Ketzer

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Die nun folgenden Institutionalisierungen waren an einem Weiterbestehen des gegenwärtigen Äons orientiert – nicht an seinem Ende –, wobei Einzelelemente der Lehre und Erwartung Jesu aufgenommen und produktiv weiterentwickelt wurden.32

Die erste und bedeutendste Institutionalisierung neuen Charakters bestand in der Einführung der Taufe33, die von Anfang an zur Vergebung der Sünden geschah und mit der die Verleihung des heiligen Geistes per Handauflegung verbunden war. Der eigentliche Grund für diese Handlung dürfte die schlichte Tatsache der Taufe Jesu durch Johannes (»zur Vergebung der Sünden«34) gewesen sein. Als dann Jesus zum Mittelpunkt des neuen Kultes geworden war, entstand wohl die Meinung, er habe auch selbst getauft (vgl. Joh 3,26 [»(Jesus) tauft und alle kommen zu ihm«]), die aber sofort korrigiert wird (vgl. Joh 4,2 [»Jesus taufte nicht selber, sondern seine Jünger«]).

Die zweite gleichermaßen bedeutende Institutionalisierung war die des »Herrentages«. (so wörtlich in Apk 1,10), an dem das Herrenmahl gefeiert wurde. Der »Herrentag« war der Tag nach dem Sabbat, an dem Jesus nach urchristlichem Glauben von den Toten auferweckt worden war (1Kor 15,4b). Wahrscheinlich hielt die junge Gemeinde zusammen mit den Juden auch den Sabbattag, doch streicht die ebenfalls allwöchentlich begangene Feier des Herrenmahls am Sonntag ihre Identität schon stark heraus.

Eine dritte Institutionalisierung wird zuweilen in der Apg 6,1 ff geschilderten Witwenversorgung als Diakonat bzw. als Tischdienst gesehen.35 Doch fällt eine Zustimmung zu dieser These schwer, weil Lukas in Apg 6 mit der Witwenversorgung offensichtlich einen anderen Konflikt überspielt.36. Gleichwohl dürften die Sieben (ebenso wie die Zwölf) eine institutionelle Aufgabe gehabt haben. Vielleicht sind die Sieben Kontrastbildung zu den Zwölf, den bisherigen Repräsentanten des Zwölf-Stämme-Volkes. Nur wissen wir damit noch nichts über ihre Funktion.37

In jedem Fall deuten die Sieben auf eine Parteiung hin. Denn die sieben Männer (Stephanus, Philippus, Prochorus, Nikanor, Timon, Parmenas, Nikolaos) tragen alle griechische Namen. Sie waren offensichtlich Vertreter einer von den aramäisch sprechenden Jesusnachfolgern zu unterscheidenden griechischsprachigen Gemeinde in Jerusalem, die sich aus Juden der Diaspora rekrutierte und die, wie Apg 6 – 7 berichtete, in freierer Weise als die »Hebräer« unter Berufung auf Jesus (Apg 6,13 f) Gesetzeskritik übten.38

So bleibt festzuhalten, dass nahezu von Beginn an zwei unterschiedliche Arten von Christentum in der heiligen Stadt versammelt sind, die eine aramäischsprachig und an jüdischen Sitten festhaltend, die andere griechischsprachig mit latent antinomistischer Tendenz. Pluralität steht also am Anfang der Urgemeinde, die viele der später ausgebrochenen Gegensätze bereits in sich barg. Aber zunächst hielt man noch zusammen.

Die geschichtliche Entwicklung:

Von den Anfängen bis zum Apostelkonzil

Als erste Phase ist die eschatologische Sammlung unter der Leitung des Petrus anzusprechen. Während dieser Zeit wird die griechischsprachige Fraktion des Christentums, die Hellenisten, gewaltsam aus Jerusalem gedrängt und Stephanus, einer der Sieben, in einem Tumult zu Tode gebracht (Apg 7,58). Die Akteure hierbei waren im Gegensatz zum Prozess gegen Jesus, in dem die Römer einschritten, Jerusalemer Juden, die Stephanus steinigten. Die andere Fraktion des Christentums verblieb unbehelligt in der jüdischen Metropole. »Die eschatologische Institutionalisierung war das Werk des Petrus … Er leitete die Versammlung für Gott und war insofern dessen theokratischer Repräsentant. Als solcher konnte er nur ein einziger sein.«39 Es ist kein Zufall, dass Paulus ihn alsbald (drei Jahre) nach seiner Bekehrung aufgesucht hat, um ihn kennenzulernen (Gal 1,18).

In der Folgezeit bildeten zwei andere Männer, Jakobus und Johannes (die Söhne des Zebedäus), zusammen mit Petrus ein Leitungsgremium und erhielten den Ehrennamen »die Säulen«. Sie waren zusammen mit Petrus zu Jesu Lebzeiten dessen engste Vertraute gewesen.40 Als der Zebedaide Jakobus Opfer einer Verfolgung wurde (Apg 12,1 f), trat sein Namensvetter Jakobus, der Bruder Jesu, an seine Stelle, dies wohl nicht in erster Linie aufgrund seiner Jüngerschaft, sondern vor allem wegen Familienzugehörigkeit.41 Paulus hatte jedenfalls 14 Jahre danach bei seinem zweiten Besuch in Jerusalem (Gal 2,1) mit einem Leitungsgremium zu tun, das sich aus diesem zweiten Jakobus, dem Petrus sowie dem anderen Zebedaiden Johannes zusammensetzte (Gal 2,9).

Inzwischen waren die aus Jerusalem vertriebenen Hellenisten nicht untätig geblieben. Sie verbreiteten den neuen Glauben im Umkreis von Jerusalem und bis hin nach Damaskus, Antiochien und Phönizien (Apg 11,19 – 22). Ihre geisterfüllte Predigt (Apg 6,10) schloss nun auch Heiden nicht mehr aus, ja beide, Juden- wie Heidenchristen bildeten bald eine Gemeinschaft.

In Antiochien empfing die merkwürdige neue Sekte aus Juden und Nichtjuden von Außenstehenden den fortan geltenden Namen: Ihre Mitglieder wurden »Christianer« genannt (Apg 11,26). Dies geht nicht etwa auf das Programm der betreffenden Gruppe zurück, sondern ist eine Fremdbezeichnung durch politische Behörden, die etwas auf einen Begriff bringen, oder durch konkurrierende Gruppen, die sich damit abgrenzen.42 Dieser Name wurde von den Christen recht bald übernommen, weil er deren Anliegen treffend wiedergab. Bereits zwei Generationen später kann Bischof Ignatius aus demselben Antiochien, in dem diese Fremdbezeichnung aufgekommen war, wie selbstverständlich vom »Christianismos« sprechen und triumphierend ausrufen: »Das Christentum ist nicht zum Glauben an das Judentum gekommen, sondern das Judentum (zum Glauben) an das Christentum«. (IgnMagn 10,3 u.ö.).

Die Jerusalemer Gemeinde dürfte die Entwicklung in Antiochien mit großer Skepsis und Sorge beobachtet haben. Wohnte sie selbst am Vorort des Heils, Jerusalem, und sah sie sich selbst als die Gemeinde an, die auf den Säulen Petrus, Jakobus und Johannes ruhte und von der es allenfalls einige Ableger außerhalb Jerusalems geben durfte, so wurde man in Antiochien eines neuen Kirchentyps gewahr. Dieser war nicht auf Petrus und den anderen Säulen, sondern auf Christus selbst gegründet und baute in der Praxis die Schranken zwischen Juden und Heiden ausdrücklich ab. Ein anschauliches Beispiel dafür ist die Schilderung, die Paulus in Gal 2,12 vom gemeinsamen Essen von Juden- und Heidenchristen gibt (dazu weiter unten S. 74 f).

Ein anderes Unterscheidungsmerkmal zwischen beiden Kirchentypen betrifft den Aposteltitel. Ist er nach Jerusalemer Verständnis als Erscheinungsapostolat an Jerusalem gebunden und chronologisch begrenzt, so kann die antiochenische Gemeinde ihn für ihre Abgesandten gebrauchen und kennt offenbar keinerlei zeitliche Einschränkungen (vgl. Apg 14,4.14; Did 11,4). Hier ist er ein pneumatisch-charismatischer Wanderapostolat.

Idealtypisch geurteilt, liegen in Jerusalem und Antiochien also zwei verschiedene Kirchentypen vor43, allerdings nur idealtypisch, denn in der historischen Wirklichkeit realisieren sich Idealtypen nur bis zu einem gewissen Grad, und Paulus, aus dessen Schrifttum die obige Charakteristik weitgehend gewonnen wurde, ist im Hinblick auf das Kirchenverständnis nicht frei von widersprüchlichen Zügen. Er trieb die Unabhängigkeit seines Kirchenverständnisses nicht auf die Spitze und konnte gelegentlich auch so verstanden werden, dass Jerusalem in der Tat der Mittelpunkt der Christenheit sei.44 Eine ähnliche Kombination von Vorstellungen findet sich in dem Verständnis seines Apostelamtes. Behauptet er einmal, es entspreche dem Jerusalemer Erscheinungsapostolat (1Kor 15,8), so ist Paulus doch faktisch Wanderapostel.45

Konflikte waren angesichts der auseinanderdriftenden christlichen Gruppen der Frühzeit vorprogrammiert. Für die in Jerusalem verbleibende aramäisch-sprachige Gemeinde war die Thora nach wie vor gültig. Wer sich – ob Jude oder Heide – im Namen Jesu taufen ließ, hatte noch längst nicht den Freibrief, sich vom Gesetz zu dispensieren. Jesus war nämlich gekommen, das Gesetz zu erfüllen – nicht zu zerstören (Mt 5,17).

Ein Versuch, diese Krise zu meistern, ist das sog. Apostelkonzil, von dem Paulus in Gal 2 und Lukas in Apg 15 berichten. Wir halten uns an den Bericht des Paulus, der ja selbst maßgeblich am Krisenmanagement beteiligt war.46

Hier steht die Forderung zur Debatte, ob Heidenchristen beschnitten werden sollten, um Mitglieder der christlichen Gemeinde werden zu können (Gal 2,3). Sie richtet sich gegen die Praxis, Heiden ohne Beschneidung in die Gemeinde aufzunehmen, und wurde nicht erst zur Zeit des Konzils erhoben, sondern bereits vorher, und zwar in der Gemeinde Antiochiens, in die sich die von Paulus so titulierten »falschen Brüder« eingeschlichen hatten, um die Freiheit der dortigen Christen »auszukundschaften«.47

 

Darauf zieht Paulus mit Barnabas nach Jerusalem und nimmt in einem provokativen Akt auch den Heidenchristen Titus mit, um auf diese Weise grundsätzlich die Zustimmung der Jerusalemer Gemeinde zu seiner eigenen gesetzesfreien Praxis zu erlangen.

Aus dem paulinischen Bericht im Gal lassen sich zwei Verhandlungsgänge voneinander unterscheiden: Einer findet im Rahmen einer Gemeindeversammlung (Gal 2,2a), der andere mit den »Säulen« im kleinen Kreise statt (Gal 2,2b.6 ff). Das zeitliche Verhältnis der Unterredungen ist unklar.

Nach zähen Unterredungen und erregten Auseinandersetzungen, die spätestens in den Streitereien zum Zeitpunkt des Gal wieder aufgeflammt sind, kann Paulus den »Säulen« die Zustimmung abringen, dass die Heidenchristen nicht beschnitten werden müssen. Der Begleiter des Paulus, der Grieche Titus, wird jedenfalls nicht zur Beschneidung gezwungen (Gal 2,3; vgl. 2,14; 6,12).48 Gleichwohl war die Zustimmung hart umkämpft, ja, man wird sogar annehmen müssen: Die »falschen Brüder« hatten bei ihrer Forderung der Beschneidung des Titus wenigstens anfangs einen erheblichen Rückhalt in der Jerusalemer Gemeinde und weiterhin wohl auch die »Säulen« zumindest teilweise auf ihrer Seite.

Trotzdem – Paulus hatte die grundsätzliche Zustimmung der Jerusalemer Gemeinde zu seiner beschneidungsfreien49 Heidenmission erhalten. Der Grund für die mit einem feierlichen Handschlag besiegelte Einigung war offensichtlich ihr Erfolg, vor dem die Jerusalemer die Augen nicht verschließen konnten, und weiterhin die Bereitschaft der heidenchristlichen Gemeinden bzw. ihrer Vertreter, Paulus und Barnabas, die Einigung mit einer Geldgabe zu besiegeln.

Die Jerusalemer nahmen wohl eine zwiespältige Haltung gegenüber Paulus ein: Einerseits war sein Tun natürlich unzureichend, da die von ihm Bekehrten die Thora nicht hielten, und sogar gefährlich, da ihr Beispiel Juden andauernd zur Übertretung des Gesetzes anreizte. Andererseits war es besser als gar nichts, da Christus gepredigt und Zentren gegründet wurden, in denen die Arbeit durch Abgesandte aus Jerusalem fortgesetzt werden konnte. Die Richtigkeit solcher Betrachtungen vorausgesetzt, war die großzügige Geste des Paulus vielleicht der Punkt, der sie – zumindest für den Augenblick – für die seltsame Nachgeburt aus Tarsus einnahm, dies um so mehr, wenn sie aus der Spende gewisse Rechtsforderungen ableiten konnten. Zwar ist Paulus in seinem Bericht über die Konferenz in dieser Hinsicht zurückhaltend. Er versichert: »Mir haben die in Ansehen Stehenden nichts zusätzlich auferlegt«. (Gal 2,6). Dann aber folgt doch noch eine Zusatzklausel: »Nur sollten wir der Armen fürsorgend50 gedenken, was zu tun ich mich bemüht habe«. (Gal 2,10). »Deshalb ist die wichtigste Bestimmung des Konvents die unscheinbarste: die Sammlung für die jerusalemische Gemeinde; und die ferneren Bemühungen des Paulus für diese Kollekte gehören zum Wichtigsten seiner Tätigkeit.«51

Um das Verständnis der Kollekte ist in der Forschung lange gerätselt worden. Eine Richtung versteht sie in Analogie zur Tempelsteuer52, eine andere verweist darauf, dass mit ihr die Verheißung der Völkerwallfahrt in Erfüllung gehe.53 Schließlich wurde behauptet, die Kollekte sei in Jerusalem auferlegt und in den paulinischen Gemeinden gesammelt worden, damit diese »den traditionellen Status der Gruppe der ›Gottesfürchtigen‹ einnehmen können.«54 Da Primärquellen für die Sicht der Jerusalemer Gemeinde nicht vorhanden sind, bleiben das alles nur Vermutungen.

Eines scheint freilich sicher zu sein: Die Jerusalemer Verhandlungspartner und Paulus haben die Kollekte verschieden aufgefasst55, oder, vorsichtiger gesagt, die Vereinbarung erlaubte ihnen, die Kollekte unterschiedlich zu interpretieren. Dabei hat die Jerusalemer Gemeinde mit großer Wahrscheinlichkeit Rechtsforderungen aus der »Vereinbarung« abgeleitet56, Paulus aber den rechtlichen Charakter der ständigen Unterstützung z. T. verschleiert. Man vgl. Röm 15,25f: »Jetzt aber fahre ich hin nach Jerusalem, um den Heiligen zu dienen. Denn die in Makedonien und Achaia haben freiwillig eine gemeinsame Gabe zusammengelegt für die Armen unter den Heiligen in Jerusalem.« Doch an anderen Stellen kommt zum Ausdruck, dass »Arme«57 ebenso wie »Auserwählte«. (Röm 8,33; Kol 3,12) und »Heilige« Ehrennamen der Jerusalemer Gemeinde waren.58. Es bleibt auffällig, wie viele verschiedene Ausdrücke Paulus für die Kollekte benutzt: logeia, charis, koinonia, eulogia. Dies zeigt die Dehnbarkeit der gemeinten Sache an.

Jedenfalls blieben zwischen Paulus und den Leitern der Jerusalemer Gemeinde, denen er eine Einigung abringen konnte, auch während der Konferenz erhebliche Spannungen bestehen. Gleichzeitig gehörten die »falschen Brüder« trotz des Konkordats mit dem Heidenapostel natürlich weiterhin der Gemeinde in Jerusalem an und werden die Vereinbarung nach Kräften bekämpft haben. Ihre offene Feindschaft gegen Paulus ist jedenfalls als maßgeblicher Faktor auf dem Konzil und in der Folgezeit vorauszusetzen, in der die Jerusalemer Kirche unter der Führung des Jakobus aktiv in die paulinischen Gemeinden eingriff.

Falls diese Überlegungen von der historischen Wahrheit nicht allzu weit entfernt sind, sollte man auch annehmen dürfen, dass die »falschen Brüder« trotz der Niederlage in der Beschneidungsfrage von indirektem Einfluss auf die Einzelheiten des Verhandlungsergebnisses gewesen sind. Diese Annahme wird bestätigt durch eine genaue Betrachtung der einen rechtlichen Charakter aufweisenden Einigungsformel Gal 2,9: »Wir zu den Heiden, sie … zu den Juden.«

Das Missionsfeld wird aufgeteilt. Die Heidenmission ist fortan Aufgabe des Paulus und des Barnabas, die Judenmission die der Jerusalemer Jakobus, Kephas, Johannes. Die Wendungen »zu den Heiden« bzw. »zu den Juden« lassen vom Wortlaut her nur ein exklusives Verständnis der in ihnen ins Auge gefassten Bezugsgruppen zu. Daraus ist dann zu entnehmen, dass jeweils nur Heiden bzw. ausschließlich Juden Zielgruppen der Mission sind. Das hat dann aber auch zur Konsequenz: Der Einigungsvertrag der Apostel war zugleich ein Scheidungsvertrag der beiderseitigen Kirchen, der gesetzestreuen und der gesetzesfreien.

Die obige Einigungsformel sicherte zwar Paulus das uneingeschränkte Recht der Heidenmission zu. Aber gleichzeitig konnte sie auch dazu benutzt werden, um eine Mission an Heiden und Juden rückgängig zu machen. Die Regelung schloss daher nicht aus, dass in Zukunft Juden, die gesetzeslos in einer heidenchristlichen Gemeinde lebten, auf das Halten des jüdischen Gesetzes verpflichtet werden konnten. Wir beobachten hier den Vorgang, dass ein zu starker Wille zur Einigung, die fast um jeden Preis geschieht und daher eigentlich nichts taugt, die entgegengesetzten Kräfte, die den Konflikt erst ausgelöst haben, wieder neu belebt.

Dafür liefert ein weiterer Vorgang, von dem wir einen Augenzeugenbericht besitzen, reichhaltiges Anschauungsmaterial.59

In der neugegründeten Gemeinde Antiochiens hielten geborene Juden(christen) mit Heiden(christen) regelmäßig Tischgemeinschaft. Daran hatte Paulus, als er in Antiochien anwesend war, teilgenommen, und ebenso Petrus. Als »einige von Jakobus«, d. h. von ihm abgesandte Boten, in Antiochien ankamen, änderte sich das schlagartig. Petrus, Barnabas und die anderen anwesenden Juden(christen) ziehen sich aus Furcht vor den »Beschneidungsleuten« zurück und erregen damit den Zorn des Paulus, nach dessen Meinung Petrus damit die alleingelassenen Heiden(christen) zwinge, sich beschneiden zu lassen, um die Tischgemeinschaft zwischen Juden(christen) und Heiden(christen) wiederherzustellen. Ja, Paulus spitzt die Situation noch dadurch zu, dass er sagt, Petrus habe vorher heidnisch gelebt (Gal 2,14).

Wie »heidnisch« hatten die dort anwesenden Gemeindeglieder wirklich gelebt? War etwa Schweine-, Esel- oder Hasenbraten auf den Tisch gekommen?60 Trank man gar heidnischen Wein, der den Göttern geweiht worden war? Ging es um Speisen, für die man nicht den Zehnten abgeliefert hatte?61 Oder hatte man Fleisch gegessen, das ursprünglich den Göttern geopfert worden war? Diese Fragen stellen heißt einerseits, vor Augen zu führen, wie wenig wir über den Zwischenfall in Antiochien eigentlich wissen. Andererseits ist aus 1Kor 8 – 10 bekannt, wie Paulus sich zum Götzenopferfleisch verhielt. Im allgemeinen hatte er keine Bedenken, es zu essen (1Kor 10,25 – 27). Falls aber jemand auf die Herkunft des Fleisches hinweisen würde, gab er den Rat, auf dessen Verzehr zu verzichten – dies um der Gemeindeglieder willen, die schwach im Glauben waren (1Kor 10,28 f). Hatte also Paulus für seine eigene Person eine große Freiheit gegenüber Götzenopferfleisch, so traf das für Barnabas und die übrigen Judenchristen nicht zu, andernfalls hätten sie sich nicht so schnell in Antiochien zurückgezogen.

Deswegen ist es unwahrscheinlich, dass die oben genannten extremen Möglichkeiten zutrafen. Vielmehr wird ein Mindestmaß an Thora eingehalten worden sein; nur Jakobus selbst drang auf eine strikte Einhaltung und hatte dafür gute Gründe, weil nämlich die Judenchristen in Jerusalem nicht noch mehr kompromittiert werden sollten. M. a. W., auch hier findet er eine Trennung besser – ebenso wie beim Jerusalemer Konzil.62

Paulus sah im Verhalten des Petrus ein falsches Verständnis der Gerechtigkeit vor Gott, in der er mit ihm doch einig gewesen war (Gal 2,15 - 16), übertreibt dann aber, wie erwähnt, mit seiner Bemerkung, Petrus habe vorher heidnisch gelebt (Gal 2,14). Indes stellte sich sofort die allgemeine Frage, wieviel Wert das Gesetz für die junge Kirche überhaupt noch haben sollte. Immerhin war der vorher und später erhobene Vorwurf gegen Paulus nicht von der Hand zu weisen, dass er mit solcher Schwarz-weiß-Malerei, die in einem Entweder-Oder gipfelte, dem jüdischen Gesetz den entscheidenden Stoß versetzt hatte, auch wenn er das Gegenteil behauptete.

Die geschichtliche Entwicklung (Fortsetzung):

Vom Apostelkonzil bis zur Ablehnung der paulinischen Kollekte und der Hinrichtung des Jakobus

In der Zeit zwischen dem Konzilsbesuch und der letzten Jerusalemreise des Paulus nahm die dortige Gemeinde unter der Führung des Jakobus zunehmend eine paulusfeindliche Haltung ein, ja, sie stilisierte Paulus förmlich zum Ketzer. Das findet eine Reaktion in der zunehmenden Bitterkeit des Paulus gegenüber Jerusalemer Sendlingen. Er hatte die Judaisten in Galatien konditional verflucht (Gal 1,6 ff) und sich ähnlich zu den Eindringlingen Jerusalemer Provenienz in Philippi geäußert (Phil 3,2 ff). (Im nächsten Kapitel werden wir die Geschichte dieser Paulusfeindschaft weiter verfolgen.) Der Bericht der Apostelgeschichte (Kap. 21) bestätigt die Paulusgegnerschaft der Jerusalemer Gemeinde weiter.

Paulus bemühte sich zwischen dem zweiten und dritten Jerusalembesuch, der Zusatzformel des Jerusalemer Konkordats zu genügen und in seinen Gemeinden eine Kollekte zugunsten der Armen in Jerusalem einzusammeln. Den ursprünglich gefassten Plan, Abgesandte mit dieser Kollekte nach Jerusalem zu schicken (vgl. 1Kor 16,3: »Wenn ich also [sc. zu euch nach Korinth] gekommen bin, will ich die, die ihr für bewährt haltet, mit Briefen senden, damit sie eure Gabe nach Jerusalem bringen«), ließ er fallen und plante, die Kollekte selbst nach Jerusalem zu bringen (Röm 15,25: »Jetzt aber fahre ich hin nach Jerusalem, um den Heiligen zu dienen«), – das hatte er freilich bereits vorher als Möglichkeit erwogen (1Kor 16,4: »Wenn es aber die Mühe lohnt, dass ich auch [nach Jerusalem] hinreise, sollen sie [sc. die Abgesandten der Gemeinde] mit mir reisen«). Diese Änderung in der (seit 2Kor 9,4 absehbaren) Strategie lässt sich wohl nur so erklären, dass Paulus der judenchristlichen Gegnerschaft vor Ort entgegentreten wollte.

Die Kollekte kristallisierte sich förmlich zu einem Symbol der Einheit der Kirche aus Heiden- und Judenchristen, an dessen Ausgang sich ihre Zukunft entscheiden würde. An der Gemeinschaft von Heidenchristen und Judenchristen war Paulus alles gelegen. Gerade deswegen musste er entsprechend dem vor wenigen Jahren geschlossenen Vertrag die vereinbarte Kollektengabe nach Jerusalem bringen und gleichzeitig den in seinen Gemeinden durch Jerusalemer Sendlinge verursachten Streit schlichten. Das sind keine »unhaltbaren Behauptungen«, wie der bedeutende dänische Neutestamentler Johannes Munck meinte63, sondern Aussagen, die an der komplexen und widersprüchlichen Situation paulinischer Gemeinden im 1. Jh. orientiert sind.

 

Zwar fehlt ein eigenes Zeugnis des Paulus über den letzten Jerusalemaufenthalt, doch enthält die Berichterstattung der Apg in Kap. 21 wertvolles, altes Textmaterial, auch wenn der Wir-Bericht nur eine Augenzeugenschaft fingieren soll.64

Paulus reist mit einigen Begleitern von Milet über Cäsarea nach Jerusalem. Er erhält in Cäsarea gastliche Aufnahme beim Hellenisten Philippus und in Jerusalem beim Hellenisten Mnason (Apg 21,16). In der Jerusalemer Gemeinde, die gesetzestreu lebt und der Jakobus vorsteht, ist seine Person höchst umstritten, denn Gerüchte kursieren: Paulus sei antinomistisch und wende sich gegen die Beschneidung von jüdischen Knaben. Jakobus sagt daher zu Paulus: (Viele Tausende von Gläubiggewordenen unter den Juden) »haben über dich erfahren, du lehrtest alle Juden, die unter den Heiden sind, den Abfall von Moses, indem du sagtest, sie sollten ihre Kinder nicht beschneiden und nicht nach (jüdischen) Bräuchen leben«. (Apg 21,21). Paulus tritt dem durch die Übernahme der Auslösung von vier Nasiräern entgegen (Apg 21,26). Ein solcher Akt, der im Judentum als frommes Werk galt, bestand aus einer Geldspende an den Tempel, womit das Ende des Gelübdes der Nasiräer bezeichnet wird. Er selbst geht daher in den Tempel, um sich als einer, der unter Heiden gewesen ist, entsühnen zu lassen.

Man hat gefragt, ob der auf der Grundlage der Tradition der Apg gewonnene Erzählablauf überhaupt Anspruch auf historische Wahrscheinlichkeit haben kann. Das ist nachdrücklich zu bejahen, da andere Quellen die Bestandteile der herausgeschälten Tradition bestätigen:

a) Durch andere Quellen65 wird die Führungsstellung des Jakobus und der nomistische Charakter der Gemeinde in den fünfziger Jahren des 1. Jh.s bekräftigt.

b) Die Beteiligung des Apostels an einem Kultakt ist wegen des Freiheitsverständnisses des Paulus gut denkbar. So schreibt er verallgemeinernd 1Kor 9,19 – 21:

(19) »Denn obwohl ich allen gegenüber frei bin, habe ich mich allen zum Sklaven gemacht, damit ich immer mehr gewänne. (20) Und ich bin den Juden wie ein Jude geworden, damit ich Juden gewänne; denen, die unter dem Gesetz stehen, als ob ich unter dem Gesetz stände …; (21) denen, die ohne Gesetz sind, als ob ich ohne Gesetz wäre …«

c) Dass der Apostel bei einem Hellenisten Unterkunft fand, ist wegen der früheren engen Beziehung des Paulus zu den Hellenistenkreisen wahrscheinlich. Er ist ja von diesen Gruppen, die er einst verfolgte, im Christentum unterwiesen worden.

d) Schließlich dürfte, wie bereits erwähnt, der Apg 21,21 ausgesprochene Vorwurf gegen den Apostel historisch sein und zutreffend die Vorbehalte Jerusalemer Christen gegen Paulus wiedergeben. Er lautet: Paulus »lehrt alle Juden, die unter den Heiden wohnen, den Abfall von Mose« und sage, »sie sollen ihre Kinder nicht beschneiden und auch nicht nach den (jüdischen) Bräuchen leben«.

Ein solcher Vorwurf kommt im Verhältnis zu dem, was in der Apg von Paulus berichtet wird, überraschend. Lukas hatte Paulus als praktizierenden Juden beschrieben, der z. B. Timotheus beschnitt (Apg 16,2 f) und sich später als gesetzestreuen Pharisäer hinstellte (Apg 23,1 – 9). Deswegen geht der genannte Vorwurf sicherlich auf eine vorlukanische Überlieferung zurück.

Historisch hatte er einen Anhalt in dem, was in paulinischen Gemeinden wirklich vor sich ging. Zwar predigte Paulus in Übereinstimmung mit den Absprachen auf dem Konzil und entsprechend seiner Berufung vornehmlich den Heiden das Evangelium. Auch findet sich in keinem seiner erhaltenen Briefe eine Aussage, wie sie ihm Apg 21,21 unterstellt wird. Doch erwartete der Apostel von geborenen Juden im Umgang mit Heidenchristen zumindest teilweise die Nichtbeachtung von Speisegesetzen (vgl. Gal 2,11 ff) und schärfte in seinen Briefen mehrfach die Gleichgültigkeit des Gesetzes gegenüber der neuen Schöpfung in Christus ein. Ein Lehrsatz, der schnell zu einer Kampfesformel werden konnte, lautete z. B.:

»Beschnittensein ist nichts, und Unbeschnittensein ist nichts,

sondern Gottes Gebote halten (sc. darauf kommt es an)«. (1Kor 7,19).

Ein anderer Spruch hatte folgenden Inhalt:

»(In) Christus gilt weder Beschneidung etwas

noch Unbeschnittenheit etwas,

sondern eine neue Kreatur«. (Gal 6,15).66

Konnte es da ausbleiben, dass geborene Juden infolge einer solchen Praxis sich vom Gesetz entfremdeten und ihre Kinder nicht mehr beschnitten?

Apg 21,21 gibt daher eine historisch zuverlässige Information über die Folgen der Predigt des Paulus sowie seiner Praxis unter Juden und über die starken Vorbehalte, um nicht zu sagen: die Feindschaft der Jerusalemer Gemeinde ihm gegenüber wieder. Zwar litt Paulus in Jerusalem für eine Sache, die nicht die seine war, nämlich die totale Loslösung des Christentums vom Judentum. Aber die Judenchristen hatten frei nach Adolf von Harnack recht: Letztlich zerstörte Paulus’ Werk die jüdischen Sitten und bereitete dem Gesetz des Moses ein Ende.

Wenn nun feststeht, dass die letzte Jerusalemreise des Apostels den alleinigen Zweck hatte, die Kollekte abzuliefern, warum steht darüber nichts in Apg 21? Dieser Befund ist um so erstaunlicher, als Apg 21 im wesentlichen historische Elemente enthält. Gerade deswegen erscheint es ausgeschlossen, dass die in Apg 21 benutzte Quelle keinen Hinweis auf die Sammlung enthielt, was die Frage provoziert: Warum tilgt Lukas jeglichen Hinweis auf die Kollekte in jenem Kapitel?

Die Dringlichkeit der Beantwortung der Frage wird erhöht, wenn sich in Apg 24,17 (Paulus in Jerusalem: »Nach vielen Jahren bin ich hergekommen, um für mein Volk Liebesgaben zu bringen und zu opfern«) eine versprengte Notiz über den Sinn der letzten Jerusalemreise des Paulus verbirgt.67 Die einzige mögliche Antwort auf die gestellte Frage kann daher nur lauten: Lukas meidet Apg 21 absichtlich das Kollektenthema, weil die von ihm benutzte Quelle von einem Scheitern ihrer Übergabe bzw. von ihrer Ablehnung berichtete. Hätte nämlich die Quelle ihre Annahme erzählt, würde Lukas diese Nachricht aufgenommen haben (an dieser Stelle!), kommt es ihm doch gerade darauf an, das gute Verhältnis zwischen Paulus und der Jerusalemer Gemeinde aufzuzeigen. Statt dessen vorverlegt er das in Kap. 21 vermiedene Kollektenthema und bringt es Apg 11,27 ff, wo er unter Verarbeitung von Einzeltraditionen eine »Modellreise« konstruiert68 und Barnabas und Paulus eine Kollekte nach Jerusalem bringen lässt. (Freilich wird selbst dort nicht explizit von einer Annahme der Sammlung berichtet!)

Nun kann man natürlich historisch versuchen, die Auslösung von vier Nasiräern mit der Kollekte in Verbindung zu bringen, und überlegen, ob nicht Paulus einen Teil des Kollektengeldes dafür verwendet haben mag.69 Aber auch in diesem Fall bleibt das Fehlen einer Erwähnung der Kollekte erklärungsbedürftig, und die These, die Kollekte sei »anscheinend gleichsam nur im Nebenzimmer und sozusagen nur flüsternd übergeben und empfangen« worden70, ist eine Verlegenheitsauskunft. Sie geht nämlich von der nicht mehr hinterfragten Voraussetzung aus, die Jerusalemer Gemeinde habe auf jeden Fall einen Bruch mit Paulus vermeiden wollen. Das aber ist doch die Frage, um so mehr, als Paulus wenige Jahre zuvor in Jerusalem nur mühsam das Blatt zu seinen Gunsten hatte wenden können.

Dieser Rückschluss auf eine Ablehnung der Kollekte71 wurde in der Forschung oftmals so nicht gezogen. Jürgen Becker schreibt: Es »muß … unter den Judenchristen in Jerusalem Leute gegeben haben, die für eine Verweigerung der Kollekte eintraten.« Er fährt sogleich einschränkend fort: »Zu diesen wird mit ganz hoher Wahrscheinlichkeit nicht Jakobus gezählt haben.«72 Die Hauptbegründung dafür leuchtet jedoch nicht ein, denn in einer Konfliktsituation war es auf jeden Fall denkbar, »daß Jakobus seine Anerkennung des Heidenchristentums auf dem Apostelkonvent … durch die offizielle Verweigerung der heidenchristlichen Kollekte praktisch in Gestalt eines öffentlichen Eklats rückgängig machen konnte.«73

Aber wieso soll den Jerusalemer Judenchristen eine Kollekte nicht mehr willkommen gewesen sein, die sie einige Jahre zuvor noch akzeptiert hatten? Mehrere Gründe legen sich als Antworten nahe.

Zum einen war die Spannung zwischen Paulus und den Jerusalemern gestiegen. Der Apostel hatte Worte gegen das Gesetz geschrieben, die den Jerusalemern zu Ohren gekommen waren. Aus ihrer Mitte waren Spione in die paulinischen Gemeinden entsandt worden. Sie hatten dort Gräueltaten gegen das Gesetz beobachtet, die geborene Juden betrafen: Judenchristen beschnitten ihre Kinder nicht mehr und aßen zusammen mit Heidenchristen.