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Drittes Kapitel

Sylvinet wollte von diesen Vorstellungen nichts wissen. Wenn er auch mit größerer Zärtlichkeit als Landry an seinem Vater, seiner Mutter und an seiner kleinen Nanette hing, so schrak er doch davor zurück seinen lieben Zwilling den schwersten Teil ihres Geschicks auf sich nehmen zu lassen.

Nachdem sie genug herumgestritten hatten, beschlossen sie, das Los, durch Strohhalm ziehen, entscheiden zu lassen, und Landry war es, der den kürzesten Halm zog. Sylvinet war mit dieser Probe nicht zufrieden; er wollte es noch einmal mit dem Werfen eines dicken Sousstückes versuchen. Dreimal fiel für ihn die Hauptseite des Gepräges nach oben. Es war also immer für Landry, den das Los zu gehen traf.

»Du siehst nun wohl, Wie das Schicksal es beschlossen hat,« sagte Landry, »und du weißt, daß man dem Willen des Schicksals nicht zuwiderhandeln darf.«

Sylvinet weinte am dritten Tage noch sehr, Landry aber vergoß kaum noch eine Thräne. Der erste Gedanke an das Verlassen des väterlichen Hauses, hatte ihm vielleicht noch größeren Schmerz verursacht, als seinem Bruder. Er war sich seines Mutes bewußt, und hatte sich nicht einen Augenblick über die Unmöglichkeit getäuscht, dem Willen seiner Eltern zu widerstehen. Aber grade, weil er viel über seinen Schmerz nachdachte, hatte er diesem den Stachel genommen; auch hatte er viele Gründe aufgefunden, die ihm sein Schicksal als eine unabwendbare Notwendigkeit erscheinen ließen. Sylvinet dagegen, der immer nur trostlos war, hatte nicht den Mut gehabt über die Angelegenheit nachzudenken. So war es also gekommen, daß Landry ganz entschlossen war zu gehen, während Sylvinet sich noch nicht einmal in die Notwendigkeit der Trennung gefunden hatte.

Auch hatte Landry überhaupt etwas mehr Selbstgefühl als sein Bruder. Es war ihnen so oft vorgesagt worden, daß sie nie ein ganzer Mann sein würden, wenn sie sich nicht darein finden könnten, voneinander getrennt zu sein. Landry nun, der den Stolz seiner vierzehn Jahre in sich keimen fühlte, wandelte die Lust an zu zeigen, daß er kein Kind mehr sei. Seitdem sie zum erstenmale ausgezogen waren, auf dem Wipfel eines Baumes ein Vogelnest zu suchen, bis auf den gegenwärtigen Tag, war er es stets gewesen, der bei jeder Unternehmung seinen Bruder überredete und mit sich fort zog. So gelang es ihm denn auch diesesmal ihn zu beruhigen, und als sie am Abend in das Haus der Eltern zurückkehrten, erklärte er seinem Vater: daß er und sein Bruder bereit seien, sich in das Unvermeidliche zu fügen, daß sie das Los gezogen hätten, und daß er hinaus gehen werde, die großen Ochsen von la Priche zu führen.

Vater Barbeau nahm seine Zwillinge und setzte jeden, obgleich sie schon groß und stark waren, auf eins seiner Kniee und sprach zu ihnen:

»Meine Kinder, ihr steht jetzt im Alter der Vernunft, das erkenne ich an eurer Unterwerfung, und ich bin mit euch zufrieden. Merkt es euch: Wenn die Kinder ihren Eltern Freude machen, sind sie Gott im Himmel wohlgefällig, der sie früher oder später dafür belohnen wird. Ich weiß nicht, wer von euch beiden der erste war, der sich zu unterwerfen bereit war. Aber Gott weiß es und wird ihn dafür segnen, daß er zum Guten gesprochen hat, wie er den anderen dafür segnen wird, daß er sich darnach gerichtet hat.«

Darauf führte der Vater seine Zwillinge zur Mutter, damit auch sie ihnen ihr Lob spende. Aber Mutter Barbeau wurde es so schwer ihre Thränen zu unterdrücken, daß sie keines Wortes fähig war, und sich damit begnügen mußte, ihre Lieblinge zu umarmen und zu küssen.

Vater Barbeau, der einen guten Verstand hatte, wußte recht gut, welcher von den beiden der mutigste war, und welcher am meisten Anhänglichkeit besaß. Er wollte den guten Willen Sylvinets nicht wieder erkalten lassen, denn er sah wohl, daß Landry für sich selbst ganz entschlossen war, und daß nur eins: der Kummer seines Bruders, ihn wieder zum Wanken bringen konnte. Er ging deshalb vor Tagesanbruch an das Bett der Zwillinge und weckte Landry auf, nahm sich dabei aber wohl in acht den älteren Bruder, der an dessen Seite schlief, ja nicht anzurühren.

»Auf, mein Junge,« flüsterte er Landry leise zu, »wir müssen uns aufmachen nach la Priche, ehe deine Mutter es sieht, du weißt, sie ist voller Kümmernis, und man muß ihr den Abschied ersparen. Ich selbst will dich zu deinem neuen Herrn führen und dir deine Sachen tragen.«

»Soll ich denn ohne Abschied von meinem Bruder gehen?« fragte Landry. »Er wird mir böse werden, wenn ich ihn so ohne weiteres verlasse.«

»Wenn dein Bruder aufwacht und dich fortgehen steht, dann fängt er an zu weinen und weckt auch deine Mutter auf, und die Mutter wird noch heftiger weinen, wenn sie euch so betrübt sieht. Komm, Landry, du bist ein mutiger Bursche, du kannst es nicht wollen, daß deine Mutter krank wird. Erfülle deine Pflicht ganz, mein Kind, und gehe still hinaus. Schon heute Abend werde ich deinen Bruder zu dir führen, und da morgen Sonntag ist, kommst du den ganzen Tag zu deiner Mutter auf Besuch.«

Landry gehorchte mit mutiger Fassung und schritt zum Hause hinaus, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Mutter Barbeau hatte nicht so ruhig geschlafen, um nicht alles gehört zu haben, was ihr Mann zu Landry gesagt hatte. Die arme Frau fühlte, daß ihr Mann recht habe; sie rührte sich nicht von der Stelle und begnügte sich damit die Gardine des Bettes ein wenig zu lüften, um Landry fortgehen zu sehen. Das Herz wurde ihr dabei so schwer, daß es sie nicht länger im Bette hielt: sie sprang heraus, um ihn noch einmal zu umarmen; aber, als sie bis zu dem Lager der Zwillinge gekommen war, wo Sylvinet noch im festen Schlafe lag, blieb sie stehen. Der arme Knabe hatte seit drei Tagen, und so zu sagen, seit drei Nächten so viel geweint, daß er völlig erschöpft davon war. Er hatte sogar etwas Fieber, denn er warf sich auf seinen Kissen hin und her, stieß schwere Seufzer aus und stöhnte laut, ohne sich aus dem Schlafe losreißen zu können.

Als die Mutter Barbeau den einzigen Zwilling, der ihr noch verblieb, betrachtete, konnte sie nicht umhin sich zu gestehen, daß dieser es sei, dessen Scheiden ihr noch größeren Schmerz verursachen würde. Er war wirklich der gefühlvollere von den beiden; mochte es nun sein, daß er von zarterer Konstitution war, oder, daß es in dem von Gott gegebenen Naturgesetze so angeordnet war, daß, wo zwei Personen durch Liebe oder Freundschaft miteinander verbunden sind, die eine immer von größerer Hingabe ergriffen sein wird, als die andere. Vater Barbeau hatte und einer Feder Gewicht mehr Zuneigung für Landry, denn ihm galten Arbeitskraft und Mut mehr als Liebkosungen und zarte Aufmerksamkeiten. Die Mutter empfand eine kaum zu bemerkende größere Vorliebe für den zierlicheren und schmiegsameren ihrer Zwillinge, also für Sylvinet.

Da stand sie nun und betrachtete ihren armen Knaben, der ganz bleich und abgemattet dalag, und sie sagte sich, daß es himmelschreiend gewesen wäre, ihn schon so früh in einen Dienst zu geben. Landry habe eher das Zeug dazu, Mühe und Arbeit auszuhalten, und überdies würden die Liebe und Sehnsucht nach seinem Bruder und seiner Mutter ihm nicht so zusetzen, daß er krank davon werden könnte. Landry ist ein Bursche, der einen großen Begriff von seiner Pflicht hat, fuhr sie in ihren Betrachtungen fort; aber darin liegt es eben, wenn er nicht ein etwas trockenes Gemüt hätte, würde er nicht so entschlossen fortgegangen sein, ohne nur ein einziges Mal den Kopf zu wenden, oder auch nur eine einzige Thräne zu vergießen. Er würde nicht die Kraft gehabt haben, zwei Schritte weit zu gehen, ohne den lieben Gott anzuflehen, ihm Kraft und Mut zu verleihen. Er würde sich an mein Bett geschlichen haben, wo ich lag und so that, als ob ich schliefe, wenn auch nur, um mich noch einmal anzusehen, und den Zipfel meines Bettvorhanges zu küssen. Mein Landry ist freilich ein richtiger Bursche, der nur verlangt zu leben, sich tüchtig herumzutummeln, zu arbeiten, und der sich nach Ortsveränderung sehnt. Aber dieser hier hat ein Herz, so weich, wie das eines Mädchens; der ist so zärtlich und so sanft, daß man gar nicht anders kann, als ihn lieb haben, wie seinen eigenen Augapfel.

So dachte die Mutter Barbeau und kehrte ins Bett zurück, aber ohne wieder einschlafen zu können. Vater Barbeau und Landry schritten indessen querfeldeinwärts über Wiesen und Triften rüstig dahin in der Richtung nach la Priche. Als sie auf einer kleinen Anhöhe angelangt waren, von der aus man die Häuser von la Cosse, sobald man auf der anderen Seite hinabsteigt, nicht mehr sieht, blieb Landry stehen und blickte zurück. Das Herz wurde ihm schwer, und er setzte sich auf das Farnkraut nieder, unfähig einen Schritt weiter zu gehen. Sein Vater that, als ob er nichts bemerke, und setzte die Wanderung fort. Nach einer kleinen Weile rief er den Sohn sanft beim Namen und sprach zu ihm.

»Sieh, wie es schon dämmert, Landry; wir müssen uns beeilen, wenn wir noch vor Sonnenaufgang da sein wollen.«

Landry richtete sich wieder auf, und da er es sich zugeschworen hatte, vor seinem Vater nicht zu weinen, bezwang er die Thränen, die ihm in dicken Tropfen die Augen füllen wollten. Er that, als habe er sein Taschenmesser fallen lassen, und so kam er glücklich nach la Priche, ohne von seinem Schmerz, der gewiß kein geringer war, etwas blicken zu lassen.

Viertes Kapitel

Als der Vater Caillaud sah, daß man ihm den stärksten und thätigsten der Zwillinge zuführte, war er hoch erfreut darüber und empfing ihn mit großer Freundlichkeit. Er wußte recht gut, daß es viel gekostet haben würde, bis man zu einem Entschluß gekommen war, und da er ein wackerer Mann und ein guter Nachbar war, der mit Vater Barbeau auf freundschaftlichem Fuße stand, bot er alles aus, den jungen Burschen durch ermunterndes Entgegenkommen zu ermutigen. Er ließ ihm rasch die Suppe vorsetzen und einen Krug Wein dazu, um ihm den Sinn wieder aufzufrischen, denn es war leicht zu erkennen, daß der Kummer ihn drückte. Dann nahm er ihn mit hinaus, um die Ochsen anzuspannen und zeigte ihm, auf welche Art er dies zu thun pflege. Aber, wahrlich, Landry war kein Neuling in diesen Dingen; sein Vater besaß ja selbst ein stattliches Ochsenpaar, das er schon oft angeschirrt und zum Staunen aller, ausgezeichnet geführt hatte. Sobald er die großen Ochsen des Vater Caillaud erblickte, welche von der größten und schönsten Race, und die am besten gepflegten und am besten genährten in der ganzen Gegend waren, fühlte er, wie es seinem Stolze schmeicheln würde, ein so schönes Gespann mit seinem Stachel leiten zu dürfen. Und dann machte es ihm auch Freude zu zeigen, daß er weder ungeschickt noch feige sei, und daß man ihm nichts zu zeigen brauche, was er nicht schon verstehe. Sein Vater unterließ nicht, ihn zu loben und seine guten Eigenschaften herauszustreichen; und als es nun Zeit geworden war auf die Felder hinauszugehen, kamen alle Kinder Vater Caillauds, Knaben und Mädchen, groß und klein, freundlich herbei, den Zwilling zu begrüßen. Das jüngste von den Mädchen befestigte mit Bändern einen Blumenzweig an seinem Hut, weil dies der erste Tag seines Dienstes war, den die Familie, bei der er einstand, wie einen Festtag feiern wollte. Sein Vater gab ihm noch, bevor er sich zur Heimkehr anschickte, in Gegenwart seines neuen Herrn einige Ermahnungen, worin er ihn anwies, diesen in allen Dingen zufrieden zu stellen und das Vieh mit derselben Sorgfalt zu pflegen, als ob es sein eignes wäre.

 

Landry versprach sein möglichstes zu thun und zog dann an die Arbeit hinaus. Er hielt sich tapfer und arbeitete den ganzen Tag über tüchtig, und nach der Rückkehr vom Felde hatte er großen Appetit. Es war das erste Mal, daß er so streng gearbeitet hatte, und ein wenig Ermüdung ist das beste Mittel gegen Kummer.

Der arme Sylvinet war unterdessen auf dem Zwillingshofe viel übler daran. Dies war nämlich, wie hier gesagt werden muß, der Name, den man im Marktflecken la Cosse dem Anwesen des Vaters Barbeau seit der Geburt der beiden Knaben gegeben hatte; umsomehr, da einige Zeit später auch eine Magd des Hauses ein paar Zwillingsmädchen geboren hatte, welche freilich tot zur Welt gekommen waren. Da nun die Bauern stark darin sind, allerlei Geschwätz aufzubringen und Spitznamen zu erfinden, hat das Haus mit den dazu gehörenden Grundstücken den Namen: »Der Zwillingshof« erhalten; und überall, wo Sylvinet und Landry sich blicken ließen, wurden sie von der Dorfjugend mit dem Geschrei empfangen: »Seht da! die Zwillinge vom Zwillingshofe!«

Der erste Tag der Trennung wurde auf dem Hofe des Vaters Barbeau in großer Traurigkeit verbracht. Sobald Sylvinet erwachte und seinen Bruder nicht mehr an seiner Seite fand, ahnte er die Wahrheit; aber er konnte doch nicht begreifen, daß Landry so ohne Abschied von ihm zu nehmen, fortgegangen sein könne. Sylvinet war deshalb bei alle seinem Schmerz etwas böse auf seinen Bruder.

»Was kann ich ihm nur gethan haben?« fragte er seine Mutter, »und wodurch sollte ich ihn wohl erzürnt haben? In alles, was er mir zu thun riet, habe ich mich stets gefügt. Wenn er nur sagte, ich solle in Gegenwart unserer lieben Mutter nicht weinen, habe ich die Thränen zurückgedrängt, wenn auch der Kopf zu springen drohte. Er hatte mir versprochen, daß er nicht fortgehen wolle, ohne mir vorher noch einmal Mut eingeredet zu haben, und ohne mit mir am Ende des Hanfackers zu frühstücken, grade an der Stelle, wohin wir sonst immer miteinander gingen, um zu plaudern und zu spielen. Ich wollte ihm seine Sachen zusammenpacken und ihm mein Messer schenken, das viel besser ist als das seinige. Nun hast du ihm wohl gestern Abend seine Sachen gepackt, ohne mir etwas davon zu sagen, und du wußtest also darum, liebe Mutter, daß er fortgehen wollte, ohne mir Adieu zu sagen?«

»Ich habe nach dem Willen deines Vaters gehandelt,« lautete die Antwort der Mutter.

Und sie sagte ihm dann alles, was sie nur ersinnen konnte, um ihn zu trösten. Er aber wollte auf nichts hören, und erst als er bemerkte, daß auch die Mutter weinte, bat er sie mit zärtlichem Kuß um Verzeihung, daß er ihren Schmerz vergrößert habe und gab ihr das Versprechen, daß er wenigstens bei ihr bleiben wolle, um ihr einen Ersatz zu gewähren. Sobald sie ihn aber allein gelassen hatte, um nach dem Geflügel zu sehen, oder die Wäsche zu besorgen, machte er sich fort und lief in der Richtung nach la Priche, ohne nur daran zu denken wohin er ging, ganz sich seinem Instinkt überlassend, wie der Tauber, der seinem Täubchen nacheilt, ohne sich um den Weg zu bekümmern.

Er würde in dieser Weise nach la Priche gekommen sein, wenn er nicht seinem heimkehrenden Vater begegnet wäre. Dieser aber nahm ihn bei der Hand, um ihn wieder mit zurück zu nehmen und sprach zu ihm: »Wir wollen heute Abend zu ihm gehen. Dein Bruder darf bei der Arbeit nicht gestört werden; das würde seinen Herrn verdrießen, und überdies ist bei uns zu Hause die Mutter sehr betrübt, und ich rechne darauf, daß du sie trösten wirst.«

Fünftes Kapitel

Sylvinet kehrte also ins Haus zurück, und hing sich wie ein kleines Kind an den Rock seiner Mutter, die er den ganzen Tag nicht mehr verließ. Er plauderte ihr fortwährend von Landry vor, mit dem seine Gedanken unablässig beschäftigt waren; jeder Ort und jeder Winkel, wo sie gewöhnlich beisammen gewesen waren, erinnerte ihn daran. Als es Abend wurde, ging er mit seinem Vater, der ihn ja begleiten wollte, nach la Priche. Sylvinet war ganz außer sich vor Freude, daß er nun seinen Zwillingsbruder wiedersehen würde. Es drängte ihn so sehr fortzukommen, daß er sich nicht die Zeit nahm zu Abend zu essen. Da er darauf rechnete, daß Landry ihm entgegenkommen würde, glaubte er schon immer von weitem zu erkennen, wie er auf ihn zulaufe. Landry indessen, obgleich er wirklich gute Lust dazu gehabt hätte, rührte sich nicht von der Stelle. Er fürchtete, daß die jungen Leute und die Buben von la Priche ihn wegen dieser Zwillingsliebe ausspotten möchten, die unter dem Volk für eine Art von Krankheit galt. So fand Sylvinet seinen Bruder am Tische sitzend, wo das Abendessen aufgetragen war, und wo er es sich schmecken ließ, als ob er sein Leben lang bei der Familie Caillaud gewesen wäre.

Sobald Landry den Bruder eintreten sah, schlug ihm das Herz vor Freude, und er mußte sich mit Gewalt bezwingen, sonst hätte er Tisch und Bank bei Seite gestoßen, um ihn desto schneller umarmen zu können. Aber er wagte es nicht, weil die Familie seines Herrn ihn neugierig beobachtete. Alle freuten sich darauf in dieser Zwillingsliebe etwas Neues zu sehen, etwas wie ein Naturwunder, wie der Schullehrer des Dorfes sich darüber ausdrückte.

Als Sylvinet nun dem Bruder um den Hals fiel, ihn unter Thränen küßte, sich an ihn schmiegte, wie im Nest sich ein Vogel an den anderen drängt, um sich zu erwärmen, wurde Landry der anderen wegen ärgerlich, wenn ihm an und für sich diese Äußerungen der brüderlichen Liebe auch nur wohlthuend waren. Er wollte verständiger erscheinen als sein Bruder und machte diesem ab und zu ein Zeichen, daß er sich zusammennehmen solle, worüber Sylvinet nicht weniger erstaunt als betrübt war. Während der alte Barbeau sich neben den Vater Caillaud setzte, um zu plaudern und zu trinken, gingen die beiden Zwillinge miteinander hinaus, denn es drängte Landry mit seinem Bruder zärtlich zu sein, ihn zu umarmen und zu küssen, nur wollte er dabei von den anderen nicht gesehen sein. Aber die anderen Burschen hatten die beiden aus der Ferne beobachtet, und sogar die kleine Solange, die jüngste von Vater Caillauds Töchtern, die wie ein echter Nestling schalkhaft und neugierig war, schlich mit leisen Schritten hinter ihnen her bis zu den Haselsträuchern. Wenn sie zufällig von den Zwillingen bemerkt wurde, lächelte sie mit verlegener Miene, aber ohne deshalb ihre Absicht aufzugeben. Sie bildete sich nämlich steif und fest ein, daß sie irgend etwas Seltsames erblicken werde, ohne zu begreifen, was es denn so Merkwürdiges an der innigen Freundschaft zweier Brüder sein könne.

Sylvinet war freilich erstaunt gewesen, daß sein Bruder ihn so kühl empfangen hatte; aber er dachte doch nicht daran, ihm deshalb einen Vorwurf zu machen, so glücklich war er, einmal wieder mit ihm zusammen zu sein. Am folgenden Morgen, – da Landry wußte, daß der Tag ihm gehöre, weil der Vater Caillaud ihn von aller Arbeit befreit hatte, – machte er sich früh auf den Weg nach la Cosse, da er glaubte, er werde seinen Bruder noch im Bett überraschen. Aber trotzdem, daß Sylvinet die Gewohnheit hatte von den beiden am längsten zu schlafen, so erwachte er doch grade, als Landry die Umzäunung des Kampos überschritt. Hastig sprang er aus dem Bett und eilte mit bloßen Füßen hinaus, als ob irgend etwas ihm zugeflüstert hätte, daß sein Zwillingsbruder ihm nahe sei. Für Landry war dies ein Tag vollkommener Freude. Sein Entzücken, das Vaterhaus und seine Familie wieder zu sehen, wurde durch das Bewußtsein erhöht, daß dies nicht mehr alle Tage geschehen könne, daß es gleichsam wie eine Belohnung für ihn sei. Sylvinet vergaß alle seine Schmerzen wenigstens während der einen Hälfte des Tages. Beim Frühstück sagte er sich vor, daß er mit seinem Bruder zu Mittag essen werde, als aber der Abend nahte, dachte er daran, daß dies nun für eine Zeit lang die letzte gemeinsame Mahlzeit wäre, und darüber begann er unruhig und betrübt zu werden. Er sorgte mit zärtlicher Aufmerksamkeit für seinen Zwillingsbruder, gab ihm das beste von seinem eigenen Essen, die Kruste von seinem Brote und die zarten Mittelstückchen von seinem Salat. Auch die Kleider seines Bruders und dessen Schuhe waren ein Gegenstand seiner Fürsorge, als ob dieser einen weiten Weg zu gehen habe, und als ob derselbe überhaupt sehr zu beklagen sei. Es kam ihm gar nicht in den Sinn, daß er selbst der Beklagenswerteste von ihnen sei, weil er der am meisten Betrübte war.

Sechstes Kapitel

So verging die ganze Woche. Sylvinet ging täglich hinaus, um seinen Bruder zu besuchen, und wenn er dann vom Zwillingshofe herübergekommen war, blieb dieser für ein paar Augenblicke bei ihm stehen. Landry fügte sich immer besser in seine Lage; Sylvinet aber wußte sich in die seinige gar nicht zu finden, und wie eine im Fegefeuer auf Erlösung harrende Seele begann er die Tage und Stunden der Trennung zu zählen.

Auf der ganzen Welt gab es niemanden als Landry, der ihn hätte zur Vernunft bringen können. Auch die Mutter wandte sich an diesen, daß er ihr helfen möchte, den Bruder zu beruhigen, denn mit der Betrübnis des armen Knaben wurde es von Tag zu Tag schlimmer. Er mochte sich an keinem Spiele mehr beteiligen, und arbeitete nur noch, wenn es ihm gradezu befohlen wurde. Seine kleine Schwester führte er wohl noch spazieren, aber fast ohne ein Wort dabei zu reden, oder ihr auf irgend eine andere Art die Zeit zu vertreiben; er gab nur darauf acht, daß sie nicht fallen oder auf eine andere Art zu Schaden kommen könne. Sobald man ihn nicht immer im Auge behielt, machte er sich davon und wußte sich so gut zu verbergen, daß man gar nicht wußte, wo man ihn suchen sollte. Alle Gräben, alle Furchen, alle Schluchten, wo er gewohnt gewesen war mit Landry zu spielen und zu plaudern, suchte er wieder auf. Er setzte sich auf die Baumwurzeln, auf denen sie miteinander gesessen hatten, und netzte sich die Füße in allen kleinen Bächen, in denen sie wie ein paar junge Enten miteinander herumgepascht waren; er freute sich, wenn er nur ein Stück Holz wieder auffand, welches Landry mit seinem Gartenmesser zugeschnitten hatte; oder irgend einen Kieselstein, den dieser als Schleuder oder zum Feuerschlagen benutzt hatte. Er sammelte sie alle, diese Kleinigkeiten und versteckte sie in einem hohlen Baume oder unter einer Holzschicht; von Zeit zu Zeit holte er sie dann wieder hervor, um sich an ihrem Anblick zu erlaben, als ob sie Gegenstände von großer Wichtigkeit gewesen wären. In Gedanken ging er alles wieder durch und zerbrach sich den Kopf, auch nur die geringsten Nebenumstände des vergangenen Glückes in seiner Erinnerung wieder heraufzubeschwören. Was für jeden anderen gar keinen Wert gehabt hätte, galt ihm noch über alles. Wie es in der Zukunft werden sollte, das kümmerte ihn gar nicht, denn er hatte nicht einmal den Mut an eine Reihenfolge solcher Tage zu denken, wie sie ihm jetzt auferlegt waren. Er lebte mit seinen Gedanken nur in der Vergangenheit und verzehrte sich in den endlosen Träumereien seiner Sehnsucht.

Es gab Zeiten, wo er sich einbildete seinen Zwillingsbruder leibhaftig vor sich zu sehen und zu hören. Dann plauderte er ganz allein vor sich hin, in der Meinung diesem zu antworten. Manchmal überraschte ihn auch der Schlaf, wo er sich gerade befand, und er träumte von ihm; wenn er dann aber erwachte und sich wieder allein fand, begann er bitterlich zu weinen, und er ließ seinen Thränen um so freieren Lauf, weil er hoffte durch die Ermüdung seinen Schmerz endlich gelindert zu fühlen.

 

Eines Tages, da er auf seinen Streifereien bis zu der Stelle gelangt war, wo das Schlagholz von Champeaux steht, fand er auf dem Bach, der zur Regenzeit aus dem Gehölz herausfließt, jetzt aber ganz ausgetrocknet war, eine jener kleinen Mühlen wieder auf, wie die Kinder sie in unserer Gegend so geschickt aus Hobelspänen zu machen verstehen, daß sie sich bei der Strömung drehen und sich manchmal lange auf der Oberfläche des Wassers erhalten, bis andere Kinder sie zerbrechen, oder der höhere Wasserstand sie mit fortreißt. Diese, welche Sylvinet wieder aufgefunden hatte, lag hier schon seit mehr als zwei Monaten, und da es eine einsame Stelle war, hatte niemand sie gesehen, noch etwas daran verderben können. Sylvinet erkannte sie sogleich als das Werk seines Zwillingsbruders; beim Anfertigen derselben hatten sie sich vorgenommen wieder hierher zu kommen, um darnach zu sehen. Sie hatten aber nicht weiter daran gedacht, und seitdem an anderen Orten viele andere Mühlen gemacht.

Sylvinet war also sehr erfreut sie wieder zu finden, und trug sie etwas weiter hinauf, wohin das Wasser des Baches sich zurückgezogen hatte. Dort wollte er sehen, wie sie sich drehte und dabei an das Vergnügen denken, welches Landry gehabt hatte, als er ihr den ersten Anstoß gab. Dann ließ er sie an der Stelle, wohin er sie getragen und freute sich schon darauf, wenn er am nächsten Sonntag mit Landry wiederkommen würde, um ihm zu zeigen, wie ihre so fest und gut gefügte Mühle sich erhalten habe.

Aber er konnte es sich nicht versagen, schon am folgenden Tage allein dahin zurückzukehren. Das Wasser des Baches war ganz getrübt, und die Ufer desselben zerstampft durch die Füße der Ochsen, welche dort zur Tränke geführt waren, und die man am Morgen zwischen das Schlagholz auf die Weide getrieben hatte. Er trat etwas näher hinzu und sah, daß die Tiere auf seine Mühle getreten und sie so zerstampft hatten, daß nur noch wenig davon zu sehen war. Das Herz wurde ihm schwer darüber, und er bildete sich ein, daß an diesem Tage seinem Bruder irgend ein Unglück zustoßen müsse, und er lief bis nach la Priche, um sich zu überzeugen, daß ihm nichts Schlimmes widerfahren sei. Hier aber begnügte er sich damit, seinen Bruder von weitem zu betrachten, und zwar so, daß er selbst nicht gesehen werden konnte. Er hatte nämlich bemerkt, das es Landry nicht angenehm war, wenn er unter tags kam, weil dieser fürchtete, daß solch eine Störung bei der Arbeit seinen Herrn verdrießen könne. Da er sich geschämt haben würde zu gestehen, von welchen Gedanken gedrängt er herbei geeilt war, kehrte er ohne ein Wort zu verlieren, wieder um; er sprach Überhaupt mit niemanden darüber; erst sehr lange Zeit nachher that er dies.

Da seine Gesichtsfarbe blaß wurde, weil er wenig schlief und so zu sagen fast gar nichts aß, wurde seine Mutter sehr betrübt, und sie wußte nicht mehr, was sie thun sollte, um ihn zu trösten. Sie versuchte es, ihn mit sich zu nehmen, wenn sie in den Marktflecken ging, oder sie redete ihm zu, seinen Vater oder seinen Onkel zu begleiten, wenn diese zu den Viehmärkten gingen. Aber er nahm an nichts einen Anteil, und nichts konnte ihn mehr erfreuen. Ohne ihn etwas merken zu lassen, machte sich deshalb Vater Barbeau auf den Weg und versuchte es, den Vater Caillaud zu bereden die Zwillinge beide in seinen Dienst zu nehmen. Dieser aber gab ihm eine Antwort, die er selbst als begründet anerkennen mußte.

»Vorausgesetzt,« so ungefähr sprach der alte Caillaud, »ich würde sie eine Zeitlang alle beide in meinen Dienst nehmen, so könnte dies doch nicht von Dauer sein, denn wo man mit einem Diener genug hat, würde es für Leute unseres Schlages nicht gut thun, deren zwei in den Dienst zu nehmen. Wenn das Jahr herum wäre, würdet ihr immerhin wieder genötigt sein, für den einen eurer Zwillinge irgend einen anderen Dienst zu suchen. Und seht ihr denn nicht ein, daß Sylvinet nicht mehr so viel träumen würde, wenn er in einem Dienst wäre, wo er zur Arbeit gezwungen wäre? Dann würde er es machen wie der andere, der sich tapfer in sein Schicksal gefunden hat. Früher oder später muß es doch so kommen. Ihr werdet ihn vielleicht nicht grade an den Ort hin verdingen können, wie ihr wohl möchtet, und wenn diese beiden Buben noch weiter voneinander entfernt werden, so daß sie sich nur noch jede Woche, oder jeden Monat einmal sehen können, so ist es immer besser sie schon beizeiten daran zu gewöhnen, daß sie nicht immer zusammenhocken können. Seid also vernünftig, lieber Nachbar, und macht nicht so viele Umstände mit den Einbildungen eines Kindes, das von eurer Frau und von euren anderen Kindern etwas zu viel verhätschelt und verzogen wurde. Das Schlimmste ist überwunden, und glaubt nur, daß er sich in das Übrige schon finden wird, sobald ihr nur nicht nachgebt.«

Vater Barbeau ließ sich belehren, und er sah ein, das Sylvinets Sehnsucht nach seinem Zwillingsbruder nur immer mehr zunehmen werde, je häufiger er ihn sehen würde. Er nahm sich deshalb vor am nächsten Johannistag für Sylvinet einen Dienst zu suchen. Er hoffte, daß dieser, wenn er Landry immer weniger sehen würde, sich schließlich daran gewöhnen werde, wie alle anderen zu leben, und sich nicht mehr von einem Gefühl bewältigen zu lassen, das in ein krankhaftes Verlangen zu entarten drohte.

Aber vor der Mutter Barbeau durfte noch nicht von diesem Plane geredet werden, denn schon bei der ersten Andeutung davon, weinte sie sich halbtot. Sie meinte, Sylvinet könne daran zu Grunde gehen, und der Vater Barbeau wußte sich wirklich nicht mehr zu helfen.

Landry, der von seinem Vater, seinem Herrn und auch von seiner Mutter zu Rate gezogen wurde, unterließ nicht, seinem armen Bruder zuzureden. Sylvinet wußte gegen seine Vorstellungen durchaus nichts einzuwenden, versprach auch alles, konnte sich aber nicht überwinden. Es kam bei seinem Schmerz noch etwas anderes in Betracht, wovon er aber nichts verlauten ließ, weil er auch gar nicht gewußt hätte, wie er es vorbringen sollte. Dies war nämlich, daß im Innersten seines Herzens in Bezug auf Landry eine ebenso heftige wie sonderbare Eifersucht zu keimen begann. Er fühlte sich befriedigt, ja mehr als je zuvor, wenn er sah, wie Landry bei jedermann in Ansehen stand, wie er von seiner Dienstherrschaft so freundschaftlich behandelt wurde, als ob er ein Kind des Hauses sei. Wenn ihn dies nun auf der einen Seite erfreute, so betrübte und kränkte es ihn auf der anderen, sobald er zu bemerken glaubte, daß Landry diese freundschaftlichen Beziehungen zu sehr erwidere. Er konnte es nicht leiden, wenn Landry auf ein Wort des Vaters Caillaud, wie unbestimmt und gelassen es geäußert sein mochte, dem Wunsch desselben zu willfahren, rasch davoneilte, Vater, Mutter und Bruder in solchen Augenblicken bei Seite lassend. Landry war also viel besorgter seiner Dienstpflicht etwas zu vergehen, als er die Anhänglichkeit der Seinigen zu schätzen wußte, und viel pünktlicher im Gehorsam, als Sylvinet dazu im Stande gewesen sein würde, wenn es sich darum gehandelt hätte, einige Augenblicke länger mit jemandem zu verweilen, der ihm mit so treuer Liebe ergeben war.

Der arme Bursche setzte sich jetzt eine neue Grille in den Kopf, an die er zuvor nicht gedacht hatte, nämlich die: daß die Liebe und Freundschaft, die er für seinen Bruder empfand, nicht erwidert würden, und daß dies auch immer so gewesen sein müsse, nur er selbst habe es nicht eingesehen. Freilich war es auch möglich, daß die Liebe seines Zwillingsbruders erst seit einiger Zeit für ihn erkaltet war, weil er am fremden Ort Personen gefunden hatte, die ihm besser gefielen und passender erschienen.