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Der Müller von Angibault

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Gegen die siebente Morgenstunde kam der Patachon von gestern in die Mühle, um sich der Frau von Blanchemont wieder zur Verfügung zu stellen, und nun kam diese einigermaßen in Verlegenheit, indem sie ihren Wirten gern den um ihrer willen gemachten Aufwand vergüten wollte, und diese jede Bezahlung zurückwiesen.

»Nein, meine liebe Dame, nein«, sagte der Müller ruhig, aber bestimmt, »wir sind keine Gastwirte. Wir könnten es sein, es wäre das nicht zu gemein für uns, aber wir sind es nun einmal nicht und werden daher nichts annehmen.«

»Wie?« sagte Marcelle, »ich habe Ihnen so viel Unruhe und Aufwand verursacht, denn ich weiß, dass Ihre Mutter mir ihr Bett überließ, dass sie das Ihrige nahm und Sie auf dem Heuboden schlafen mussten, und Sie wollen mir nicht gestatten, dass ich Sie entschädige? Sie wurden von Ihren Morgenarbeiten abgehalten, um für uns zu fischen, Ihre Mutter hat unserer wegen den Backofen geheizt und sonst noch viele Mühe gehabt, auch haben wir Ihre Vorräte tüchtig gebrandschatzt.«

»O, meine Mutter hat trefflich geschlafen und ich noch besser«, versetzte Louis. »Die Forellen aus der Vauvre kosten mich nichts, es ist heute Sonntag und da pflege ich ohnehin den ganzen Morgen zu fischen. Die paar Tropfen Milch, das wenige Brot und Mehl, nebst den wenigen Stücken schlechten Geflügels, dieser Aufwand wird uns nicht zugrunde richten. So ist unsere Bewirtung von keiner großen Bedeutung und Sie können dieselbe ohne weiteres annehmen. Wir werden Ihnen das gewiss nicht anrechnen, umso weniger, da wir Sie vielleicht nie wiedersehen werden.«

»Ich hoffe doch«, entgegnete Marcelle, »denn ich beabsichtige, wenigstens einige Tage auf Blanchemont zu bleiben. Ich werde wiederkommen, um mich bei Ihnen und Ihrer Mutter für eine so herzliche Gastfreundschaft zu bedanken, wenn ich auch etwas verlegen bin, sie umsonst anzunehmen.«

»Und warum sollte es Sie in Verlegenheit bringen, wenn Sie sich von ehrlichen Leuten einen so unbedeutenden Dienst gefallen lassen? Wenn man nur mit ihrem guten Willen zufrieden ist, dann ist man mit ihnen schon im Reinen. Ich weiß zwar wohl, dass man in den großen Städten alles bezahlen muss, bis auf ein Glas Wasser herab, aber das ist ein schlechter Brauch und bei uns auf dem Lande wäre man sehr übel daran, wenn man sich nicht gegenseitig beistände. Reden wir also nicht mehr davon.«

»Aber Sie wollen also nicht, dass ich wiederkomme, um mich bei Ihnen zum Frühstück einzuladen? Sie nötigen mich, diesem Vergnügen zu entsagen, wenn ich nicht zudringlich werden will.«

»Ei, das ist eine andere Sache. Wir haben nur unsere Pflicht getan, indem wir Ihnen das erwiesen, was Sie Gastfreundschaft nennen, denn wir wurden gelehrt, dies als eine Pflicht zu betrachten, und meine Mutter und ich sind nicht willens, von alten Gebräuchen abzugehen, wenn dieselben uns gut scheinen. Wenn es in der Nachbarschaft ein ordentliches Wirtshaus gäbe, so würde ich Sie gestern hingeführt haben, indem ich gedacht hätte, Sie befänden sich dort besser, als bei uns, und wohl sah, dass Sie die Mittel besäßen, Ihre Zeche zu bezahlen. Aber es gibt hier herum keines, weder ein gutes noch ein schlechtes, und ich hätte ein recht herzloser Mensch sein müssen, wenn ich zugegeben, dass Sie die Nacht unter freiem Himmel verbrächten. Meinen Sie, ich hätte Sie eingeladen, wenn ich gedacht, Sie beabsichtigten uns zu bezahlen? Nein, denn, wie ich Ihnen schon sagte, ich bin kein Gastwirt. Sehen Sie, wir haben weder einen Schild noch einen Kranz über unserer Türe.«

»Ich hätte das bei meinem Eintritte bemerken und eine größere Zurückhaltung beobachten sollen«, sagte Marcelle. »Aber was antworten Sie auf meine Frage? Sie wollen also nicht, dass ich wiederkomme?«

»Ei, das ist eine andere Sache. Ich lade Sie ein, zu uns zu kommen, so oft Sie immer wollen. Sie finden den Ort hübsch und Ihr Kleiner liebt unsere Kuchen. Dies ermutigt mich, Ihnen zu sagen, dass Sie uns eine Freude machen, so oft Sie kommen.«

»Und Sie nötigen mich, jederzeit, wie heute, alles ›gratis‹ anzunehmen?«

»Wenn ich Sie einlade? Habe ich mich denn nicht verständlich genug ausgedrückt?«

»Und Sie sehen nicht, dass ich meinerseits auf diese Weise Ihre Gutmütigkeit missbrauchen würde?«

»Nein, das seh’ ich nicht. Ist man eingeladen, so hat man ein Recht, es anzunehmen.«

»Ach«, meinte Frau von Blanchemont, »ich bemerke, dass Sie die wahre Höflichkeit besitzen, welche uns mangelt. Sie unterweisen mich, dass die kluge Zurückhaltung, diese in unsern Gesellschaftskreisen ebenso eitle und unglückliche, als notwendige Eigenschaft, es dahin gebracht hat, dass sich das Wohlwollen in Komplimente verflüchtigt hat und die feine Lebensart jetzt mehr und mehr der Ausdruck einer wohlgemeinten Höflichkeit ist.«

»Sie sprechen gut«, versetzte der Müller, indem sein Gesicht von einem Strahl lebhaften Verständnisses erhellt wurde, »und ich bin recht froh, dass ich Gelegenheit, hatte, Sie mir zu verbinden, meiner Treu!«

»In diesem Falle werden Sie mir gestatten, Sie auch meinerseits bei mir zu sehen, wenn Sie nach Blanchemont kommen.«

»Ja … halt … Verzeihung! … aber ich werde nicht zu Ihnen kommen. Ich werde zu Ihren Pächtern gehen, wie ich oft hingehe, um Korn zu holen, und werde Sie dann mit Vergnügen begrüßen – das ist alles.«

»Ei, ei, Herr Louis, Sie wollen also nicht bei mir frühstücken?«

»Ja und nein! Ich esse oft mit Ihren Pächtern; allein wenn Sie dort sind, wird das ganz anders sein. Sie sind eine Edeldame, Punktum

»Erklären Sie sich näher, ich verstehe das nicht.«

»Sehen Sie, haben Sie nicht die Gewohnheiten der alten Edelherren beibehalten? Würde dann Ihr Müller nicht in der Küche, mit den Dienern und ohne Sie essen müssen? Nun würde mich’s zwar gar nicht verdrießen, mit den Dienstboten zu essen, denn das tue ich täglich in meinem eigenen Hause, aber das käme mir sonderbar vor, dass ich Sie heute an meiner Seite sitzen gesehen und mich morgen nicht an die Ihrige setzen dürfte. Sehen Sie, ich bin ein wenig stolz, aber ich will Sie nicht beleidigen. Jeder folgt seinen Vorstellungen und Bräuchen, und darum mag ich mich denen anderer keineswegs unterwerfen, wenn ich nicht dazu gezwungen bin.«

Marcelle wurde überrascht durch den gesunden Verstand und die edle Freimütigkeit des Müllers. Sie fühlte, dass er ihr eine treffliche Lektion gäbe, und freute sich der von ihr gefassten Entschlüsse, welche ihr gestatteten, diese Lektion anzuhören, ohne zu erröten.

»Herr Louis«, sagte sie zu ihm, »Sie täuschen sich in mir. Es ist nicht meine Schuld, dass ich dem Adel angehöre, aber glücklicherweise oder zufälligerweise will ich mich seinen Gebräuchen nicht mehr fügen. Wenn Sie zu mir kommen, werde ich nicht vergessen, dass Sie mich in Ihrem Hause empfangen haben, wie jemand Ihresgleichen, dass Sie mich bedient haben, wie Ihren Nachbar, und um Ihnen zu beweisen, dass ich nicht undankbar bin, werde ich Ihr und Ihrer Mutter Couvert eigenhändig auf den Tisch legen, wie Sie das meinige eigenhändig auf Ihren Tisch gelegt.«

»Ist’s wahr? Sie würden das tun?« fragte der Müller, indem er Marcelle mit einer Mischung von Überraschung, ehrerbietigem Zweifel und zutraulicher Sympathie betrachtete. »In diesem Falle werde ich kommen, oder werde vielmehr nicht kommen, denn ich sehe wohl, dass Sie eine honnette Frau sind.«

»Ich verstehe Sie wieder nicht recht.«

»O – verdammt! Wenn Sie mich nicht verstehen, werde ich wohl ein wenig Mühe haben, mich verständlicher zu machen.«

»Nun, Louis, ich glaube, du bist ein Narr«, nahm die alte Marie, welche während der vorhergehenden Unterhaltung ihr Strickzeug mit nachdenklicher Miene gehandhabt hatte, das Wort; »ich weiß nicht, woher du das alles nimmst, was du unserer Dame da sagst. Entschuldigen Sie, gnädige Frau, er ist ein gar sorgloser Bursche, der jedermann, Klein wie Groß, alles sagt, was ihm eben durch den Kopf fährt. Sie brauchen sich darüber nicht zu ärgern; er ist, im Grund genommen, ein guter Kerl, glauben Sie mir, und ich seh’ es ihm am Gesicht an, dass er für Sie durchs Feuer ginge.«

»Durchs Feuer wohl nicht«, bemerkte der Müller lachend, »aber durchs Wasser, denn das ist mein Element. Ihr seht wohl, Mutter, dass Madame eine Frau von Verstand ist, der man alles sagen darf, was man denkt.«

»Sprechen Sie doch, Meister Louis, sprechen Sie, ich bin so gut aufgelegt, mich zu unterrichten. Warum wollen Sie nicht zu mir kommen, da ich doch, wie Sie sagen, eine honnette Person bin.«

»Weil wir übel daran täten, allzu vertraulich mit Ihnen zu werden, und weil Sie übel daran täten, uns auf dem Fuße der Gleichheit zu behandeln. Das würde Ihnen nur Unannehmlichkeiten zuziehen, Ihre Standesgenossen würden Sie darob verachten; sie würden sagen, Sie vergäßen ihren Rang, und ich weiß, dass das in ihren Augen für eine große Sünde gilt. Und dann müssten Sie mit der nämlichen Güte, welche Sie uns bezeigten, auch alle die andern behandeln, sonst würde es uns Neider und Feinde erregen. Jeder muss seinen Weg gehen. Man sagt, dass sich die Welt seit fünfzig Jahren sehr verändert habe, ich sage aber: es hat nichts sich geändert, außer unsern Vorstellungen. Wir wollen nicht mehr so unterwürfig sein. Aber die Vorstellungen der Reichen und Vornehmen sind noch dieselben, welche sie immer waren. Wenn Sie diese Vorstellungen nicht teilen, wenn Sie die geringen Leute nicht verachten, wenn Sie ihnen die nämliche Ehre antun, wie Ihren Standesgenossen: vielleicht umso schlimmer für Sie. Ich habe Ihren Gemahl, den verstorbenen Herrn von Blanchemont, welchen einige Leute noch den Edelherrn von Blanchemont betitelten, oft gesehen. Er kam alljährlich in diese Gegend und blieb zwei, drei Tage. Er duzte uns. Wenn das in freundschaftlichem Sinn geschehen wäre, so hätte es hingehen mögen, aber es geschah nur aus Verachtung und man durfte nur höchst unterwürfig, den Hut in der Hand, mit ihm sprechen. Was mich betrifft, so kehrte ich mich wenig daran. Eines Tages begegnete er mir und befahl mir, sein Pferd zu halten. Ich tat, als hätte ich es nicht gehört. Da nannte er mich einen Tölpel. Ich begnügte mich, ihn über die Achsel anzusehen. Wäre er nicht so schwach, so elend gewesen, gewiss, ich hätte ein Wort mit ihm gesprochen. So aber wär’s von meiner Seite unrecht gewesen und ich ging singend meiner Wege. Wenn nun dieser Mann noch lebte und Sie sprechen hörte, wie Sie vorhin sprachen, müsste er sehr unzufrieden sein. Geben Sie Acht, Sie brauchen bloß die langen Gesichter Ihrer Diener anzusehen; ich hab’ es wohl bemerkt, wie sie sich verwunderten, als Sie heute mit uns und mit ihnen selbst so wenig Umstände machten. Darum, gnädige Frau, können wohl Sie Ihren Besuch in der Mühle wiederholen, wir aber, obgleich wir Sie lieb haben, tun besser, uns von dem Schlosse möglichst fernzuhalten.«

 

»Um des eben Gesagten willen verzeihe ich Ihnen das Übrige und verspreche mir, Sie gewiss noch zu meinem Wunsche zu bekehren«, erwiderte Marcelle, indem sie dem Müller die Hand reichte mit einer Gebärde, deren edle Sittsamkeit zu gleicher Zeit Achtung einflößte und Zuneigung erregte. Der Müller errötete, indem er diese zarte Hand in seiner ungeheuren fühlte und zum ersten Mal machte ihn die Gegenwart Marcelles schüchtern, einem kecken und guten Kinde gleich, dessen Stolz durch Rührung gebrochen wird.

»Ich will Sophie besteigen und Ihnen den Weg nach Blanchemont zeigen«, sagte er nach einem verlegenen Stillschweigen, »dieser unglückliche Patachon wäre imstande, Sie noch einmal irrezuführen, obschon es nicht weit hin ist.«

»Wohl, ich nehme dies Anerbieten an«, entgegnete Marcelle: »werden Sie aber noch einmal sagen, dass ich stolz sei?«

»Ich sage, ich sage«, rief der große Louis aus, indem er schnell hinausging, »dass, wenn alle reichen Frauen wären, wie Sie…«

Man hörte das Ende seines Ausrufes nicht und die Mutter übernahm es, den Satz zu beendigen, indem sie sagte:

»Er meint, dass er nicht solche Pein ausstehen würde, wenn das Mädchen, welches er liebt, so wenig hochmütig wäre, wie Sie.«

»Und kann ich ihm nicht vielleicht nützlich sein?« fragte Marcelle.

»Vielleicht dadurch, dass Sie der Jungfer Gutes von ihm sagen, denn Sie werden dieselbe bald kennenlernen. Aber bah, sie ist zu reich!«

»Wir wollen weiter darüber reden«, sagte Marcelle, welche ihre Leute mit dem Gepäck eintreten sah; »ich werde gewiss bald wiederkommen, vielleicht morgen schon.«

Der rothaarige, ungehobelte Patachon, der in der Dunkelheit im schwarzen Tale kein Haus hatte auffinden können, war unter einem Baume über Nacht geblieben. Bei Tagesanbruch hatte er die Mühle wahrgenommen und hatte dort für sich und sein Pferd Unterkommen und Erfrischung gefunden. In seiner schlechten Laune war er sehr geneigt, die Vorwürfe, welche er erwartete, mit Grobheiten zu erwidern. Allein einerseits machte ihm Marcelle keine Vorwürfe, andererseits überschüttete ihn der Müller so sehr mit Spöttereien, dass er ganz beschämt auf seine Deichsel stieg.

Der kleine Eduard bat seine Mutter, sich vor den Müller auf dessen Pferd setzen zu dürfen, und Louis fasste ihn liebevoll in die Arme, indem er leise zu der alten Marie sagte:

»Was meint Ihr, Mutter, wenn wir so einen Kleinen bei uns im Hause hätten? Welche Freude! Aber das wird nie der Fall sein.«

Die Mutter begriff wohl, dass er damit sagen wolle, er werde sich nie verheiraten, außer mit dem Mädchen, dessen Hand zu erhalten er nicht hoffen durfte.

7. Kapitel.
Blanchemont

Nachdem Marcelle die Müllerin umarmt und die Dienstboten der Mühle insgeheim reichlich beschenkt hatte, bestieg sie wohlgemut die verwünschte Patache. Ihr erster Versuch in der Gleichheit hatte ihre Seele erheitert und der Verlauf des Romans, welchen sie verwirklichen wollte, schwebte in den dichterischsten Farben vor ihrer Phantasie. Allein der Anblick von Blanchemont verdüsterte schon eigentümlich ihre Gedanken, und sie fühlte ihr Herz beklemmt von dem Augenblick an, wo sie die Schwelle ihrer Besitzung überschritten hatte.

Den Lauf der Vauvre aufwärts verfolgend, befand man sich, nach Übersteigung eines ziemlich abschüssigen Hügels, auf der Anhöhe von Blanchemont. Dies ist ein schöner, von alten Bäumen beschatteter Grasplatz, der eine reizende Landschaft beherrscht, die, nicht sehr hoch über dem schwarzen Tal gelegen, einen frischen, melancholischen, fast wilden Anblick darbietet, weil man von den zerstreuten Wohnungen, welche umherliegen, nur da und dort ein Strohdach oder ein gebräuntes Ziegeldach aus den Baumgruppen hervorragen sieht. Eine arm aussehende Kirche und die kleinen Häuser des Weilers bedecken diese Anhöhe, die sich gegen den Fluss hinabzieht, der hier in anmutigen Windungen sich dahinschlängelt. Von hier führt ein holperichter Weg auf das Schloss zu, welches etwas weiter hinten am Fuß der Anhöhe mitten in Fruchtfeldern liegt. In die Ebene hinablenkend, verliert man die herüberblauenden Landschaften des Berry und der Marche aus dem Gesicht und man muss, um sie wieder zu erblicken, das zweite Stockwerk des Schlosses besteigen.

Dieses Schloss war nie sehr fest gewesen, die Mauern, aus denen schlanke Türme hervorragten, haben nur fünf bis sechs Fuß im Durchmesser. Es wurde erbaut, als die Feudalkriege schon zu Ende gingen. Indessen wiesen die engen Pforten, die spärlich angebrachten Fenster, die zahlreichen Trümmer von Mauern und Türmen, welche die Außenwerke gebildet hatten, dennoch auf eine Zeit voll Misstrauen und Gefahr hin, in welcher man sich gegen einen Handstreich sicherzustellen gesucht hatte.

Das eigentliche Schloss ist ziemlich hübsch. Es bildet ein längliches Viereck und hat in jedem Stockwerk ein einziges großes Gemach. An jeder der vier Ecken befindet sich ein Turm, welcher kleinere Gemächer enthält, und ein fünfter Turm, der an der Hinterseite angebracht ist, dient zum Treppenhaus. Die Zerstörung der ehemaligen Verbindungswege hat die Kapelle isoliert hingestellt, die Gräben sind zum Teil geebnet, die Türme der Ringmauer zur Hälfte abgetragen und der Teich, welcher das Schloss sonst an der Nordseite bespülte, hat sich in eine schöne Wiese verwandelt, in deren Mitte eine Quelle hervorquillt.

Allein die Aufmerksamkeit der Erbin von Blanchemont wurde bald von dem malerischen Anblick des alten Schlosses abgelenkt. Der Müller führte sie nämlich, nachdem er ihr aus dem Fuhrwerk geholfen, auf ein Gebäude zu, welches er das neue Schloss nannte, und zu den weitläufigen Gebäulichkeiten der Meierei, welche am Fuß des alten Herrenhauses liegen und sich längs eines sehr großen Hofraums hinziehen, der auf der einen Seite von einer gezackten Mauer, auf der andern von einer Hecke und einem, mit schlammigem Wasser angefüllten Graben begrenzt wurde.

Man kann sich nichts Traurigeres und weniger Anheimelndes denken, als diese reiche Pächterwohnung. Das sogenannte neue Schloss ist weiter nichts als ein großes Bauernhaus, welches vor etwa fünfzig Jahren aus den Trümmern der Festungswerke erbaut wurde. Die frisch geweißten Wände desselben und das Dach von neuen, schreiendroten Ziegeln bezeugten eine unlängst vorgenommene Reparation, und dieser äußerliche Aufputz stach grell von der verwitterten Altertümlichkeit der übrigen Baulichkeiten und dem unreinlichen Hof ab. Diese finstern Bauten, welche Spuren alter Architektur an sich trugen und gut unterhalten waren, bildeten eine Reihe von Scheunen und Ställen, das einzige, was den Stolz der Pächter und die Bewunderung sämtlicher Bauern ausmacht. Aber diese Umgebung, den Ackerbaugeschäften so förderlich, für Viehzucht und Ernte so bequem, beschränkte Blicke und Gedanken auf einen traurigen, prosaischen und durch seinen Schmutz widerlichen Raum. Ungeheure Misthaufen, welche, tief in ihre steinernen Gruben versenkt, dennoch zehn bis zwölf Fuß hoch hervorragten, entsandten schmutzige Bäche, welche man ganz offen über den Hof leitete, damit sie die Gemüsebeete des tieferliegenden Küchengartens tränkten. Diese Düngervorräte, ein mit Vorliebe gepflegter Reichtum des Landmanns, ergötzen seinen Blick und machen sein Herz selbstgefällig schlagen, wenn einer seiner Nachbarn sie mit Blicken des Neides und der Bewunderung mustert. Bei kleineren ländlichen Heimwesen beleidigen diese Einzelheiten weder das Auge, noch den künstlerischen Sinn. Ihre Unordnung, die überall zerstreuten Ackergeräte, das allenthalben wuchernde Grün verbergen oder verschönern dieselben, aber nach einem größern Maßstabe und auf einem weiten Raum ist nichts abschreckender, als der Anblick dieser unreinen Gegenstände. Scharen von Truthühnern, Gänsen und Enten scheinen es darauf anzulegen zu verhindern, dass man den Fuß irgendwie auf eine von dem Abfluss der Mistlache verschonte Stelle setzen könnte und der gepflasterte Weg, welcher den Hof durchschnitt, war ebenso unpraktikabel, wie der übrige Raum. Die Überbleibsel des alten Daches von dem neuen Schlosse lagen zerstreut umher, und so wandelte man auf einem Boden von zerbrochenen Ziegeln.

Es war zwar bereits sechs Monate her, seit das Dach neu gedeckt worden war, allein solche Reparationen waren die Sache des Eigentümers, so dass sich der Pächter mit dem Aufräumen des Abfalls und dem Ausputzen des Hofes nicht eben sehr beeilte, sondern sich vornahm, dieses nach Beendigung der sommerlichen Feldarbeiten gelegentlich besorgen zu lassen. Einesteils ersparte man sich also dadurch ein paar Tagewerke, andernteils war auch die tiefe Apathie unserer Bauern daran schuld, welche jederzeit gern etwas ungetan lassen, wie wenn ihre Tätigkeit nach einer Anstrengung schlechterdings der Ruhe bedürfte und sie die Süßigkeit des Nichtstuns schon vor Beendigung der Arbeit kosten wollten.

Marcelle verglich diesen unpoetischen und widerlichen bäurischen Überfluss mit dem anmutigen Heimwesen des Müllers und hätte ihm hierüber gern einige Bemerkungen gemacht, wenn sie inmitten des Geschreis der aufgescheuchten und doch vor Schrecken unbeweglichen Truthähne, des pfeifenden Geschnatters der Gänsemütter und des Gebells von vier oder fünf dürren, gelbfarbigen Hunden hätte zu Worte kommen können.

Da es Sonntag war, befanden sich die Ochsen im Stalle und die Knechte lungerten in ihrem Sonntagsstaat von grobem blauem Tuch an dem Hoftor umher. Sie sahen mit großer Verwunderung die Patache auf den Hof fahren, aber keiner rührte sich von der Stelle, um die Ankömmlinge zu empfangen, oder dem Pächter den ankommenden Besuch zu melden. So musste denn Louis der Frau von Blanchemont zum Führer dienen. Er machte auch wenig Umstände, trat ohne anzuklopfen ein und sagte:

»Frau Bricolin, kommen Sie doch! Da ist die Frau von Blanchemont, welche Sie besucht.«

Diese unerwartete Neuigkeit erschreckte die drei weiblichen Glieder der Familie Bricolin, welche soeben aus der Messe zurückgekehrt und im besten Zuge waren, stehend ein kleines Voressen zu sich zu nehmen, dass sie wie erstarrt einander ansahen, um sich zu fragen, was unter solchen Umständen zu sagen und zu tun sei, und sich noch nicht geregt hatten, als Marcelle eintrat.

Die weibliche Gruppe, welche sich ihr darstellte, war aus drei Generationen zusammengesetzt. Da war erstlich die Mutter Bricolin, welche weder lesen noch schreiben konnte und bäurische Tracht trug; da war zweitens Frau Bricolin, die Gattin des Pächters, ein wenig modischer angetan als ihre Schwiegermutter, mit der Haltung einer Pfarrershaushälterin. Sie verstand ihren Namen leserlich zu schreiben und die Stunden des Sonnenaufganges, sowie die Mondsveränderungen in dem Kalender von Lüttich nachzulesen. Endlich war da Jungfer Rose Bricolin, wirklich schön und frisch, wie eine Mairose. Sie konnte Romane lesen, das Haushaltungsbuch führen und Contretänze tanzen. Ihre Haare waren zierlich geordnet und sie trug ein hübsches Kleid von rosenrotem Musselin, welches die reizenden Formen ihres Wuchses hervorhob. Die wirklich hinreißend schöne Gestalt des Mädchens, dessen Gesichtsausdruck zugleich schlau und naiv war, verwischte bei Frau von Blanchemont den widerwärtigen Eindruck, welchen die sauren und harten Züge der Pächterin auf sie machten. Die Großmutter, welche gebräunt und gerunzelt war, wie eine echte Bäurin, hatte eine offene und kühne Physionomie.

Die drei Frauen standen mit aufgesperrtem Munde da. Die Mutter Bricolin legte sich die Frage vor, ob diese junge schöne Dame wohl die nämliche sei, welche sie vor ungefähr dreißig Jahren etlichemal auf dem Schlosse gesehen, obgleich sie wusste, dass die Mutter Marcelles schon lange tot sei; Frau Bricolin, die Pächterin, nahm zu ihrem Leidwesen wahr, dass sie bei ihrer Rückkunft aus der Messe eiligst eine Küchenschürze über ihr Merinokleid gebunden; Jungfer Rose aber überzeugte sich rasch, dass sie untadelhaft gekleidet und aufgeputzt sei und dass sie, dank dem Sonntag, von einer eleganten Pariserin überrascht werden dürfe, ohne bei einem allzu gemeinen Hausgeschäft betroffen zu werden.

 

Frau von Blanchemont war in den Augen der Familie Bricolin bis jetzt immer ein problematisches Wesen geblieben, welches man nie gesehen hatte und welches man sicherlich nie sehen würde. Ihren Mann hatte man gekannt, man hatte ihn aber nicht geliebt, weil er hochmütig war, nicht geachtet, weil er verschwenderisch, und nicht gefürchtet, weil er stets Geld bedurfte und sich dasselbe um jeden Preis zu verschaffen suchte. Seit er gestorben, hatte man geglaubt, man werde jetzt nur noch mit Geschäftsträgern zu tun haben, in Betracht nämlich, dass der Verstorbene, ein nicht sehr schmeichelhaftes Portrait von seiner Frau entwerfend, öfters geäußert hatte:

»Frau von Blanchemont ist ein Kind, welche sich nie mit Geschäften befasst und nie fragt, woher das Geld komme, wenn es nur da ist.«

Dabei ist noch zu bemerken, dass der gute Mann die Gewohnheit hatte, alle Verschwendung, welche ihm seine Maitreffen verursachten, auf Rechnung seiner Frau zu setzen. Man kannte demnach den wahren Charakter der jungen Witwe ganz und gar nicht, und Frau Bricolin glaubte zu träumen, als sie dieselbe plötzlich in Person mitten in den Pachthof von Blanchemont treten sah. War diese wunderliche Erscheinung für das Glück der Familie Bricolin von guter oder schlimmer Vorbedeutung? Kam sie, um Untersuchungen anzustellen und Rechenschaft zu fordern? Während die Pächterin, ihren verwirrten Gedanken überlassen, Marcelle musterte mit der Miene eines Bockes, der sich beim Anblick eines fremden Schäferhundes in Verteidigungszustand setzt, hatte Rose Bricolin, durch die liebliche Gestalt und das einfache Benehmen der Fremden schnell für sie eingenommen, den Mut gefasst, derselben einige Schritte entgegenzugehen.

Indessen zeigte die Großmutter sich am unbefangensten. Nachdem die erste Überraschung vorüber war und sie ihren altersschwachen Kopf mit der Frage angestrengt hatte, was wohl hier zu tun sei, näherte sie sich Marcelle mit derber Offenheit und hieß sie beinahe mit den nämlichen Worten, wenn auch mit weniger Herzlichkeit und Artigkeit, wie die Müllerin von Angibault, willkommen. Ihre Schwiegertochter und Enkelin beeilten sich hierauf, ein wenig beruhigt durch die sanfte und wohlwollende Art, womit Marcelle sich für zwei oder drei Tage zu Gaste bat, während welcher sie, wie sie sagte, sich mit Herrn Bricolin über ihre Angelegenheiten unterhalten wollte, die junge Witwe zum Frühstück einzuladen. Die ablehnende Antwort Marcelles stützte sich auf das treffliche Frühmahl, welches sie eine Stunde zuvor in der Mühle von Angibault eingenommen und die Erwähnung dieses Umstandes lenkte endlich die Blicke der drei Damen Bricolin auf den großen Louis, der an der Türe stehen geblieben war und ein Gespräch über Mehl mit der Magd angeknüpft hatte, um einen Vorwand zu haben, ein wenig zu zögern. Der Ausdruck der drei Weiberblicke war ein sehr verschiedener. Der Blick der Großmutter war freundlich, der ihrer Schwiegertochter höchst verächtlich, der von Rose aber unbestimmt und unbeschreiblich, wie wenn sie innerlich von gemischten Empfindungen bestürmt worden wäre.

»Wie«, schrie Frau Bricolin in beleidigendem und spöttischem Ton, nachdem Marcelle ihre Abenteuer während der vergangenen Nacht kurz geschildert hatte, »Sie sind also in der Mühle über Nacht geblieben? Und wir wussten nichts davon! Ei, warum hat Sie denn dieser Dummkopf von Müller nicht sogleich hieher gebracht? Ach, mein Gott, was für eine schlechte Nacht müssen Sie gehabt haben, gnädige Frau!«

»Im Gegenteil eine ganz gute. Ich wurde behandelt, wie eine Königin, und bin Herrn Louis und seiner Mutter sehr verpflichtet.«

»Das wundert mich nicht«, sagte die Großmutter, »die große Marie ist ja eine gar brave Frau und hält ihr Haus so reinlich! Sie ist eine Jugendgespielin von mir und wir haben, mit Ihrer Erlaubnis zu sagen, mitsammen die Schafe gehütet. Wir waren damals ein paar hübsche Märchen, obschon jetzt nichts mehr davon zu sehen ist, nicht wahr, gnädige Frau? Wir konnten weiter nichts, als spinnen, stricken und Käse machen, das war alles. Beim Heiraten gingen wir verschiedene Wege: sie nahm einen viel ärmern Mann, als sie war, und ich einen viel reicheren, als ich. Damals heiratete man sich nämlich noch aus Liebe, heutzutage aber heiratet man sich bloß noch aus Interesse, und die Taler vertreten die Stelle der Neigung. Es ist aber dadurch wohl nicht besser geworden, nicht wahr, gnädige Frau?«

»Ich bin ganz Ihrer Meinung«, versetzte Marcelle.

»Ei, Gott, Mutter, was schwatzt Ihr da an die gnädige Frau hin?« sagte die Pächterin verdrießlich. »Glaubt Ihr denn, Eure alten Geschichten werden ergötzlich für sie sein? He, Müller«, setzte sie in befehlshaberischem Ton hinzu, »geht doch und seht, ob Herr Bricolin in dem Kaninchengehege oder in seinem Haferfeld hinter dem Hause ist. Sagt ihm, er möchte herkommen, um die gnädige Frau zu begrüßen.«

»Herr Bricolin«, entgegnete der Müller mit einem hellen Blick und einer Art munteren Trotzes, »befindet sich weder im Kaninchengehege noch auf dem Haferfeld, denn ich bemerkte im Vorübergehen, dass er mit dem Herrn Pfarrer im Pfarrhaus einen Schoppen oder eine Halbe aussticht.«

»Ach ja«, sagte die Mutter Bricolin, »er wird wohl im Pfarrhof3 sein. Der Herr hat nach dem Hochamt immer großen Hunger und Durst und liebt es, wenn man ihm bei Befriedigung desselben Gesellschaft leistet. Louis, mein Sohn, sag’ mir, wärest du wohl so gefällig, ihn zu holen?«

»Auf der Stelle«, erwiderte der Müller, welcher sich bei dem Befehl der Pächterin vorhin nicht von der Stelle gerührt hatte, und lief weg.

»Wenn Ihr den da gefällig findet«, murmelte die Pächterin und warf ihrer Schwiegermutter einen zornigen Blick zu, »so seid Ihr nicht sehr wählerisch.«

»O, Mama, das kann man nicht sagen«, bemerkte mit sanfter Stimme die schöne Rose, »der große Louis hat ein gutes Herz!«

»Und was habt ihr denn mit seinem guten Herzen zu schaffen?« entgegnete die Pächterin mit wachsender Entrüstung. »Was habt denn ihr beide seit einiger Zeit mit ihm?«

»Aber, Mama. Du behandelst ihn ja seit einiger Zeit so ungerecht«, erwiderte Rose, welche, des Schutzes der Großmutter gewiss, ihre Mutter nicht sehr zu fürchten schien. »Du schnautzest ihn immer so an und weißt doch, dass der Vater viel auf ihn hält.«

»Und du noch mehr«, sagte die Pächterin, »geh’ und räume, anstatt zu räsonieren, lieber deine Kammer auf, welche das besteingerichtete Gemach im Hause ist. Die gnädige Frau wird vor dem Mittagessen noch ein wenig ausruhen wollen. Aber die gnädige Frau wird uns entschuldigen, dass sie bei uns nicht zum Besten logiert ist. Erst im vergangenen Jahre hat der selige Herr von Blanchemont seine Einwilligung gegeben, dass das neue Schloss, welches ebenso verfallen aussah wie das alte, ein wenig hergestellt werden solle, und erst seit der Erneuerung unseres Pachtes konnten wir anfangen, uns etwas besser einzurichten. Aber noch ist nichts fertig, die Zimmer sind noch nicht vollständig tapeziert und wir erwarten noch Möbeln und Betten, die von Bourges kommen sollen. Einiges ist auch schon angekommen, aber noch nicht ausgepackt. Sie finden uns überhaupt in einem rechten Wirrwarr, denn die Arbeitsleute haben alles drunter und drüber gemacht.«

Die Unordnung im Innern des Hauses, welche Frau Bricolin in gemeldeter Weise eingestand, hatte die nämlichen Ursachen, wie die, welche Marcelle außerhalb des Hauses wahrgenommen hatte. Sparsamkeit mit Trägheit verbunden verhinderte die nötigen Ausgaben und schob den Augenblick, in welchem man sich eines Luxus, den man wünschte, den man vermochte und sich dennoch nicht zu gestatten wagte, erfreuen wollte, stets auf ungewisse Zeit hinaus.

3Es findet sich hier im Originale ein durch einen sprachlichen Irrtum der Mutter Bricolin veranlasstes Wortspiel zwischen presbytère und précipitère, welches im Deutschen verloren gehen musste. A. d. Übers.