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Der Müller von Angibault

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Als sie denselben Herrn Bricolin vorgelesen, war dieser von der Bestimmtheit des Dokumentes überrascht, welches er nicht hätte zustande bringen können, dessen Gültigkeit und Folgerichtigkeit er aber wohl verstand.

›Der Teufel hole die Weiber!‹ dachte er. ›Man sagt mit Recht, dass, wenn sie sich einmal mit Geschäften befassen, sie die Abgeführtesten von uns übertreffen. Ich weiß recht wohl, wenn ich dann und wann meine Frau um Rat frage, so bemerkt sie auf der Stelle, wo zu meinem Nutzen oder zu meinem Schaden eine Hintertüre offen bleibt. Ich wollte, sie wäre hier! Doch nein, sie würde uns mit ihren Einwürfen nur aufhalten. Wir werden sehen, wenn’s ans Unterzeichnen geht. Wer möchte wohl glauben, dass die junge Dame da, welche eine Romanleserin, eine Republikanerin mit verbranntem Gehirn ist, fähig wäre, eine Verrücktheit so hübsch klug zu begeh’n? Ich werde vor Erstaunen noch den Kopf verlieren. Trinken wir noch ein Glas Wasser! Puah! Ist das schlecht! Wie viel guten Wein werde ich nach Beendigung dieses Handels trinken müssen, um meinen Magen wieder einzurichten!‹

31. Kapitel.
Hintergedanken

»Dagegen glaube ich nichts einwenden zu müssen«, bemerkte Herr Bricolin, nachdem er sich das Dokument zum zweiten und dritten Mal hatte vorlesen lassen, wobei er mit seinen Augen, welche bei jeder Zeile größer und heller wurden, der Vorleserin folgte. »Nur etwas Unbedeutendes ist noch nachzuholen, bezugs des Kaufpreises nämlich, gnädige Frau, In Wahrheit, er ist um zwanzigtausend Francs zu hoch. Ich dachte nicht gleich daran, welchen Schaden mir die Heirat meiner Tochter mit diesem Müller zufügen könnte. Man wird sagen, ich sei ruiniert, weil ich sie so jammerwürdig verheirate. Das wird meinem Kredit wehtun. Dann hat dieser Bursche nicht einmal so viel, um die Hochzeitsgeschenke zu kaufen. Das ist auch noch eine Ausgabe von acht- bis zehntausend Francs, welche mir zur Last fallen wird. Rose kann ohne eine hübsche Aussteuer das Haus nicht verlassen und ich bin überzeugt, dass sie darauf hält.«

»Und ich, ich bin überzeugt, dass sie nicht darauf hält«, entgegnete Marcelle. »Hören Sie, Herr Bricolin, hören Sie sie?«

»Ich höre sie nicht, gnädige Frau, und ich glaube, Sie täuschen sich.«

»Ich täusche mich nicht«, versetzte Marcelle und öffnete die Türe. »Sie leidet, sie schluchzt und ihre Schwester schreit! Wie, Sie zaudern, Herr? Sie haben ein Mittel gefunden, sich zu bereichern und zugleich Ihrer Tochter Gesundheit, Vernunft, vielleicht sogar das Leben wiederzugeben, und in einem solchen Augenblick denken Sie noch daran, etwas mehr zu profitieren! Wahrhaftig«, setzte sie unwillig hinzu, »Sie sind kein Mensch. Sie haben kein Herz in der Brust! Nehmen Sie sich in acht, dass ich mich nicht anders besinne und Sie dem Missgeschick überlasse, welches über Ihrer Familie hängt, wie eine Züchtigung des Himmels wegen Ihrer Habsucht.«

Von diesem heftigen Ausbruch verstand der Pächter nur die Drohung, den Handel rückgängig zu machen.

»Nun, gnädige Frau, lassen Sie mir zehntausend Francs nach und die Sache ist abgemacht.«

»Adieu«, sagte Marcelle. »Ich will zu Rose gehen. Fassen Sie Ihren Entschluss, der meinige ist gefasst: ich werde durchaus nichts in meinen Bedingungen ändern. Ich habe einen Sohn und vergesse nicht, dass ich um anderer willen nicht allzu viel opfern darf.«

»Bleiben Sie doch, gnädige Frau, und lassen Sie die arme Rose schlafen: sie ist krank!«

»So gehen Sie selbst zu ihr«, sagte Marcelle mit Feuer: »Sie können sich dann überzeugen, dass sie nicht schläft. Vielleicht erinnert Sie ihr Weh auch daran, dass Sie ihr Vater sind.«

»Ich erinnere mich dessen wohl«, entgegnete Bricolin, erschreckt von dem Gedanken, Marcelle könnte bei reiflicherem Nachdenken ihren Entschluss ändern. »Kommen Sie, gnädige Frau, wir wollen die Urkunde ausfertigen, damit wir dann Rose die Neuigkeit mitteilen und sie damit gesund machen können.«

»Ich erwarte, mein Herr, dass Sie ihr Ihre Zustimmung ganz einfach eröffnen, damit sie nicht erfahre, ich hätte dieselbe erkauft.«

»Sie wollen also nicht, dass sie wisse, es sei dies eine zwischen uns abgemachte Bedingung? Das ist mir ganz recht. Dann ist es auch überflüssig, dass sie diese Schrift unterzeichnet.«

»Verzeihung, sie wird dieselbe unterzeichnen, ohne sie recht zu verstehen. Mein Opfer wird als eine Art von Mitgift erscheinen, welche ich ihrem Verlobten gegeben.«

»Das kommt auf eins heraus. Doch mir ist’s gleich. Rose ist gescheit genug, um einzusehen, dass ich sie nicht so einfältig verheiraten kann, ohne ihr für die Zukunft einige Vorteile zu sichern. Aber wie ist’s mit der Bezahlung, gnädige Frau? Sie verlangen wohl, dass dieselbe bar geleistet werde?«

»Sie sagten mir ja, dass Sie es wohl imstande seien.«

»Gewiss, das bin ich. Ich habe unlängst eine weitläufige Meierei verkauft, welche mir zu weit aus den Augen lag, und habe ungefähr vor acht Tagen dieselbe ganz bar bezahlt erhalten, was hier zu Lande eine Seltenheit ist; aber mein Käufer ist ein großer Herr und die haben immer volle Geldkisten. Es ist ein Pair von Frankreich, der Herr Herzog von ***, welcher seine Besitzungen arrondieren und aus meiner Meierei einen Park machen will. Sie kam ihm gelegen und ich meinerseits habe, wie billig, teuer verkauft.«

»Mir gleich… Sie haben Staatspapiere?«

»Ich habe sie hier in meinem Taschenbuch in lauter hübschen Banknoten«, erwiderte Bricolin mit gedämpfter Stimme. »Ich will sie Ihnen zeigen, damit Sie ohne Sorgen sind.«

Und nachdem er die Türe verriegelt hatte, zog er ein ungeheures Taschenbuch von schmierigem Leder aus seinem Gürtel, öffnete es und zeigte Marcelle eine Anzahl von Anweisungen auf die Bank von Frankreich. Dann sagte er, erstaunt über die gleichgültige Miene, womit Marcelle die Billets zählte:

»Es macht einen zittern, so viel Geld auf einmal in Händen zu haben! Zum Glück gibt es keine Raubmordbrenner mehr und man kann es also riskieren, eine solche Summe einige Tage zu behalten, ohne sie anzulegen. Ich trage sie den ganzen Tag bei mir und des Nachts lege ich sie unter mein Kopfkissen und schlafe darauf. Es verlangt mich sehr darnach, mich davon zu befreien! Wenn ich nicht so schnell mit Ihnen ins Reine gekommen wäre, hätte ich mir eine eiserne Kiste angeschafft, um das Geld darein zu verschließen, bis ich’s hätte anlegen können, denn einem Notar oder einem Bankier es anvertrauen… nein, so dumm bin ich nicht! Ich wollte daher, wir könnten unsern Handel heute Abend noch ausmachen, damit ich diesen Schatz nicht länger zu hüten hätte.«

»Ich hoffe, wir werden schnell damit zustande kommen«, bemerkte Marcelle.

»Aber wie? Ohne jemand zu beraten? Und meine Frau? Und mein Notar?«

»Ihre Frau ist ja nur ein paar Schritte von hier entfernt, was aber Ihren Notar betrifft, so muss ich, wenn Sie den Ihrigen rufen lassen, auch den meinigen rufen lassen.«

»Diese Teufel von Notaren verderben alles, glauben Sie mir, gnädige Frau. Unser Vertrag ist ganz in Ordnung und es würde uns nur teufelmäßig viel kosten, ihn in das Notariatsprotokoll einregistrieren zu lassen.«

»Übergehen wir also diese Förmlichkeit. Ich verkaufe Ihnen, wie man zu sagen pflegt, von der Hand in die Hand.«

»Aber es ist ein gar wichtiger Handel! ‘S ist dennoch bedenklich! Und dann es ist bei alledem nur ein Versprechen… wie wär’ es, wenn wir unterzeichneten?«

»Es ist ein Versprechen, das so viel wert ist, wie ein Vertrag. Ich bin übrigens bereit, zu unterzeichnen. Holen Sie Ihre Frau!«

›Das muss sein‹, dachte Bricolin; ›wenn sich nur die Dame nicht zum Besinnen Zeit nimmt und der Wind während des Streites, den Thibaude vielleicht mit mir anfangen wird, sich nicht dreht.‹

Dann fragte er:

»Sie wollen inzwischen zu Rose gehen, gnädige Frau Marcelle? Sagen Sie ihr aber noch nichts!«

»Ich werde mich wohl hüten, aber Sie gestatten mir wohl, ihr einige Hoffnung auf Ihre Einwilligung zu machen?«

»Wie die Sachen jetzt stehen«, meinte Bricolin, »mögen Sie das immerhin tun.«

Seine Schlauheit sagte dem Pächter, dass der Anblick Roses und ihrer Tränen das beste Mittel sei, Marcelle in ihren großmütigen Entschlüssen zu erhalten.

Herr Bricolin traf seine Frau in einer ganz andern Stimmung, als er erwartet hatte.

Die Pächterin war hart und zänkisch, allein, wenn schon bezugs der Einzelheiten des Lebens geiziger als ihr Mann, war sie vielleicht dennoch im Ganzen weniger habsüchtig als er. Bitterer in ihren Worten und scheinbar gefühlloser, war sie dennoch bei Gelegenheit einer guten Regung viel zugänglicher als er. Zudem war sie Weib und Mutter, und das mütterliche Gefühl regte sich, wenn auch unter rauen Formen verborgen, dessen ungeachtet lebhaft in ihrem Busen.

»Herr Bricolin«, sagte sie, ihrem Mann entgegenkommend und sich mit ihm in die Küche einschließend, welche von einem einzigen armseligen Licht erleuchtet wurde, »du siehst mich höchst bekümmert. Rose ist viel kränker, als du glaubst. Sie tut nichts als schreien und weinen, wie wenn sie letz im Kopf geworden wäre. Sie liebt den Müller: das ist wie eine Strafe Gottes für unsere Sünden! Aber das Übel ist einmal geschehen, ihr Herz ist gefangen und sie ist gerade so wie ihre Schwester, als diese anfing, aus dem Häuschen zu kommen23. Andererseits droht uns die andere, unerträglich zu werden. Der Arzt verlangte, als er bemerkte, wie sie Miene machte, die Türe zu sprengen, man solle sie hinaus und nach ihrer Gewohnheit im Park und im alten Schlosse umherirren lassen. Er sagte, sie sei es nun einmal gewöhnt, allein und immer in Bewegung zu sein, und wenn man sie einsperre und ihr die Gegenwart von Menschen aufdränge, so könnte sie rasend werden. Aber ich zittere vor dem Gedanken, sie möchte sich ermorden. Sie scheint so boshaft heute Abend! Sie, die sonst nie spricht, redet jetzt immerfort von allem, was sie ausgestanden. Mir tut der Magen davon weh. Es ist entsetzlich, so zu leben. Und wenn man bedenkt, dass das alles von einer widerwärtigen Liebe herkommt! Wir haben doch alle unsere Töchter gleich gut erzogen. Die übrigen haben sich verheiratet, wie wir wollten, sie machen uns Ehre, sie sind reich, sie sind gescheit genug, sich glücklich zu fühlen, obgleich ihre Männer nicht gar zärtlicher Natur sind. Aber die älteste und die jüngste haben Köpfe von Eisen, und da wir das Unglück hatten, nicht zu verstehen, was die eine zugrunde richten könnte, so müssen wir so gescheit sein, der andern nicht entgegen zu sein. Ich wollte freilich lieber, sie wäre gar nicht geboren, als dass sie den Müller heiratet. Allein sie will ihn einmal, und da ich sie lieber tot als verrückt sehen möchte, so muss man sich darnach richten. Ich sage dir deshalb, Herr Bricolin, dass ich meine Einwilligung gebe, und dass du die deinige wohl ebenfalls geben musst. Ich sagte auch bereits zu Rose, dass ich ihr nicht hinderlich sein werde, wenn sie partout diesen Burschen heiraten wolle. Das schien sie zu beruhigen, obgleich es den Anschein hatte, als verstehe und glaube sie es nicht. Du musst gleichfalls zu ihr gehen und ihr das Nämliche sagen.«

 

»Wie gut sich das trifft!« schrie Bricolin entzückt. »Wart’ ‘mal, Frau, lies mir doch das Ende dieser Schrift da, ob nichts fehle.«

»Ich bin wie aus den Wolken gefallen«, sagte die Pächterin, nachdem sie gelesen. Und nach einigen ähnlichen Ausrufungen nahm sie alle Kälte ihres Willens zusammen, um den Vertrag noch einmal mit der Aufmerksamkeit eines Sachwalters zu lesen. Dann bemerkte sie: »Diese Schrift ist hinreichend für dich, Bricolin. Du brauchst niemand deshalb zu konsultieren. Du brauchst nur zu unterzeichnen. Das ist barer Profit, bares Glück! Es fördert unsere Umstände und stellt Rose zufrieden. Wahrhaftig, man sagt mit Recht, dass einem der gute Gott jeden guten Vorsatz vergelte. Ich hatte mich entschlossen, sie ihrem Liebhaber umsonst zu geben, und jetzt werden wir so gut dafür bezahlt! Unterzeichne, unterzeichne, Alter, und zahle! Damit ist der Vertrag vollzogen und man kann nichts mehr daran rückgängig machen.«

»Schon zahlen? So handlich! Auf einen Fetzen Papier hin, welcher nicht einmal von einem Notar verfasst ist?«

»Zahle, sag’ ich dir, und bestelle morgen früh das Aufgebot der Hochzeitsleute!«

»Aber wenn man die Kleine zur Vernunft bringen könnte? Vielleicht befindet sie sich morgen wieder wohl und willigt ein, einen andern zu nehmen, wenn man ihr vernünftig zuredet und du sie gescheit behandelst. Man könnte dann sagen, dass ein solcher Vertrag von meiner Seite eine Narrheit sei, eine Dummheit, welche meine Tochter zu nichts verpflichten kann.«

»Gut, dann wäre der Kauf ungültig!«

»Weiß es, aber man könnte einen Prozess anfangen.«

»Den würdest du verlieren!«

»Weiß es wohl, aber was tut’s? Der Kauf wäre suspendiert, ein Prozess lässt sich hinausspinnen und du weißt, Frau von Blanchemont kann nicht lange warten. Sie würde sich zu einem für uns günstigen Vergleich genötigt sehen.«

»Bah, geh’ mir mit solchen Geschichten, sie taugen nichts, Herr Bricolin. Man büßt dabei nur Ehre und Kredit ein und ’s ist immer Profit bei schnellabgemachten Händeln.«

»Nun wohl, will sehen, Thibaude! Geh’ also immerhin und sage deiner Tochter, die Sache sei abgemacht. Vielleicht wird sie, wenn sie sieht, dass man ihr nicht mehr entgegen ist, sich nicht mehr so viel um ihren großen Louis kümmern … gib nur Acht! Aber sag’ ‘mal, hat der Müller diese Sache nicht verflucht gut dressiert? Er hat Mittel gefunden, den Schutz und die Freundschaft dieser Dame zu gewinnen, ich weiß nicht wie. Der Teufelskerl ist nicht so dumm!«

»Tut nichts, ich werde ihn mein Lebelang verabscheuen«, versetzte die Pächterin. »Aber das ist einerlei: im Falle nur Rose nicht wird wie ihre Schwester. Ich werde ihren Mann kaltsinnig genug behandeln, aber das Maul halten.«

»Oh, ihr Mann, ihr Mann!… Er ist es noch nicht.«

»Das ist eine abgemachte Sache, Bricolin; unterzeichne!«

»Und du? Musst du nicht ebenfalls unterzeichnen?«

»Ich bin bereit dazu.«

Frau Bricolin trat entschlossen in das Zimmer ihrer Tochter, wo Marcelle wartete, und unterzeichnete nebst ihrem Manne auf einer Ecke der Kommode den Vertrag.

Als es geschehen war, sagte Bricolin ganz leise und mit einem Blicke wilden Triumphes zu seiner Frau:

»Thibaude, der Kauf ist richtig, aber die Bedingung ist nichtig! Du weißt das nicht, du, die alles zu wissen glaubt.«

Rose hatte fortwährend Fieber und unerträgliche Kopfschmerzen, allein seit die Wahnsinnige weg war und man sie nicht mehr schreien hörte, beruhigten sich ihre Nerven.

Als Marcelle unterzeichnet hatte und die Feder ihrer jungen Freundin hinbot, begriff diese nur mit Mühe, um was es sich handelte. Als sie es aber begriffen hatte, brach sie in Tränen aus, warf sich voll Rührung in die Arme ihres Vaters, ihrer Mutter und ihrer Freundin, wobei sie dieser ins Ohr flüsterte:

»Himmlische Marcelle, ich nehme das Geschenk an und werde eines Tages reich genug sein, um es Ihrem Sohne zurückbezahlen zu können.«

Die Großmutter Bricolin allein wusste das edelmütige Benehmen Marcelles zu würdigen. Sie warf sich vor ihr nieder und umfasste ihre Knie, ohne ein Wort zu sagen.

»Es ist jetzt noch nicht sehr spät«, sagte Marcelle leise zu ihr, »erst zehn Uhr. Der große Louis ist vielleicht noch im Weiler, und wäre dies nicht, so ist’s ja nicht weit nach Angibault. Wenn man ihn holen ließe? Ich wage nicht, das vorzuschlagen, aber man könnte es vielleicht einrichten, dass er wie durch Zufall käme und so sein Glück erführe.«

»Das nehme ich auf mich«, erwiderte die Greisin, »und müsste ich selbst nach der Mühle gehen. Das macht meine Beine so leicht, wie die einer Fünfzehnjährigen.«

Mit diesen Worten machte sie sich in der Tat auf den Weg nach dem Dorfe, allein sie fand den Müller nicht daselbst. Sie wollte nun einen der Pächterknechte an ihn absenden, doch alle lagen, total betrunken, schlafend in ihren Betten oder in der Schenke, unfähig, sich zu rühren. Die kleine Fanchon war einerseits viel zu furchtsam, um sich bei Nacht über Feld zu wagen, und andererseits durfte man das junge Mädchen an einem Kirchweihabend nicht wohl der Begegnung von allerlei rohem Volk aussetzen. Die Großmutter ging also auf der jetzt beinahe menschenleeren Gemeindewiese umher, um einen hinlänglich sichern und verständigen Boten aufzufinden, als der Vetter Cadoche, aus der Vorhalle der Kirche tretend, wo er sein Abendgebet hergemurmelt hatte, plötzlich auf sie zutrat.

32. Kapitel.
Der Patachon

»Ihr geht noch spät spazieren, Frau Bricolin«, redete der Bettler die Greisin an, »und scheint jemanden zu suchen. Eure Enkelin ist aber schon lange heimgegangen. Ihr Papa hat ihr heute nicht schlecht mitgespielt, das muss man sagen!«

»Schon recht, schon recht, Cadoche«, entgegnete die Greisin, »ich habe kein Geld bei mir; aber ich meine, du hättest das Deinige heute schon bei uns empfangen.«

»Ich will auch nichts von Euch, Meine Tagesarbeit ist getan, ich habe heut’ Abend drei Gläschen getrunken und das ist gerade recht. Ich wünsche Euch gute Nacht und will mir zu Angibault eine Liegerstatt suchen.«

»Zu Angibault? Cadoche, Alterle, du gehst nach Angibault?«

»Warum nicht? Mein Haus ist mehr als zwei Meilen von da, und ich mag mir nicht noch die Beine müdlaufen. Ich will die Nacht bei meinem Neffen, dem Müller, zubringen, ich bin dort immer wohl aufgenommen und man legt mich nicht aufs Stroh, wie anderwärts, z. B. bei Euch, und Ihr seid doch den Mordbrennern zum Trotz noch immer reich! Bei meinem Neffen darf ich in einem Bett in der Mühle schlafen, ohne dass man besorgt, ich möchte Feuer einlegen … wie bei Euch, wo man, wenn man kein Feuer auf den Füßen spürt, Feuer im Kopf hat.«

Die Anspielung des Bettlers auf die Katastrophe, deren Opfer ihr Gatte geworden, machte die Großmutter schauern, allein sie bemühte sich, nur an ihre Enkelin und an bessere Zeiten zu denken.

»Du gehst also zu dem großen Louis?« fragte sie den Bettler.

»Allerdings, ich gehe zu meinem besten Neffen, zu meinem wahren Neffen und künftigen Erben.«

»Wart’ ‘mal, Cadoche! Da du so gut aufgelegt und ein so großer Freund von Louis bist, so könntest du demselben einen großen Dienst erweisen, ’s ist eine pressante Sache und ich sollte notwendig mit ihm reden. Sag’ ihm das und dass ich ihn am großen Hoftor erwarte. Er soll sich auf seine Stute setzen, damit er schneller kommen kann.«

»Auf seine Stute? Er hat sie nicht mehr, man hat sie ihm gestohlen.«

»Einerlei, wenn er nur kommt, sei’s auf welche Art es wolle. Die Sache ist sehr wichtig.«

»Was ist’s denn?«

»Ah, man soll es dir erst explizieren! Hör’, Cadoche, du könntest dir da ein neues Zwanzigsousstück verdienen, das du morgen abholen kannst.«

»Um welche Zeit?«

»Wann du willst«

»Ich will um sieben Uhr kommen, aber lasst mich nicht warten.«

»Geh’ nur!«

»Ich gehe und werde in drei Viertelstunden dort sein. Ei, Mutter Bricolin, ich habe bessere Beine als Euer Mann, und doch habe ich zehn Jahre mehr auf dem Buckel.«

Der Bettler machte sich hiemit in der Tat rasch genug auf den Weg, Er näherte sich bereits Angibault, als er an einer schmalen Stelle des Weges von der Kalesche des Herrn Ravalard eingeholt wurde, die in raschem Trabe von dem rothaarigen, boshaften Patachon kutschiert wurde.

Der Patachon hielt es für überflüssig, dem Bettler eine Warnung zuzurufen und trieb seine Pferde auf ihn ein. Es ist der Würde eines Bauers aus dem Berry durchaus zuwider, jemals einem Gefährt auszuweichen, man mag ihn warnen wie man will, und es mag für den Fahrenden so schwierig sein auszuweichen, als es nur immer sein kann.

Vetter Cadoche war so stolz als irgendeiner im Lande und gewohnt, jeden, dem er seine bettelnde Hand hinstreckte, mit einer gewissen ernsthaften Komik von oben herab zu behandeln, mäßigte er jetzt absichtlich seinen Schritt und blieb mitten auf dem Wege, obgleich er den heißen Atem der Pferde in seinem Nacken fühlte.

»Aus dem Wege, Rindvieh!« schrie endlich der Patachon und versetzte dem Bettler einen tüchtigen Peitschenhieb ins Gesicht. Der Bettler wandte sich um, fiel den Pferden in die Zügel und stieß sie so gewaltig rückwärts, dass sie die Kalesche gegen den Graben hindrängten. Nun begann zwischen ihm und dem Patachon ein verzweifelter Kampf. Der Patachon schwang fortwährend seine Peitsche und erschöpfte seine Lunge in grässlichen Flüchen, der alte Cadoche aber deckte sich durch die Köpfe der Pferde gegen die Hiebe und drängte das Gespann unausgesetzt rückwärts.

Herr Ravalard seinerseits hatte anfangs die Miene eines großen Herrn angenommen, wie es einem zukommt, der zum ersten Mal in seinem Leben in einer Kutsche fährt. Auch er fluchte gewaltig gegen den Unverschämten, der ihn aufzuhalten wage, dann aber, als er sah, dass der Greis tollkühn einer wirklichen Gefahr Trotz biete, gewann das gute Herz des Berrichon über den Stolz des Emporkömmlings den Sieg und er rief dem Patachon zu, indem er sich aus der Kalesche vorbeugte:

»Nimm dich in Acht und tue dem armen Menschen kein Leid an!«

Allein es war zu spät. Die Pferde, durch die Peitschenschläge auf der einen und das Zurückstoßen auf der andern Seite außer sich gebracht, machten einen wütenden Anlauf und warfen den Bettler zu Boden. Infolge des bewundernswerten Instinkts dieser edlen Tiere setzten sie zwar über ihn weg, ohne ihn zu berühren, allein die beiden Räder des Wagens schnitten ihm über die Brust. Der Weg war öde und die Dunkelheit zu groß, als dass Herr Ravalard den hinter seiner rasch davonjagenden Kalesche auf dem Boden liegenden Bettelmann hätte bemerken können. Der Patachon seinerseits vermochte die Pferde nicht mehr zu zügeln, der Bourgeois war anfangs nur mit seiner Angst, umgeworfen zu werden, beschäftigt, und als das Gespann endlich in einen langsameren Schritt gebracht werden konnte, hatte man den Bettler schon weit hinter sich.

»Ich hoffe, du hast ihn nicht überfahren«, sagte Herr Ravalard jetzt zu seinem Kutscher, welcher noch vor Furcht und Zorn bebte.

 

»Nein, nein!« versetzte der Patachon, von seiner Behauptung überzeugt oder nicht. »Er ist auf die Seite gefallen, seine eigene Schuld! Der alte Hund! Aber die Pferde haben ihn nicht berührt und es hat ihm nicht wehgetan, denn er hat nicht geschrien. Er ist diesmal mit der Furcht davongekommen und es wird ihm dies zur Warnung dienen.«

»Aber wenn wir umkehrten, um nach ihm zu sehen?« meinte Herr Ravalard.

»O, nicht doch, nicht doch, Herr! Solche Leute hängen einem gleich eine Klage an den Hals. Er würde sich nichts daraus machen, sich beschädigt zu stellen, um Ihnen Geld abzuzwacken. Hat doch ein solcher Kerl einmal die Geduld gehabt, vierzig Tage im Bett zu bleiben, um von meinem Herrn sich für verlorenes Taglohn entschädigen zu lassen, und er war nicht kränker als ich.«

»Ja, diese Leute sind schlau«, erwiderte Herr Ravalard. »Indessen wollt’ ich doch lieber keine Kalesche haben, als irgendjemand überfahren. Ein andermal, Kleiner, muss man lieber stillhalten, als sich mit solchen Menschen in Händel einlassen.«

Der Patachon, welcher sich nicht um die Folgen des Abenteuers kümmerte, obgleich er nicht frei von Schrecken und Gewissensbissen war und den ganzen Weg über Flüche zwischen den Zähnen murmelte, peitschte auf seine Pferde los, um sich rascher aus dem Staube zu machen.

23Der Übersetzer gibt die Provinzialismen und Bauernausdrücke des Originals fortwährend mit entsprechenden des schwäbischen Dialekts, wie er es auch bei Übertragung der Jeanne von George Sand getan. A. d. Ü.