Ketzer

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Zum anderen war die Lage in Jerusalem für die dortige Gemeinde schwieriger geworden, weil sich einflussreiche Gruppen in Jerusalem im Vorfeld des jüdischen Krieges radikalisiert hatten. Und vielleicht ist die Kollekte auf der Konferenz zunächst gar nicht gefordert, sondern erst von Paulus ins Spiel gebracht worden, um einen Verhandlungserfolg zu erzielen.

Unter den 18 Halachot (vgl. MSchab 1,4 – 9), die einige Juden vor der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 beschlossen hatten, befand sich auch das Verbot, von Heiden Geschenke anzunehmen.74 Man kann darin eine Entsprechung zum Verhalten der Jerusalemer Gemeinde gegenüber der Gabe der heidenchristlichen Kirchen sehen und schlussfolgern: Was einst akzeptabel war, war jetzt, mitbedingt durch Entwicklungen in Jerusalem und im paulinischen Missionsgebiet, für die Jerusalemer Gemeinde unerträglich, ja geradezu »ein vergiftetes Geschäft«75 geworden.

Paulus ahnte offenbar Böses, denn er bittet kurz vor der Reise nach Jerusalem die Römer um Beistand im Gebet, »dass ich errettet werde vor den Ungehorsamen (= Juden) in Judäa und mein Dienst (= die Kollekte) den Heiligen (= der Jerusalemer Gemeinde) willkommen sei«. (Röm 15,31). M. a. W., er kennt die Entrüstung der (ungläubigen) Juden in Jerusalem, aber auch die Verschlossenheit der dortigen Gemeinde gegenüber seiner Person und der Kollekte.

Der jüdische Geschichtsschreiber Josephus über die Hinrichtung des Jakobus

Josephus, Ant XX 199 – 203:

»Der jüngere Hannas jedoch, dessen Ernennung zum Hohepriester ich soeben erwähnt habe, war von heftiger und verwegener Gemütsart und gehörte zur Partei der Sadduzäer, die, wie schon früher bemerkt, im Gerichte härter und liebloser sind als alle anderen Juden. Streng und hart, wie er war, glaubte Hannas auch jetzt, da Festus gestorben, Albinus aber noch nicht angekommen war, eine günstige Gelegenheit gefunden zu haben. Er versammelte daher den Hohen Rat zum Gericht und stellte vor dasselbe den Bruder des Jesus, der Christus genannt wird, mit Namen Jakobus, sowie noch einige andere, die er der vermeintlichen Gesetzesübertretung anklagte und zur Steinigung führen ließ. Das aber erbitterte auch die eifrigsten Beobachter des Gesetzes, und sie schickten deshalb insgeheim Abgeordnete an den König (sc. Agrippa) mit der Bitte, den Hannas schriftlich aufzufordern, daß er dergleichen nicht mehr tue. Denn es war nicht das erste Mal, daß er nicht recht gehandelt hätte.«76

Die Erzählung des jüdischen Historikers Flavius Josephus »ist ein echter Bericht des Jerusalemer Priesters und Augenzeugen und ist sicher zuverlässig, nicht eine christliche Interpolation.«77 Zum Zeitpunkt der Hinrichtung des Jakobus ca. 62 n. Chr. war Josephus Priester in Jerusalem und etwa 25 Jahre alt (Vita 12 f). Das Interesse der Erzählung betrifft den sadduzäischen Hohenpriester Hannas, der sich eine unrechtmäßige Hinrichtung zu Schulde hat kommen lassen, nicht etwa Jakobus. Auch deswegen scheidet die These einer späteren Hinzufügung durch einen Christen aus.

Josephus blickt aus Gründen des Kontrasts, indem er die Grausamkeit des Sadduzäers Hannas herausstreicht, offenbar auf einen Vorfall unter Johannes Hyrkanus zurück (Ant XIII 293 – 296), der von der Milde der Pharisäer vor Gericht Zeugnis ablegte.

Der oben zitierte Josephus-Text lässt folgende Schlüsse zu78:

1. Jakobus wurde auf Betreiben des Hohenpriesters Hannas vor dem Hohen Rat zusammen mit einigen anderen, die wohl als Judenchristen zu identifizieren sind, wegen Gesetzesübertretung zum Tod durch Steinigung verurteilt. Dies geschah zwischen dem Tod des Prokurators Festus und vor der Ankunft des neuen Prokurators, des Albinus, ungefähr im Jahr 62.

2. Eine Gruppe, die zu den eifrigsten Beobachtern des Gesetzes gehörte, d. h. Pharisäer, protestierte aufs schärfste gegen das Vorgehen des Hannas, was zu dessen Absetzung führte. Dabei mag offen bleiben, ob die Pharisäer sich gegen das Recht des Hohenpriesters aussprachen, den Hohenrat ohne Genehmigung des Prokurators in einem Kapitalprozeß einzuberufen, oder ob sie gegen das Todesurteil Stellung nahmen oder gegen beides.79 In jedem Fall protestierten die Pharisäer sowohl gegen die Anklage als auch gegen den Ausgang des Verfahrens. Die Anklage, dass Jakobus und seine Anhänger Gesetzesbrecher seien, erfolgte daher zu Unrecht.

Die Stellung des Jakobus muss so profiliert gewesen sein, dass die Gruppe, die er repräsentierte, nun nicht mehr als in, sondern neben der jüdischen Gemeinde stehend angesehen wurde. Er galt als der Gerechte (vgl. Hegesipp bei Euseb, KG II 23,7). Nach Martin Hengel hat der »Beiname ›der Gerechte‹… dabei in ähnlicher Weise ›ekklesiologische‹ Bedeutung wie ›Kephas‹ für Simon, ja er übertrifft für das Judenchristentum dessen Gewicht bei weitem. Zugleich erklärt die Funktion des Jakobus als saddiq seine Bezeichnung als ›Schutzmauer‹. Schon seine Existenz hält Unheil von seinem Volke fern, seine Fürbitte dringt zu Gott und hat Sühne wirkende Funktion, denn die Gerechten verwandeln Gottes Strafgerechtigkeit in Barmherzigkeit.«80 Jakobus’ vorbildlicher Thoragehorsam wurde offenbar auch außerhalb der Jerusalemer Gemeinde anerkannt.

Sein Amt mag vom Hohenpriester als Konkurrenz empfunden worden sein. Die Macht seiner Person und das traditionelle Misstrauen der Sadduzäer, welche meistens den Hohenpriester stellten, gegen Neuerungen werden ein übriges hinzugetan haben. So konnte der Hohepriester Hannas auch den Jakobus seinen Gegnern zurechnen, gegen die er im Hohenrat Todesurteile durchsetzte. Jakobus wurde gesteinigt, er starb aber in Wahrheit nicht »als Gesetzesbrecher«, wie selbst Martin Hengel missverständlich schreibt81, sondern aus persönlicher Rivalität, über deren theologischen Hintergrund kein Urteil mehr möglich ist.82 Wenn irgendwo, dann wird hier der untadelige Wandel des Jakobus im Judentum deutlich.

Trotzdem trug die Hinrichtung des Jakobus dazu bei, dass aus den innerjüdischen Spannungen ein Bruch zwischen zwei Gemeinden wurde, von denen die eine langfristig nicht mehr zur jüdischen Gemeinschaft gehören sollte. Eine historische Entwicklung, die ungeplant war, führte zu einem Resultat, das vorher niemand ahnen konnte und das bezüglich der Jerusalemer Gemeinde unter Jakobus – historisch geurteilt – unberechtigt war.

Allerdings würde es zu weit führen, anzunehmen, dass sich Anhänger des Jakobus nicht am jüdischen Aufstand gegen Rom beteiligten. Zwar verwarf die Mehrheit einen Aufstand gegen die Römer. Selbst der Hohepriester Hannas, der Jakobus steinigen ließ, gehörte der gemäßigten Partei an, die einen Krieg gegen die Römer ablehnte. Doch folgt daraus keinesfalls, dass die Jerusalemer Gemeinde die Hauptstadt verließ, um so weniger, als ein Großteil der sogenannten Friedenspartei auch nicht aus Jerusalem flüchtete. Man wird vielmehr ernsthaft mit der Möglichkeit rechnen, dass ein Teil der christlichen Gemeinde ebenso wie die friedenswilligen Pharisäer und Sadduzäer im Jüdischen Krieg in Solidarität mit ihrem Volk umgekommen ist. Ein anderer Teil hatte Jerusalem bereits vorher verlassen, und noch andere Judenchristen dürften vor der anrückenden römischen Armee aus Galiläa und Samarien in das Ostjordanland geflohen sein.

Teil II: Das Jerusalemer Judenchristentum nach dem Jüdischen Krieg

Das Referat bei Irenäus

Ein summarisches Referat über die Judenchristen findet sich bei Irenäus, Haer I 26,2:

»Die sogenannten Ebionäer stimmen (uns) zwar darin zu, dass die Welt vom wahrhaftigen Gott gemacht ist, aber über den Kyrios erzählen sie genau wie Kerinth und Karpokrates. Sie verwenden nur das Evangelium nach Matthäus, und den Apostel Paulus lehnen sie ab, indem sie ihn Apostaten vom Gesetz nennen. Sie bemühen sich übereifrig um die Auslegung der prophetischen Schriften. Sie praktizieren die Beschneidung und halten an diesen Gewohnheiten, die vom Gesetz verlangt sind, fest, auch an den jüdischen Lebensformen, so dass sie Jerusalem verehren, als ob es Haus Gottes sei.«83

Da zwischen dem Ende der Jerusalemer Gemeinde und der Niederschrift des zitierten Referats gut ein Jahrhundert liegt, muss die Vermutung, die Gruppe der Ebioniten sei ein Ableger der Jerusalemer Gemeinde, natürlich begründet werden. Für ihre historische Plausibilität sprechen folgende Überlegungen:

1. Der Name »Ebioniten« dürfte die Selbstbezeichnung dieser Gruppe sein. Irenäus, bzw. seine Quelle, gebraucht ihn ja ohne weiteren Kommentar – wohl deswegen, weil sie darüber nichts Näheres auszuführen wussten. Der Name geht auf das hebräische Wort ebjonim zurück. Diese Selbstprädikation konnte an eine jüdische Ehrenbezeichnung anknüpfen (vgl. Ps 86,1 f; 132,15 f; Jes 61,1 ff); höchstwahrscheinlich jedoch nahm die Gruppe damit einen Titel der Jerusalemer Urgemeinde, »die Armen«, auf.84

2. Die Paulusfeindschaft ist im christlichen Bereich in der Zeit vor 70 vor allem für Gruppen bezeugt, die aus Jerusalem stammen.

3. Das Gleiche gilt von der Gesetzesbeobachtung, die in der Beschneidung gipfelt.

4. Die Gebetsrichtung nach Jerusalem macht die Herkunft der Ebioniten von dort wahrscheinlich.

Fazit: Das Irenäus-Referat enthält ein wertvolles Zeugnis über den Ableger der ältesten Jerusalemer Gemeinde. Man wird dabei jedoch mit mehreren Gruppen rechnen, die Irenäus in diesem Referat zusammengefasst hat.

 

Der Bericht Justins85

Eine Generation vor Irenäus beschreibt der Apologet Justin judenchristliche Gruppen im Dialog mit Tryphon 46 f. Der relativ ausführliche Text ist wegen seiner Wichtigkeit86 am Ende dieses Buches (S. 290 – 291) auszugsweise in deutscher Übersetzung beigegeben.87

Justin zählt folgende Merkmale der von ihm beschriebenen Christen auf: Sie halten den Sabbath, praktizieren die Beschneidung, beobachten Monate und praktizieren Taufen bzw. Reinigungsbäder (vgl. Dial 46,2).88 Das erweist sie als Judenchristen. Man wird sie zusätzlich in überwiegendem Maße als Juden im ethnischen Sinne bezeichnen dürfen. Zwar setzt Justin voraus, dass ein Heidenchrist Judenchrist oder sogar Jude werden könnte. Doch sind das Spezialfälle, die gerade als Ausnahmen die Regel bestätigen, dass Justin in Dial 46 f von als Juden geborenen Christen und ihrem Verhältnis zu Heidenchristen handelt.

Nach dem Justinreferat nahmen die Judenchristen eine unterschiedliche Haltung zu ihren heidnischen Glaubensbrüdern ein. Sie hatten darüber eine abweichende Meinung, ob sie die von ihnen geübte Gesetzespraxis auch von den Heidenchristen verlangen sollten. Der eine Teil lehnte die Gemeinschaft mit den Heidenchristen ab, falls diese nicht ebenfalls jüdisch lebten (47,3). Der andere Teil befürwortete ohne eine solche Forderung Gemeinschaft mit ihnen (47,2).

An welche Art Gemeinschaft ist gedacht? Justin spricht 47,2 vom Zusammenleben, d. h. von der Gemeinschaft des geselligen Verkehrs und des Essens.

Das Problem wurde für reisende Christen akut, die Unterkunft in christlichen Häusern suchten und auf die Hilfe ihrer Brüder und Schwestern angewiesen waren. Justin, der nach eigener Angabe aus Flavia Neapolis in Palästina stammt (I Apol 1,1) und sich später in Ephesus und Rom aufhielt, war schon von seiner Biographie her die Wichtigkeit einer solchen Frage geläufig. Da er zumindest in Palästina Judenchristen persönlich kennengelernt hatte, empfand er Verständnis für ihre Eigenheiten. Andere Heidenchristen brachten diese Toleranz nicht auf und lehnten die Gemeinschaft mit Judenchristen generell ab.

Justin scheinen daher Judenchristen beider Arten vertraut zu sein, so dass seinem Bericht ein besonderer Wert zukommt. Da zwischen ihnen nur die Stellung zu den Heidenchristen kontrovers gewesen zu sein scheint, mag man davon ausgehen, dass sie nicht zu verschiedenen Gemeinden gehört haben, sondern jeweils in einer Gemeinschaft vereint gewesen sind. Eine Parallele liefert die judenchristliche Kirche Jerusalems vor 70 n. Chr., die trotz unterschiedlicher Einstellung zur Heidenchristenheit eine Gemeinde bildete. »Unschwer sind hier (sc. im Bericht Justins) die beiden auf dem Apostelkonvent von judenchristlicher Seite in Jerusalem vertretenen Positionen wiederzuerkennen, wie immer auch der Zusammenhang historisch sein mag.«89

Über den geographischen Ort der Judenchristen äußert Justin sich leider nicht. Man wird aber wahrscheinlich an Palästina denken (vielleicht aber auch an Kleinasien); in beiden Gebieten hat sich Justin längere Zeit aufgehalten.

Es ist nun möglich, eine Paulusfeindschaft der Judenchristen Justins als wahrscheinlich zu erweisen, obwohl Justin diese nicht ausdrücklich erwähnt.

Als Voraussetzung sei die Annahme eingeführt, dass Paulus in der ersten Hälfte des 2. Jh.s im östlichen und westlichen Christentum bekannt gewesen ist. Zwar kann man den Gebrauch seiner Briefe und/​oder die Kenntnis seiner Person nicht in jeder heidenchristlichen Gemeinde voraussetzen, wohl aber in den Zentren Antiochien, Kleinasien, Griechenland und natürlich Rom.

Nun hat eine Klasse der Judenchristen Justins harte Forderungen gegenüber Heidenchristen erhoben und bei ihrer Nichtbeachtung die Gemeinschaft mit diesen abgelehnt. Dies setzt voraus, daß die Judenchristen über Heidenchristen einschließlich ihrer Wertschätzung des Heidenapostels informiert waren. Eine Verweigerung der Gemeinschaft mit den Heidenchristen war daher in vielen Fällen notwendig mit einer Ablehnung des Paulus verbunden.

Die Frage, ob Justin Paulusbriefe gekannt und benutzt hat, ist sicher positiv zu beantworten. So benutzt er Dial 27,3 dieselben Psalm- und Jesajazitate wie Röm 3,12 – Ps 14,3; 5,10; 140,4; Jes 59,7 f –, und zwar in derselben Reihenfolge, und er gibt Dial 39,1 f »die Klage des Elias gegen Israel und Gottes Antwort (vgl. 1Kg 19,10/​17) in einer Weise wieder …, die in mehreren Einzelheiten gegen die LXX-Version mit Röm 11,2/​5 übereinstimmt.«90 Überdies ist daran zu erinnern, dass in Rom vor dem Ende des 1. Jh.s Petrus und Paulus ein festes Personenpaar und zumindest Röm und 1Kor greifbar waren. Man vgl. dazu auch den am Ausgang des 1. Jh.s verfassten Brief der römischen Kirche an die korinthische Gemeinde:

(1) »Doch um mit den alten Beispielen aufzuhören, lasst uns zu den Kämpfen der jüngsten Zeit kommen: Nehmen wir die edlen Beispiele unseres Geschlechts. (2) Wegen Eifersucht und Neid sind die größten und gerechtesten Säulen verfolgt worden und haben bis zum Tode gekämpft. (3) Halten wir uns vor Augen die tapferen Apostel: (4) Petrus, der wegen ungerechtfertigter Eifersucht nicht eine und nicht zwei, sondern viele Mühen auf sich genommen hat und der so – nachdem er Zeugnis abgelegt hatte – gelangt ist an den ihm geschuldeten Ort der Herrlichkeit. (5) Wegen Eifersucht und Streit hat Paulus den Kampfpreis der Geduld aufgewiesen: (6) Siebenmal Ketten tragend, vertrieben, gesteinigt, Herold im Osten wie im Westen, hat er den edlen Ruhm für seinen Glauben empfangen. (7) Gerechtigkeit hat er die ganze Welt gelehrt und hat Zeugnis abgelegt vor den Führenden, so ist er aus der Welt geschieden und ist an den heiligen Ort gelangt – größtes Vorbild der Geduld«. (1Clem 5,1 – 7).

Aus der Tatsache, dass Justin Paulus nicht explizit erwähnt, erschließen manche Forscher in Verbindung mit anderen Argumenten eine paulusfeindliche Einstellung des Justin – zweifellos zu Unrecht, denn Justin greift Paulus gar nicht an. Andreas Lindemann hat diesen Sachverhalt anders erklärt: »Daß er Paulus nicht erwähnt, ist Folge seines theologischen Prinzips: Die Wahrheit des Christentums wird aus dem Alten Testament erwiesen; von Bedeutung sind daneben nur noch Worte Jesu, wie sie in den ›Denkwürdigkeiten der Apostel‹, d. h. den Evangelien, aufgezeichnet sind.«91 Hiergegen stellt sich aber sofort die Frage, warum Justin überhaupt Paulusbriefe benutzt. Daher ist Lindemanns Lösung unwahrscheinlich.

Statt dessen wird man den obigen Befund wie folgt deuten: Justin steht zwischen zwei Fronten. Er attackiert auf der einen Seite Markion und entwickelt ihm gegenüber eine eigentümliche Gesetzeslehre92, um die Kontinuität der atl. und ntl. Offenbarung zu sichern. Auf der anderen Seite befindet sich Justin in einem Dialog mit dem Judentum, so sehr dieser auch monologisch geführt wird. Das Fatale an der Situation bestand nun darin, dass der christliche Ketzer Markion, den Justin in einem früheren Werk ausdrücklich bekämpfte (s. oben S. 41), Paulus auf seinen Schild erhoben hatte und andererseits derselbe Paulus den Juden tabu war. Ein Nennen des Heidenapostels hätte Justin daher gleichzeitig zu sehr in die Nähe Markions gerückt und den Dialog mit den Juden erschwert. Die

»absichtliche Nennung des Apostels und die ausdrückliche Berufung auf ihn als orthodoxen Ausleger alttestamentlicher Typologie (sc. wäre eben) wenig hilfreich in einer Stadt, in der zur gleichen Zeit Markion wirkte und mit Paulus das Alte Testament bekämpfte.«93

Das alles hat Konsequenzen für die Beurteilung von Dial 46 f. Denn war Paulus aus den aufgeführten Gründen von Justin absichtlich ausgelassen worden, so verbot es sich von selbst, die Paulusablehnung von Judenchristen zur Sprache zu bringen. Justin war dann gezwungen, den Antipaulinismus der von ihm referierten Judenchristen zu übergehen.

Nach dem soeben Ausgeführten drängt sich also die These auf, dass die Judenchristen Justins ein historisches Bindeglied zwischen dem Jerusalemer Judenchristentum vor dem Jahre 70 und den im Ketzerreferat des Irenäus zusammengefassten judenchristlichen Gemeinden sind.

Das Jerusalemer Judenchristentum in den Pseudoklementinen94

Ableger des Jerusalemer Judenchristentums finden sich nachweislich bis zum 4. Jh. über Palästina, das Ostjordanland und Syrien verstreut. Dies ergibt eine hier ausgelassene Analyse der Referate der Kirchenväter Hippolyt, Eusebius und Epiphanius.95 Die für die Kenntnis des älteren Judenchristentums einst hochgeschätzten Pseudoklementinen sind heute fast in Vergessenheit geraten – m. E. zu Unrecht, wie einige Proben ihrer Paulus-Feindschaft noch erweisen werden.

Die Pseudoklementinen sind in ihrer jüngsten Fassung (4. Jh.) ein Wiedererkennungsroman, angeblich verfasst von Klemens von Rom, der in ihm von dem Verlust seiner Familie und ihrer glücklichen Zusammenführung berichtet. In sie wurden verschiedene Quellenschriften eingelegt, deren älteste Schichten aus dem 2. Jh. stammen. Sie enthalten heftige Polemik gegen Paulus, die z. T. pamphlethaft wirkt, und es »spitzt sich alles auf eine krasse Bestreitung der Legitimität seines Apostolats zu.«96 In einer Disputation in Laodicea, deren Tradition ins 2. Jh. weist, führt Petrus in einer für jerusalemische Paulusgegner typischen Art ein für allemal aus, dass Paulus den Auferstandenen auf keinen Fall gesehen haben könne. Die Begründung dafür ist ebenso einfach wie einleuchtend: Nur die Augenzeugen des geschichtlichen Jesus kommen für die Erwählung zum Apostelamt in Frage. Man vgl. Apg 1,21 f.

Demgegenüber hätten die Schauungen des Herrn, die Paulus 2Kor 12,1 zufolge empfangen habe, keine Geltung, und nicht nur dies, sie seien vielmehr Offenbarungen eines bösen Dämons oder Lügengeistes. Allein der persönliche Umgang mit dem geschichtlichen Jesus und die Belehrung durch ihn gäben Gewissheit, die Vision dagegen, die auch von einem Teufelsgeist herrühren könne, lasse in Ungewissheit. Zwar lögen von Gott gesandte Visionen nicht. »Ungewiss aber ist, ob der Sehende einen gottgesandten Traum gesehen hat«. (Hom XVII 15,2).

Im Anschluss führt Petrus eine Reihe biblischer Visionen bzw. Träume auf (XVII 17,1 – 4), um sofort zu betonen, dass der Fromme dieses Umgangs gar nicht bedürfe.

»Denn dem Frommen quillt das Wahre im Verstand, der angeboren und rein ist, hervor – nicht im Traum erstrebt, sondern dem Guten durch Einsicht gegeben. Denn so ist auch mir der Sohn vom Vater offenbart worden. Daher weiß ich, was das Wesen der Offenbarung ist, da ich es an mir selbst erfahren habe. Denn zugleich, als der Herr sagte, wie man ihn nenne, und da ich hörte, dass ihn jeder anders nannte, stieg es in meinem Herzen auf; und ich sprach, ich weiß wahrlich nicht, wie ich dazu kam: ›Du bist der Sohn des lebendigen Gottes‹ (Mt 16,16). Nachdem er mich aber seliggepriesen hatte, verriet er mir, dass es der Vater sei, der mir das offenbart habe, ich aber weiß seither, dass Offenbarung Wissen ist ohne Belehrung, ohne Erscheinung und Träume«. (Hom XVII 17,5 – 18,2).

Die daraus gezogene polemische Nutzanwendung an die Adresse des Paulus lautet dann:

»Wenn dir wirklich auch unser Jesus in einer Vision erschienen ist und sich dir bekanntgemacht hat, dann ist er mit dir zürnend wie mit einem Widersacher zusammengekommen; deshalb sprach er durch Visionen und Träume oder auch durch Offenbarungen, die von außen sind. Ob aber jemand aufgrund einer Erscheinung zur Lehre befähigt werden kann? Und wenn du sagst: ›Es ist möglich‹– weshalb blieb und verkehrte dann der Lehrer ein ganzes Jahr mit denen, die wach waren? Wie können wir dir aber auch glauben, selbst wenn du sagst, dass er dir erschienen ist? Wie kann er dir aber auch erschienen sein, wenn du das denkst, was seiner Lehre widerspricht? Wenn du aber von jenem eine Stunde lang besucht und unterwiesen und daraufhin Apostel geworden bist, dann verkündige seine Worte, lege seine Lehre aus, liebe seine Apostel, kämpfe nicht mit mir, seinem Jünger; denn mir, gegen den festen Fels, der ich bin, den Grundstein der Kirche, bist du feindlich entgegengetreten. Wenn du kein Widersacher wärst, würdest du mich nicht schmähen, indem du die Verkündigung von mir verleumdest, damit man mir nicht glaubt, wenn ich sage, was ich vom Herrn als Ohrenzeuge gehört habe, so als sei ich unstreitig verurteilt worden und du von gutem Ruf. Wenn du mich aber ›verurteilt‹ nennst (Gal 2,11), beschuldigst du Gott, der mir den Christus offenbart hat, und setzt den herab, der mich aufgrund der Offenbarung seliggepriesen hat. Wenn du aber doch wahrhaftig die Wahrheit fördern willst, dann lerne zuerst von uns, was wir von jenem gelernt haben, und wenn du ein Jünger der Wahrheit geworden bist, dann werde unser Mitarbeiter«. (Hom XVII 19,1 – 7).

 

Diese Rede des Petrus ist sensationell. Sie wirkt echt und erweckt den Eindruck, die wichtigsten Argumente der judenchristlichen Widersacher gegen Paulus zu enthalten. Formal hat sie eine Entsprechung in der Gal 2,11 ff aufbewahrten Rede des Paulus an die Adresse des Petrus in Antiochien und ist von dem bitteren Beigeschmack durchdrungen, den diese bei Petrus hinterlassen hat. Auf derselben Ebene an einer anderen Stelle der Pseudoklementinen liegt die Bemerkung des Petrus, dass Paulus von dem Vorfall in Antiochien eine falsche Darstellung gegeben habe. So heißt es im dortigen Brief des Petrus an Jakobus, der den Homilien vorangestellt ist:

»Denn einige derer, die von den Heiden sind, haben die durch mich verkündigte gesetzliche Predigt verworfen und sich einer ungesetzlichen und albernen Lehre des feindlichen Menschen (= Paulus, Vf.) angeschlossen. Und noch dazu haben einige, obwohl ich noch lebe, versucht, mit manch schillernden Deutungen meine Worte zu entstellen in Richtung auf eine Auflösung des Gesetzes, als ob auch ich selbst so dächte, es aber nicht freimütig predigte. Das sei fern!«. (2,3 f).

Andererseits – trotz der scheinbaren Echtheit des Stils der petrinischen Rede – stammt diese bzw. die in ihr überlieferte Tradition frühestens aus dem 2. Jh. und kann nicht direkt auf die antipaulinischen Widersacher zurückgeführt werden. Das scheidet auch deswegen aus, weil der historische Petrus in einer relativen Nähe zu Paulus stand und die eigentliche Opposition auf die Kreise um Jakobus bzw. diesen selbst zurückgehen. Trotzdem dürfte die Annahme berechtigt sein, dass in den Pseudoklementinen die »alten Argumente der Jerusalemer Judenchristen gegen Paulus benutzt und konserviert worden sind.«97

Der kompromisslose Widerstand der Judenchristen gegen Paulus entzündete sich dort, wo er seine Damaskusvision dazu gebrauchte, a) seine Ebenbürtigkeit mit den Jerusalemer Aposteln zu erweisen und b) daraus die Rechtfertigung zu einer »gesetzeslosen« Predigt unter den Heiden abzuleiten. Das konnten jene, die mit Jesus persönlichen Umgang hatten, niemals zulassen.

Paulus galt unter diesen Judenchristen sogar als der »feindliche Mensch«. In dem oben angeführten Brief des Petrus an Jakobus prangern sie sein Falschevangelium an und verabscheuen seine ungesetzliche Lehre. Petrus und Jakobus vertreten demgegenüber die »gesetzliche« Verkündigung, die sich an Juden aber auch an Heiden richtet. Von dem Ketzer Paulus sei ein Evangelium gekommen. Dann sei nach der Zerstörung Jerusalems »ein wahres Evangelium heimlich ausgesandt worden, um die kommenden Ketzereien zu korrigieren«. (Hom II 17,4). Offenbar haben dabei die judenchristlichen Lehrer, die hinter dieser Tradition stehen, an die Stelle der Beschneidung die Taufe als Initiationsakt gesetzt. Waren sie sich etwa nicht bewusst, dass sie nun ebenso wie ihr Feind Paulus Heidenmission trieben und dabei in gleicher Weise auf die Beschneidungsforderung verzichteten? Merkten sie nicht, dass sie Paulus ein Stückweit entgegengekommen waren, ohne es zu wollen? Aber jetzt war es für eine wirkliche Annäherung zwischen diesen Judenchristen und Paulus schon zu spät.

Zusätzlich ist es eine Ironie des Schicksals, dass die Jerusalemer Judenchristen bzw. ihre Nachfahren zu einem Zeitpunkt weiter heftig gegen Paulus polemisieren, als dessen Person und Wirken in der katholischen Kirche bereits im Vormarsch war. Walter Bauer hat die Ironie in dem sich über eineinhalb Jahrhunderte abspielenden Prozess mit folgenden Worten beschrieben:

»So ist also, wenn man sich etwas zugespitzt ausdrücken darf, der Apostel Paulus das einzige Ketzerhaupt gewesen, das die apostolische Zeit kennt, der einzige, der in ihr – wenigstens von gewisser Seite her – so beurteilt worden ist. Wenn man so will, haben die Judenchristen in ihrem Gegensatz zu Paulus den Begriff Ketzerei in die christliche Betrachtungsweise eingeführt. Der Pfeil ist schnell auf den Schützen zurückgeflogen.«98

Diesem ältesten christlichen »Ketzer« wenden wir uns in dem nun folgenden Kapitel zu.