »Die Sadduzäer … lehren, es gebe keine Auferstehung«), auch die Lehre von der Auferstehung vertreten, die nur am Rande des Alten Testaments erscheint.20

Die Pharisäer organisierten sich in Gemeinschaften. Es gab wohl eine Probezeit, eine Satzung und ein Disziplinarrecht. Einer ihrer wichtigsten Züge war daher die Gemeinschaftlichkeit, wie ein Zeitgenosse, der Pharisäer Josephus21, berichtet: »Die Pharisäer sind einander zugetan und halten die Einigkeit zum gemeinsamen Besten hoch«. (Bell II 164). Die Gemeinschaft konkretisierte sich in gemeinsamen Mählern, besonders jeden Freitagabend beim Sabbathanbruch. Jeder (männliche) Jude konnte hier Mitglied werden. Zwar fiel die Leitung zumeist an pharisäische Schriftgelehrte, doch ist die Gelehrsamkeit der »normalen« Pharisäer nicht zu unterschätzen. Dafür sei als historische Illustration auf den Selbstbericht des Josephus verwiesen:

Josephus hatte zu Beginn des Jüdischen Krieges den Oberbefehl in Galiläa inne. Doch sein Intimfeind Johannes, Sohn des Levi, nahm durch Intrigen die Jerusalemer Führung gegen ihn ein. Deswegen sollten vier Männer die Kompetenz des Josephus in Galiläa bestreiten:

»Zwei von ihnen, die Pharisäer Jonathan und Ananias, waren Laien, während der dritte, Joazar, der ebenfalls der Partei der Pharisäer angehörte, aus priesterlichem Geschlecht stammte. Simon endlich, der jüngste der Abgesandten, war Mitglied einer hohenpriesterlichen Familie«. (Vita 196 f).

In den Satzungen der Pharisäer spielten Reinheitsvorschriften eine große Rolle22, die in erster Linie eine Absonderung von den anderen Juden und Heiden bedeuteten. Die ntl. Evangelien nennen weiter Wohltätigkeit (Mt 6,2), Beten (Mt 6,5) und Fasten (Lk 18,12: zweimal wöchentlich).

Für die Pharisäer wurde ferner die Trennung von schriftlichem und mündlichem Gesetz wichtig, auf die Paulus in Gal 1,14 anspielt, wenn er von den Überlieferungen der Ältesten spricht.

Zur Zeit des Paulus gab es nach Angabe des Josephus über 6000 Pharisäer (Ant XVII 42). Sie waren hauptsächlich im jüdischen Mutterland zu finden.23 In Jerusalem wird Paulus einer pharisäischen Gemeinschaft beigetreten sein und eine Spezialausbildung in der Schrift empfangen haben.

Die Betonung, dass er vielen Altersgenossen in der Beachtung des Gesetzes überlegen war (Gal 1,14), entspricht dabei nicht nur dem pharisäischen Überlegenheitsgefühl, sondern ist auch in seinem Charakter begründet; als Christ wird er später von sich sagen, mehr als alle anderen Apostel gearbeitet zu haben (1Kor 15,10)24 oder mehr als alle Korinther zusammen in Zungen zu reden (1Kor 14,18). Daraus ist leicht zu erkennen, wie schwierig er gelegentlich als Person gewesen sein muss.

»Er stand in seinen Gemeinden doch wie ein Herrscher, war gewohnt seinen Willen durchzusetzen und anderen aufzuzwingen … hatte immer recht und zeigte minder Gefügigen leicht die rauhe Seite.«25 Einen Mittelweg vermochte er nicht zu gehen – dazu war seine Natur zu gerade, sein Verlangen nach einem absoluten Glauben zu tief und seine Erfahrung vor Damaskus zu umstürzend. Man konnte gewiss sein, dass er als Jünger Jesu den gleichen Feuereifer zeigen würde, den er als Verfolger bewiesen hatte. Als Christ hatte sein Fanatismus nur das Ziel gewechselt.26

Seine Tätigkeit als Zeltmacher (Apg 18,3) geht wahrscheinlich auf den Rabbinenbrauch zurück, ein Handwerk zu erlernen (vgl. 1Thess 2,9; 1Kor 4,12; 9,6 – 18 u. ä.).

Dass Paulus durch eine jüdische Schule gegangen ist, wird aus seinen Briefen deutlich. So ist er mit den damals gängigen Auslegungsregeln des Alten Testaments vertraut. Genannt seien die zwei wichtigsten: a) Das Rückschlussverfahren vom Kleineren zum Größeren findet sich z. B. in der Gegenüberstellung von Adam und Christus (Röm 5,15.17). b) Der Analogieschluss, d. h. das Verfahren, zwei Bibelstellen mit gleichlautenden oder gleichbedeutenden Begriffen aufeinander zu beziehen, wird von Paulus in Röm 4,3 – 8 angewendet, um die Anrechnung des Glaubens zur Gerechtigkeit (Gen 15,6) zu interpretieren. Paulus hat diese und andere Regeln in seiner vorchristlichen Zeit erlernt, d. h. er war schon Theologe, bevor er Christ wurde.

Angesichts der schriftgelehrten Bildung des Paulus überrascht, dass er offenbar nicht, wie die meisten der uns bekannten jüdischen Gesetzeslehrer, verheiratet war.27 Nur von einem einzigen Gelehrten, dem Mystiker Simon Ben Azzai (Anfang des 2. Jh.s), wird berichtet, er sei unverheiratet geblieben. Er hat das auf Rückfrage wie folgt begründet: »Was soll ich tun? Meine Seele hängt an der Thora, mag die Welt durch andere erhalten werden.«28 Ähnliches mag man für Paulus voraussetzen, seine Seele hing in der Tat an der Thora, die ihn zur Verfolgung der Christen (vgl. Phil 3,6; 1Kor 15,9; Gal 1,23) veranlasste, ja förmlich trieb.

Es ist also sein Eifer, der ihn mehr als die meisten seiner Altersgenossen bewegte, in Sachen des Gesetzes dort tätig zu werden, wo es übertreten wurde. Sein Blick fiel dabei auf die Anhänger Jesu, die von einem Gekreuzigten die Messianität behaupteten. Das war für einen, der sich im Gesetz auskannte, schon deshalb unmöglich, weil »verflucht ist, der am Holz hängt«. (Gal 3,13/​Dtn 21,23).

Ein Zweites kam hinzu: Er hatte in Jerusalem und wenig später in Syrien Christen kennengelernt, die sich mit Heiden verschwisterten und bei Tauffeiern in den Jubel ausbrachen:

»Da ist nicht Jude noch Grieche,

da ist nicht Sklave noch Freier,

da ist nicht männlich und weiblich;

denn ihr alle seid einer in Christus Jesus«. (Gal 3,28).

Das durfte aber nicht sein, weil damit die Reinheit der Juden auf dem Spiel stand und als Folge der Gemeinschaft zwischen Juden und Heiden diese Reinheit befleckt und der eigenen Identität der Abschied gegeben wurde.

Diese gefährliche thorawidrige Bewegung zu bekämpfen, wurde für Paulus zum Gebot der Stunde. Dazu braucht er nicht von dem Hohenrat in Jerusalem autorisiert und mit Briefen nach Damaskus geschickt worden zu sein, wie Lukas Apg 9 romanhaft schreibt.29 Das nahm er als ehrgeiziger Emporkömmling selbst in die Hand. In seiner Seele brannte ein Feuer, es stachelte in ihm die Begier, seine Altersgenossen zu übertreffen. Und er verstand zu hassen, wie immer nur die Gläubigen Fremdgläubige verabscheut haben.

Dieser Hass könnte auf den ersten Blick so erklärt werden, dass Paulus’ Fanatismus einem autoritativen Glauben entsprungen ist, nach dem die Lehre der von ihm verfolgten Christen der Ehre Gottes Abbruch tue, die gottgewollte Reinheit der jüdischen Gemeinschaft zerstöre und daher ausgerottet werden müsse.30 Doch erschwert eine solche Sicht ein historisches Verständnis des plötzlichen Umschwungs vom Verfolger zum Verkündiger.

Wahrscheinlicher ist die Annahme, dass die Grundelemente der Predigt der Christen unbewusst stark auf Paulus eingewirkt haben. In diesem Falle wäre er, um seine Selbstvorwürfe zum Schweigen zu bringen, zum Verfolger der Christen geworden. Die Begegnung mit ihnen, mit ihrer Predigt und Praxis, fand dabei nicht allein auf einer kognitiven, sondern zugleich und vor allem auf einer emotionalen und unbewussten Ebene statt, was wohl für alle sozialen und religiösen Erlebnisse gilt. Die Deutung drängt sich förmlich auf, dass der ablehnenden, aggressiven Haltung des Paulus gegen die Christen eine innere Spannung in seiner Person zugrunde liegt, wie sie die Tiefenpsychologie für andere Fälle in zahlreichen Arbeiten als Motiv aggressiven Verhaltens erkannt hat.

Liegt da die Annahme fern, dass die Grundelemente der christlichen Predigt und Praxis ihn unbewusst angezogen haben? Jedoch aus Angst vor seinen unbewussten Strebungen in diese Richtung hat er sie auf die Christen projiziert, um sie dort um so ungestümer attackieren zu können.

Fanatiker unterdrücken oft den Zweifel an der eigenen Lebensanschauung und Lebenspraxis. Ein stark normatives Bewusstsein stößt sich ja nicht nur an der Andersgläubigkeit anderer, sondern auch am eigenen inneren Ungenügen gegenüber der doch so entscheidenden Norm. Falls das für Paulus zutrifft, war sein religiöser Eifer eine Art Gradmesser seiner inneren Spannung, die sich im Damaskusereignis förmlich entlud. So wird man mit C. G. Jung sagen können, dass Saulus vor seiner Bekehrung unbewusst bereits Christ war und »die Christlichkeit des Saulus ein ihm unbewußter Komplex«31.

Das stärkste Argument für die Richtigkeit der Annahme, dass es schon während der Zeit des Paulus als Verfolger in seinem Inneren »gekocht« hat, liefert das Eigenzeugnis des Apostels selbst: Röm 7. Dieses Kapitel ist im Rückblick formuliert und zeichnet den unbewussten Konflikt, den Paulus vor seiner Bekehrung ausgetragen hat. »Röm 7 ist das Ergebnis einer langen rückblickenden Bewusstmachung eines ehemals unbewußten Konflikts.«32

Doch steht dem der fast einhellige Konsens der heutigen Exegese entgegen, dass Röm 7 nicht für die Biographie des Paulus herangezogen werden dürfe. Drei Gründe werden seit der klassischen Arbeit von Werner Georg Kümmel aus dem Jahr 192933 gegen ein biographisches Verständnis des ›Ich‹ in Röm 7 vorgebracht:

1. Das sprechende ›Ich‹ ist wie z. B. in den atl. Psalmen eine Stilform;

2. Röm 7 ist im Kontext des ganzen Römerbriefs zu verstehen und gibt in der Form eines Rückblicks eine theologische und keine historische Beschreibung des vorchristlichen ›Ich‹;

3. Paulus verrät an anderen Stellen wie Phil 3,6, wo er seine untadelige Gerechtigkeit in der Erfüllung des Gesetzes betont, nichts von einem Zwiespalt in seinem vorchristlichen Lebensabschnitt.

Gegen die ersten beiden Argumente lässt sich einwenden, dass sie ein biographisches Verständnis gar nicht ausschließen. Durch den Hinweis auf die theologische Form dieses Rückblicks ist ja noch nicht die historische Frage aufgehoben, inwiefern dieser theologischen Selbstinterpretation seiner eigenen Biographie nicht auch ein historischer Kern entspricht.

 

Das dritte Argument soll in Auseinandersetzung mit Martin Hengels großer Abhandlung über den vorchristlichen Paulus34 zurückgewiesen werden. Nach Hengel drückt Phil 3,6 (»voll Eifer die Gemeinde verfolgend, in der im Gesetz verlangten Gerechtigkeit untadelig geworden«) ein völlig gefestigtes Selbstvertrauen des vorchristlichen Paulus aus: »So spricht keiner, der von Depressionen heimgesucht wurde. Dieses eindeutige Bekenntnis zeigt, dass der junge Schriftgelehrte Paulus glaubte, den hohen Anforderungen einer vollkommenen Toraobservanz pharisäischer Prägung ohne Einschränkung genügen zu können«. (S. 283).

Doch kann ein wirklich historisches Verständnis, nach dem Hengel in allen seinen Arbeiten strebt, sich damit nicht zufrieden geben. Hengels Verweis auf Phil 3,6 berücksichtigt zu wenig den Argumentationscharakter des Textes, in dem es dem Apostel darauf ankommt, seine Vollkommenheit in der Erfüllung des Gesetzes zu betonen. Sodann kann man im Bewusstsein durchaus auf seine nomistischen Errungenschaften stolz sein und zugleich unbewusst einen Konflikt austragen.

Meine These lautet, dass der in Röm 7 geschilderte Konflikt zu echt, zu »erfahrungsgeladen«, zu lebendig ist, als dass Paulus ihn z. B. im Rückblick auf die jüdische Existenz rein theoretisch entworfen haben könnte. Zwar meint Rudolf Bultmann, »sowenig Röm 7 eine Konfession des Paulus ist, sondern eine Beschreibung der jüdischen Existenz überhaupt, so sehr muss diese eben deshalb doch auch auf das jüdische Dasein des Paulus zutreffen.«35 Doch stellt sich demgegenüber sofort die Frage: Wenn Röm 7 per Deduktion auf Paulus angewendet werden kann, warum soll derselbe Text nicht auch per Induktion aus den persönlichen Erfahrungen des Apostels entstanden sein?36 Hier rächt sich eine ausschließlich an der Existenzanalyse orientierte Exegese, die den Erfahrungsaspekt einerseits und die Aufgabe historischer Rekonstruktion andererseits aus den Augen verloren hat. Es ist überhaupt nicht plausibel zu machen, warum man Röm 7, wenn es doch eine Beschreibung der jüdischen Existenz des Paulus ist, nicht zu einer historischen Rekonstruktion dieses seines Lebensabschnittes heranziehen soll.37

Das Ich in Röm 7:

V. 7 – 12: Es fällt auf, dass der Abschnitt nicht spezifizierend von Gesetzen, Sünden usw. spricht, sondern von der Begegnung »des« Gesetzes mit »dem« Ich und dem Aufleben »der« Sünde. Paulus erzählt also die Urgeschichte des Ich in starker Verallgemeinerung, wobei dies einen biographischen Bezug nicht notwendig ausschließt. Sicher ist vorerst nur, dass Paulus nicht über den Konflikt im christlichen Ich spricht, weil hiergegen die Aussagen in Röm 8 stehen, wo das Leben im Geist beschrieben wird (vgl. bes. V. 12 – 14). Daher nimmt man allgemein an, in V. 7 – 12 sei das unter dem Gesetz stehende Ich gemeint, und zwar so, wie es für das Auge des vom Gesetz Befreiten sichtbar geworden ist.38

Gegen die Annahme eines unbewussten Konflikts wird V. 7 ins Feld geführt mit seiner Aussage: »Die Sünde erkannte ich nicht außer durchs Gesetz«. Wie soll da ein unbewusster Konflikt vorliegen, wenn das Gesetz Sünde bewusst macht? Doch ist demgegenüber die entscheidende Frage, wann die Bewusstmachung einsetzt. Der genannte Satz ist ja lehrhaft im Rückblick formuliert, und die Erzählung der Urgeschichte des Ich (V. 8 – 11) enthält keine kognitiven Elemente. D. h., die Annahme eines unbewussten Konflikts und damit ein biographischer Anteil des Paulus hinter V. 8 – 11 bleibt eine Möglichkeit. V. 13 würde dann die Bewusstwerdung der Sünde andeuten.39

Die eigentliche Entscheidung fällt in V. 14 – 25: Der hier vorliegende Konflikt umgreift das Bewusstsein und das Unbewusste.40 Einerseits ist der Zwiespalt zwischen Wollen und Tun ein ethischer Konflikt, der im Bewusstsein des Menschen stattfindet. Andererseits liegt der Konflikt tiefer als das Bewusstsein und ist im Unbewussten anzusiedeln, denn das »bewirken«. (V. 15) bezieht sich ja nicht allein auf die empirische Tat der Übertretung, sondern vor allem auf das Ergebnis des Tuns, den Tod. (Erst in der Weiterführung von V. 15 durch V. 19 wird daraus ein ethisch-moralischer Konflikt.) Und das Ich weiß (im Bewusstsein) gar nichts davon.

Bezüglich des Verhältnisses des unbewussten und bewussten Konflikts V. 14 – 25 ist zu beobachten, dass die Richtung des Textes in eine immer schärfere Bewusstwerdung des Konflikts weist. Das Ich von V. 21 ff durchschaut seine Gespaltenheit, und auch gegenüber V. 7 – 12 ist hinsichtlich der Bewusstwerdung des Konflikts eine größere Einsicht zu erkennen. Das Ich wurde lt. V. 11 getäuscht, in V. 21 ff erkennt es diese Täuschung, obwohl es sich nicht befreien kann. Als es aber befreit wurde, setzte im Rückblick die Erkenntnis des Konflikts ein, der nach Röm 7 ein Konflikt mit dem jüdischen Gesetz war. (Daran vermag der Befund nichts zu ändern, dass V. 21 einen doppelten Nomosbegriff enthält.) Was oben, S. 108, im Anschluß an C. G. Jung Christuskomplex genannt wurde, hat dann, wie Röm 7 zeigt, erstens mit dem Gesetz zu tun gehabt. Zweitens könnte dieser Konflikt aktuell durch die Verkündigung des gekreuzigten Christus ausgelöst worden sein (ein Gekreuzigter konnte nicht der Messias sein), drittens durch die universalen Tendenzen der Predigt der von Paulus verfolgten Christen und viertens durch die auch von den Hellenisten tradierte Liebespredigt Jesu.

Oskar Pfister schlug vor: Paulus war Hysteriker mit einer starken Begabung zur Liebe gegen andere Menschen.41 Er hatte ein bei Hysterikern häufiges Angstgefühl, »das sich bei religiösen Naturen mit dem Schuldgefühl amalgamiert und den Sündendruck steigerte«. (S. 276). »Jesus und die Christen forderten Liebe und nur Liebe. Paulus konnte als echter Hysteriker vor der Bekehrung nicht vollkommen lieben, das machte ja eben sein Leiden aus«. (S. 277). »Als Paulus sich Damaskus näherte, kam es zum katastrophenartigen Durchbruch der lang verdrängten Sehnsucht … Paulus vollzieht die Flucht aus der peinlichen Lage ins Jenseits der Halluzination«. (S. 279 f).

Das Damaskusgeschehen

Die Laufbahn des pharisäischen Eiferers nahm ein abruptes Ende. Paulus ist einer jener Menschen, deren Leben durch eine einzige innere Katastrophe in zwei Hälften zerschnitten wird. Seine Person bricht auseinander. Er stürzt förmlich in Christus hinein und ist ein für allemal dem Unheilszusammenhang zwischen Tod, Gesetz und Sünde (vgl. 1Kor 15,56) enkommen, steht im Leben, erleuchtet von der Ewigkeit, erwärmt von der Liebe Gottes. Dabei macht er an sich die ungeheure Erfahrung, ein neues Ich zu erhalten, und gewinnt für die Folgezeit einen maßgeblichen Orientierungspunkt des Denkens. Als Lügenmessias hatte Paulus Jesus gehasst und seine Anhänger bekämpft. Aber auf dem Wege nach Damaskus, inmitten einer von ihm selbst gestarteten Verfolgungsaktion, sah er diesen Jesus in himmlischem Licht und wurde unwiderstehlich von der Überzeugung ergriffen, die sein bisheriges Leben förmlich über den Haufen warf: Der Gekreuzigte lebt, also ist er der Messias. Dieser Augenblick entschied über sein Leben.

Psychologisch dürfte es sich bei diesem Ereignis um eine Vision gehandelt haben (vgl. bes. 1Kor 9,1: Paulus hat den Herrn gesehen).42 Dieser Sachverhalt wird in der protestantischen Bibelforschung oft abgestritten, und die Geschichte ihrer Voreingenommenheit, ja, Verständnislosigkeit gegenüber Phänomenen wie Visionen (und Auditionen) muss erst noch geschrieben werden. Visionen waren bei Paulus nicht auf das »Damaskusereignis« beschränkt43, auch in späterer Zeit begleiteten visionäre Erfahrungen sein Leben (vgl. Gal 2,2; Apg 16,9), die der Apostel oft mit einer Krankheit bezahlen musste.44

Visionen sind Vorgänge im menschlichen Geist und Produkte der eigenen Vorstellungskraft, obwohl es Visionäre regelmäßig anders erzählen: Sie empfangen von außen Bilder und vernehmen von außen Laute. So hat auch Paulus mit Sicherheit niemals daran gezweifelt, dass er Jesus damals (und auch später) wirklich gesehen hat, und die Vision wirkte auf ihn mit der vollen Kraft einer objektiven Tatsache.45 Doch kann die Objekthaftigkeit der Ausdrucksweise nicht dagegen ausgespielt werden, dass es sich dabei um den religiösen Ausdruck des Subjekts handelt.46

Die Vision ist ein Primärphänomen, eine religiöse Erfahrung, welche die Raum-Zeit-Beschränkung sowie die Subjekt-Objekt-Beziehung aufhebt und sich – wie sollte es anders sein – in einem nicht-rationalen Bereich vollzieht. Visionen sind freilich uns heutigen Menschen als eigene Erfahrungen fremd geworden. Man setzt sie vielfach mit (krankhaften) Halluzinationen gleich, ohne zu berücksichtigen, dass sie geradezu einem Denken in urtümlichen Bildern und Symbolen entstammen, das über den Verstand hinaus-, ja, diesem bereits vorangeht und allen Menschen eigen ist.

Dieses »Denken« ist heutzutage oft aus Theologie und Kirche in Kunst und Dichtung abgewandert und blitzt im Alltag da und dort auf, wo wir eine geliebte Person in einem sie uns erschließenden Erlebnis erst dann richtig begreifen, wenn wir sie »sehen«. Ferner findet es eine Entsprechung in manchen Träumen, die generell der gleichen Erlebniswelt wie Visionen entspringen. Eigentliches Leben ist wohl nur in Übereinstimmung mit diesen Bildern in uns selbst möglich. Insofern kann man dann auch sagen, dass Paulus vor Damaskus seinem Christusbild begegnet ist.