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Der Müller von Angibault

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Dies ereignete sich vor nicht gar langer Zeit, möglicherweise im vergangenen Jahre.

Da Marcelle ihres Vaters Brudersohn geheiratet hatte, so trug sie vor, wie nach ihrer Verehelichung, den Namen Blanchemont. Das Gut und das Schloss Blanchemont machten einen Teil ihrer Erbschaft aus. Die Besitzung war sehr bedeutend, allein das Schloss, schon seit mehr als hundert Jahren den Pächtern überlassen, wurde nicht einmal mehr von diesen bewohnt, weil es einzustürzen drohte und seine Wiederherstellung als zu kostspielig erschien. Früh verwaist, zu Paris in einem Kloster erzogen, sehr jung verheiratet und von ihrem Gatten nicht in die Verwaltung ihres Vermögens eingeweiht, hatte Frau von Blanchemont diese Besitzung ihrer Ahnen nie gesehen. Jetzt, da sie entschlossen war, Paris zu verlassen und auf dem Lande ein den von ihr gefassten Entschlüssen zuständiges Leben zu führen, wollte sie ihre Pilgerschaft mit einem Besuch auf Blanchemont beginnen, um sich, wenn ihr der Aufenthalt gefiele, später dort niederzulassen. Sie wusste um den Verfall ihres Schlosses und es war dies ein Grund mehr für sie, ihre Blicke auf diesen Ort zu richten. Die Verwirrung, in welcher ihr Mann ihre Angelegenheiten hinterlassen, und die Unordnung, in welcher sich nach seinem Tode seine eigenen vorfanden, dienten ihr zum Vorwand, diese Reise zu unternehmen, deren Dauer, wie sie sagte, sich auf wenige Wochen beschränken sollte, während sie in ihren Gedanken weder einen bestimmten Zweck, noch eine bestimmte Frist festsetzte. Ihre wahre Absicht war, Paris zu verlassen und die Lebensweise zu beginnen, welche sie sich vorgesetzt. Zum Glück für ihre Absichten, hatte sie niemand in ihrer Familie, welcher sich’s in den Kopf setzen konnte, sie begleiten zu wollen. Als einzige Tochter brauchte sie sich nicht gegen den unerwünschten Schutz einer Schwester oder eines älteren Bruders zu verteidigen. Die Eltern ihres Mannes waren sehr betagt und, nicht wenig erschrocken über die Schulden des Verstorbenen, welche nur durch kluge Anordnungen getilgt werden konnten, waren sie zugleich erstaunt und erfreut, als sie eine Frau von zweiundzwanzig Jahren, welche bisher wenig Geschick und Geschmack für Geschäfte verraten, den Entschluss fassen sahen, ihre Angelegenheiten selbst zu führen und sich mit eigenen Augen von dem Zustand ihrer Besitzungen zu überzeugen. Indessen erhoben sich dennoch einige Besorgnisse, sie so allein mit ihrem Kinde reisen zu lassen, und man wollte, dass ihr Geschäftsträger sie begleiten sollte. Man fürchtete auch, das Kind möchte eine in der heißesten Jahreszeit unternommene Reise nicht ertragen können. Marcelle hielt ihren Schwiegereltern entgegen, dass ein so verlängertes Tête-à-tête mit einem alten Mann nicht eben ein annehmliches Mittel gegen die Langeweile sei, welcher sie sich unterziehen wolle, dass sie bei den Notaren und Sachwaltern der Provinz genauere Nachweisungen und der Örtlichkeit mehr angepasste Ratschläge finden könnte und dass es endlich keine so gar schwierige Aufgabe sein werde, mit den Pächtern abzurechnen und die sonst nötigen Anordnungen zu treffen. Was das Kind betreffe, so werde es in der Pariser Luft immer schwächlicher. Der Aufenthalt auf dem Lande, Bewegung und Sonne würden ihm gewiss wohltun. Kurz, die junge Witwe wusste gegenüber den Bedenklichkeiten ihrer Schwiegereltern das ihr zugesicherte Recht der Vormundschaft über ihren Sohn geltend zu machen, wusste so kenntnisvoll über Schulden- und Hypothekenwesen, sowie über die hiemit in Verbindung stehenden Pachtverhältnisse sich zu verbreiten, verstand so geschickt den Umstand hervorzuheben, dass sie sich notwendig mit eigenen Augen von ihren Vermögensverhältnissen Wissenschaft verschaffen müsse, um zu erfahren, auf welchem Fuß sie künftig leben dürfe, ohne die Zukunft ihres Sohnes zu beeinträchtigen – dass sie den Sieg über alle Einwürfe davontrug und ihre ganze Familie dahin brachte, ihren Entschluss nicht nur zu billigen, sondern auch zu loben, umso mehr, da ihr Verhältnis zu Heinrich so geheim geblieben war, dass nicht der geringste Verdacht das Zutrauen ihrer Schwiegereltern schwächte.

Aufgeregt durch ungewohnte Tätigkeit, sowie durch enthusiastische Hoffnung, schlief Marcelle in der folgenden Nacht nicht viel besser, als in der ihrer Zusammenkunft mit Lemor. Sie versenkte sich in die seltsamsten, ebenso lachenden, als peinlichen Träumereien. Sie erwachte schon mit der Morgendämmerung und einen träumerischen Blick über ihr Gemach hinwerfend, wurde sie zum ersten Mal von dem unnützen, verschwenderisch um sie her verstreuten Luxus betroffen, von all’ den Atlastapeten, den Vergoldungen, den Möbeln von äußerster Üppigkeit und äußerster Pracht, von den zahllosen Putzsachen, von all’ dem Porzellan, den Skulpturen und andern glänzenden Spielereien, welche heutzutage das Zimmer einer eleganten Frau anfüllen. ›Ich möchte wohl wissen‹, dachte sie, ›warum wir die unterhaltenen Weiber so sehr verachten. Sie verschaffen sich, was wir selbst uns nicht verschaffen können; sie opfern ihre Unschuld hin, um in den Besitz derartiger Spielereien zu kommen, welche in den Augen ernsthafter und gebildeter Frauen gar keinen Wert haben sollten und ohne welche wir dennoch nicht existieren zu können vermeinen, Sie haben den nämlichen Geschmack, wie wir, und würdigen sich nur herab, um ebenso reich und glücklich, wie wir, zu erscheinen. Bevor wir sie verdammen, sollten wir ihnen das Beispiel eines einfachen und redlich angewandten Lebens geben. Würde man wohl, wenn man unsere unauflöslichen Ehen mit ihren vorübergehenden Verbindungen vergleicht, bei den jungen Mädchen unseres Standes eine größere Uneigennützigkeit finden? Würde man nicht auch bei uns, ganz wie bei den Prostituierten, oftmals ein Kind an einen Greis gefesselt sehen, die Schönheit entweiht durch die Hässlichkeit des Lagers, den Geist der Borniertheit unterworfen, und das alles aus Begierde nach einem Kopfputz von Diamanten, nach einer Karosse, nach einer Loge in der Italienischen Oper? Arme Mädchen! Man sagt, ihr verachtet eurerseits uns ebenfalls, ihr habt völlig das Recht dazu!‹

Der jetzt blau und rein durch die Vorhänge dringende Tag ließ das Gemach, in dessen mit ausgesuchtem Geschmack bewerkstelligter Ausschmückung Frau von Blanchemont sich sonst gefallen hatte, wahrhaft bezaubernd erscheinen, Sie hatte fast immer abgesondert von ihrem Manne gelebt und dieses so keusche, so mädchenhaft frische Kloset, welches Heinrich niemals zu betreten gewagt, rief ihr nur schwermütig süße Erinnerungen zurück. Hier hatte sie, die Gesellschaft fliehend, gelesen und geträumt unter dem Dufthauch der unvergleichlich schönen Blumen, wie man sie nur in Paris findet und wie sie heutzutage einen Teil des Lebens vornehmer Frauen ausfüllen. Sie hatte sich in diese poetische Einsamkeit geflüchtet, so oft sie immer konnte, und das mit eigener Hand verzierte und verschönerte Gemach gleichsam als ein geheimnisvolles Asyl betrachten gelernt, wo das Weh ihres Lebens und die Stürme ihrer Gefühle sich jederzeit sänftigten in der Sammlung des Gebetes.

Jetzt ging sie, mit Blicken der Zuneigung umhersehend, in diesem Kloset auf und ab, bis sie unwillkürlich die Formel eines Lebewohl für immer an diese stummen Zeugen ihres geheimen Lebens richtete, eines Lebens, das sie so verborgen verbracht, wie die Blume, welche nicht versucht, sich zur Sonne emporzurichten, sondern aus Liebe zum Schatten und zur Frische ihr Haupt unter den Blättern birgt.

›Aufenthaltsort meiner Wahl, all’ ihr prächtigen, meinem Geschmack zusagenden Gegenstände‹, dachte sie, ›ich habe euch geliebt; aber fürder kann ich euch nicht mehr lieben, denn ihr seid die Begleiter und Genossen des Reichtums und des Müßiggangs. Ihr stellt in meinen Augen jetzt nur noch das vor, was mich von Heinrich trennt, und ich vermag euch nicht mehr ohne Widerwillen und Bitterkeit anzusehen. Verlassen wir uns also, bevor wir einander gehässig werden. Du, ernstliebliche Madonna, wirst aufhören, mich zu beschützen, ihr, helle und reine Spiegel, könntet mich mein eigenes Bild verabscheuen machen, ihr, prächtige Blumenvasen, habt hinfort für mich weder Schönheit noch Duft mehr!‹ – Hierauf schlich sie, bevor sie, wie sie zu tun beschlossen hatte, an Heinrich schrieb, auf den Fußspitzen zu der Wiege ihres Sohnes, um seinen Schlaf zu betrachten und zu benedeien. Der Anblick des bleichen Kindes, dessen geistige Entwicklung die Entfaltung seiner körperlichen Kräfte weit überflügelt hatte, flößte ihr eine leidenschaftliche Rührung ein. Sie sprach in ihrem Herzen mit ihm, als ob es in seinem Schlafe die mütterlichen Gedanken hätte hören und verstehen können.

»Sei ruhig«, sagte sie, »ich liebe ihn nicht inniger als dich. Sei nicht eifersüchtig auf ihn! Wäre er nicht der bravste und würdigste der Männer, so gäbe ich ihn dir nicht zum Vater. Geh’, kleiner Engel, du bist heiß und treu geliebt. Schlaf’ wohl, wir werden uns niemals verlassen!«

In süße Muttertränen aufgelöst, kehrte Marcelle in ihr Zimmer zurück und schrieb an Lemor folgende wenige Zeilen:

›Sie haben Recht und ich verstehe Sie jetzt. Ich bin Ihrer nicht wert; aber ich werde es werden, denn ich will es. Ich werde eine weite Reise unternehmen. Beunruhigen sie sich meiner wegen nicht und lieben Sie mich! Binnen Jahresfrist werden Sie am nämlichen Tag einen Brief erhalten. Richten Sie sich so ein, dass Sie dann zu mir dahin kommen können, wohin ich Sie rufe. Wenn Sie dann meinen, ich hätte mich noch nicht genugsam umgewandelt, so werden Sie mir noch ein Jahr zugeben.... ein Jahr, zwei Jahre mit Hoffnung – die ist ja fast schon Glück für zwei Wesen, welche sich so lange ohne Hoffnung geliebt haben.‹

Sie sandte dieses Billett noch vormittags weg, allein man fand Lemor nicht. Er war am vergangenen Abend abgereist, man wusste nicht wohin und auf wie lange. Die Miete seiner bescheidenen Wohnung hatte er gekündigt. Indessen versicherte man, der Brief werde ihm dessen ungeachtet zukommen, indem einer seiner Freunde beauftragt sei, jeden Tag die etwa für ihn eingelaufenen Briefe abzuholen, um ihm dieselben nachzusenden.

 

Erster Tag

2. Kapitel.
Die Reise

Zwei Tage nachher durchfuhr Frau von Blanchemont, von ihrem Sohn, einer Kammerfrau und einem Diener begleitet, mit Postpferden die Einöden der Sologne.

Achtzig Meilen von Paris entfernt, befand sich unsere Reisende so ziemlich im Mittelpunkt Frankreichs und übernachtete in der dem Gut Blanchemont zunächst gelegenen Stadt. Blanchemont mochte kaum noch fünf bis sechs Meilen entfernt sein, allein obgleich seit einigen Jahren eine Menge neuer Straßen dem Verkehr eröffnet sind, stehen dennoch im Zentrum von Frankreich die verschiedenen Gegenden so wenig miteinander in Verbindung, dass es äußerst schwerfällt, auf eine gewisse Entfernung hin von den Landleuten bestimmte Aufschlüsse über die Lage der Ortschaften zu erhalten. Alle kennen zwar recht gut die Wege nach der Stadt und dem benachbarten Distrikt, wohin ihre Geschäfte sie von Zeit zu Zeit rufen; aber fragt einmal in einem Weiler, einem Pachthof nach, welcher nur eine Meile von der nächsten Umgegend abseits liegt, so wird man euch nur ausnahmsweise zurechtweisen können. Es gibt da so viele Wege und alle gleichen sich!

Am frühen Morgen aufgestanden, um die Abreise ihrer Gebieterin anzuordnen, konnten die Diener der Frau von Blanchemont weder von dem Wirt, noch von seinen Leuten, noch von den ländlichen Reisenden, welche alle noch halb schlaftrunken waren, irgendeine Nachweisung über das Gut Blanchemont erhalten. Niemand wusste genau, wo es lag. Der eine kam von Montluçon, der andere kannte Chateau-Meillant. Alle waren hundertmal in Ardentes und La Châtre gewesen, aber Blanchemont war ihnen nur dem Namen nach bekannt.

»Das muss ein einträgliches Gut sein«, meinte einer, »ich kenne den Pächter, aber ich war nie dort. Es ist weit von hier, wenigstens vier starke Meilen.«

»Hol’ mich Gott«, sagte ein anderer, »ich habe die Ochsen von Blanchemont erst voriges Jahr auf dem Jahrmarkt zu Berthenour gesehen und Herrn Bricolin, den Pächter, gesprochen, wie ich jetzt mit euch spreche. O gewiss, ja, ja, ich kenne Blanchemont, aber ich weiß nicht, nach welcher Richtung zu es liegt.«

Die Magd wusste, wie alle Wirtsmägde, nichts von der Umgegend und war, gleich ihren Mitdienstboten, erst seit kurzem hier im Dienste. Die Kammerfrau und der Diener, sonst gewohnt, ihrer Gebieterin nur an Aufenthaltsorte zu folgen, welche in zivilisierteren Gegenden lagen und mehr als zwanzig Meilen im Umkreis bekannt waren begannen zu glauben, sie befänden sich tief in der Wüste Sahara. Ihre Gesichter verlängerten sich bedeutend, und ihre Eigenliebe fühlte sich grausam verletzt, dass sie umsonst der Lage eines Schlosses nachgefragt, welches sie mit ihrer Gegenwart beehren wollten.

»Das ist demnach eine Baracke, eine Höhle!« sagte Susette mit verächtlicher Miene zu Lapierre.

»Das ist das Schloss der Korybanten«, versetzte Lapierre, welcher in seiner Jugend ein Melodrama von großem Erfolg, betitelt: ›das Schloss von Corisande‹, gesehen hatte und seither diesen Namen mit obiger Verdrehung auf alle Ruinen anwandte.

Endlich hatte der Stallknecht eine Erleuchtung.

»Ich habe da droben auf dem Heuboden einen«, sagte er, »welcher euch wohl Auskunft erteilen kann, denn es ist sein Beruf, Tag und Nacht im Lande umherzulaufen. Er ist der große Louis, auch der große Mehlhändler genannt.«

»Geh’ zu dem großen Mehlhändler«, befahl Lapierre mit majestätischer Miene. »Es scheint, diese Leiter da führt zu seinem Schlafgemach.«

Der große Mehlhändler stieg, sich streckend und seine gewaltigen Arme und Beine knacken lassend, von seinem Dachkämmerchen herab und beim Anblick seiner athletischen Gestalt und seines ausdrucksvollen Gesichtes ließ Lapierre die Miene und den Ton eines vornehmen Herrn, welche er angenommen, fahren und befragte ihn höflich. Der Mehlhändler war wirklich sehr gut unterrichtet, allein bei den Nachweisungen, die er gab, hielt es Susette für nötig, ihn zu Frau von Blanchemont zu führen, welche in dem großen Wirtszimmer mit dem kleinen Eduard Schokolade trank und, weit entfernt, die Bestürzung ihrer Leute zu teilen, vielmehr heiter gestimmt wurde, als diese ihr sagten, Blanchemont sei verloren und nicht wiederzufinden.

Das Muster des Menschenschlags der Gegend, welches sich in diesem Augenblick Marcelle vorstellte, maß fünf Fuß und acht Zoll, eine bemerkenswerte Größe in einem Lande, dessen Bewohner im Allgemeinen mehr klein, als groß sind. Seine Stärke war seiner Größe angemessen, er war wohlgestaltet, ungezwungen, seine Gesichtsbildung nicht gewöhnlich. Die Mädchen seiner Heimat nannten ihn den schönen Mehlhändler und es war dieses Epitheton gewiss so wohlverdient, als nur irgendeines. Wenn er sich mit der Rückseite seines Ärmels das Mehl von den Wangen strich, welches dieselben gewöhnlich bedeckte, enthüllte er gebräunte, regelmäßige Züge von schönster Färbung. Seine Augen waren schwarz und schön gespalten, seine Zähne glänzend, seine langen kastanienbraunen Haare zeigten jene Krausheit, welche starken Menschen eigentümlich ist, und rahmten eine breite, hochgewölbte Stirne ein, welche aber mehr Schlauheit und gesunden Menschenverstand, als dichterische Idealität verriet. Er hatte eine dunkelblaue Bluse und graulinnene Beinkleider an, keine Strümpfe, dickbesohlte, nägelbeschlagene Schuhe und führte einen Stock von Vogelbeerbaumholz, welchem ein Knoten am unteren Ende das Ansehen einer Keule gab. Er trat mit einer Sicherheit ein, welche man für Frechheit hätte halten können, wenn nicht der sanfte Glanz seiner Augen und das Lächeln seines großen, roten Mundes bezeugt hätten, dass Offenheit, Güte und eine Art philosophischer Sorglosigkeit die Grundzüge seines Charakters ausmachten.

»Gott grüße Sie, gnädige Frau!« sagte er, seinen breitkrempigen Hut von grauem Filz lüftend, ohne denselben ganz abzunehmen; denn wie der alte Bauer gewohnt und willig ist, jeden, der besser als er gekleidet ist, zu grüßen, ebenso zeichnet sich der nach der Revolution geborene Bauer durch seine Neigung aus, seine Kopfbedeckung an ihrem Ort zu lassen.

»Man hat mir gesagt, Sie wünschten mich nach dem Weg nach Blanchemont zu fragen?«

Die starke und sonore Stimme des großen Mehlhändlers machte Marcelle, welche seinen Eintritt nicht wahrgenommen, erschrecken. Sie kehrte sich hastig gegen ihn, anfänglich über seine Erscheinung etwas erstaunt. Aber dem Privilegium der Schönheit gemäß vergaßen der junge Müller und die junge Dame, indem sie sich gegenseitig betrachteten, jenes Misstrauen, welches der Unterschied des Standes anfangs immer einflößt. Nur glaubte Marcelle, als sie ihn zur Vertraulichkeit gestimmt sah, ihn mit großer Feinheit an die Rücksichten, welche man ihrem Geschlecht schuldig ist, erinnern zu müssen.

»Ich danke Ihnen verbindlich für Ihre Gefälligkeit«, erwiderte sie, ihn grüßend, »und bitte Sie, mein Herr, mir gütigst zu sagen, ob ein für Wagen praktikabler Weg von hier nach dem Gut Blanchemont führe.«

Der große Mehlhändler hatte, ohne dazu aufgefordert zu werden, bereits einen Stuhl genommen, um sich zu setzen; als er sich aber ›mein Herr‹ nennen hörte, begriff er mit dem seltenen Scharfsinn, der ihm eigen war, dass er eine wohlwollende und für ihn achtungswerte Person vor sich habe. Er nahm, ohne aus der Fassung zu kommen, seinen Hut vom Kopf und stützte seine Hände auf die Lehne des Stuhls, wie um sich eine festere Haltung zu geben.

»Es gibt einen Vizinalweg, der freilich nicht sehr angenehm ist, auf welchem man aber nicht umwirft, wenn man achtsam ist«, meinte er. »Das Beste wird sein, ihm zu folgen und keinen andern einzuschlagen. Ich werde Ihrem Postillion die nötige Unterweisung geben. Doch das Sicherste wäre, eine Patache1 zu nehmen, denn die Gewitterregen von neulich haben das schwarze Tal mehr, als recht ist, mitgenommen, und ich möchte nicht versprechen, dass die kleinen Räder Ihres Wagens die Geleise dort bewältigen werden. Es könnte zwar sein, aber ich stehe nicht gut dafür.«

»Ich sehe, dass mit Euren Fahrgeleisen nicht zu spaßen ist und dass es klüger sein wird, Ihrem Rate zu folgen. Sie sind gewiss, dass man mit einer Patache nicht Gefahr läuft, umgeworfen zu werden?«

»O, seien Sie ohne Furcht, gnädige Frau!«

»Für mich selber habe ich keine Furcht, wohl aber für dieses Kind. Nur seinetwegen bin ich besorgt.«

»Es wäre in der Tat schade, wenn der Kleine da zerquetscht würde«, sagte der große Mehlhändler, indem er sich dem kleinen Eduard mit einer Miene aufrichtigen Wohlwollens näherte. »Wie hübsch und edel er aussieht, der kleine Mann!«

»Er ist sehr zart, nicht wahr?« fragte Marcelle lächelnd.

»Ei, potztausend, er ist nicht stark, aber nett, wie ein Mädchen. Sie wollen also in unser Land kommen, Herrchen?«

»Schau’ mal den Riesen da!« rief Eduard aus, indem er sich an den Mehlhändler hängte, welcher sich über ihn gebeugt hatte. »Lass’ mich doch die Decke anrühren!«

Der Müller nahm das Kind und es über seinen Kopf erhebend, ging er mit ihm unter den verräucherten Balken der Saaldecke auf und ab.

»Haben Sie Acht!« sagte Frau von Blanchemont, ein wenig erschrocken über die ungezwungene Weise, womit der ländliche Herkules ihr Kind handhabte.

»O, seien Sie ruhig«, versetzte der große Louis, »ich wollte lieber alle Alochons meiner Mühle zerbrechen, als nur einen Finger dieses Herrn.«

Das Wort Alochons ergötzte das Kind sehr, welches dasselbe wiederholte, ohne es zu verstehen.

»Sie kennen das nicht?« sagte der Müller; »nun das sind die kleinen Flügel, die Holzschaufeln, welche am Ende der Radspeichen angebracht sind und die das Wasser fasst, um das Rad zu treiben. Ich werde Ihnen das zeigen, wenn Sie einmal zu uns kommen.«

»Ja, ja, Alochon!« versetzte das Kind, laut lachend und sich in den Armen des Müllers schaukelnd.

»Ist er ein Spaßvogel, der kleine Schlingel?« sagte der große Louis, indem er das Kind wieder auf dessen Stuhl setzte. »Doch jetzt, gnädige Frau, will ich meinen Geschäften nachgehen. Ist das alles, was ich für Sie tun kann?«

»Ja, mein Freund«, erwiderte Marcelle, deren wohlwollende Sinnesart sie ihre Zurückhaltung vergessen machte.

»O, ich verlange nichts Besseres, als Ihr Freund zu sein«, sagte der Müller munter und mit einem Blicke, welcher deutlich zu verstehen gab, dass eine solche Vertraulichkeit von Seiten einer weniger jungen und schönen Person nicht sehr nach seinem Geschmacke gewesen wäre.

›Schon gut‹, dachte Marcelle, ›ich werde mich darnach richten.‹ Dann sagte sie noch:

»Leben Sie wohl, mein Herr, auf Wiedersehen ohne Zweifel, denn Sie sind wohl ein Einwohner von Blanchemont?«

»Ein naher Nachbar. Ich bin der Müller von Angibault, eine Stunde entfernt wohnend von Ihrem Schlosse, denn ich merke, dass Sie die Herrin von Blanchemont sind.«

Marcelle hatte ihren Leuten verboten, ihr Inkognito zu verraten, indem sie unbemerkt durch das Land zu reisen wünschte. Nun aber sah sie an dem Gebaren des Müllers deutlich, dass ihre Eigenschaft als Gutsbesitzerin eben kein solches Aufsehen machte, wie sie befürchtet hatte. Ein Gutsbesitzer, welcher nicht auf seinem Gute lebt, ist ein Fremder, um welchen man sich nicht bekümmert. Der Pächter, der ihn repräsentiert und mit dem man in beständigem Geschäftsverkehr steht, ist eine weit wichtigere Person. —

Ungeachtet ihres Vorsatzes, zu guter Zeit aufzubrechen, um vor Eintritt der Mittagshitze Blanchemont zu erreichen, sah sich Marcelle dennoch genötigt, den größten Teil des Tages in ihrer Nachtherberge zuzubringen. Alle Patachen der Stadt waren fort, weil in der Nähe ein großer Jahrmarkt abgehalten wurde, und es musste die Rückkehr eines dieser Fuhrwerke abgewartet werden. Es war gegen drei Uhr nachmittags, als Susette kam, um ihrer Gebieterin zu melden, dass eine Art von abscheulichem Korbwagen das einzige Fuhrwerk sei, welches man bis jetzt für sie habe auftreiben können. Zur großen Verwunderung ihrer vortrefflichen Zofe zauderte Frau von Blanchemont nicht, sich in die Sache zu schicken. Sie nahm einige Pakete, welche das Notwendigste enthielten, zu sich, übergab die Sorge für ihre Kalesche und ihren Koffer dem Wirt und machte sich in der klassischen Patache, diesem ehrwürdigen Zeugen der Einfachheit unserer Väter, welcher von Tag zu Tag sogar in den Hohlwegen des schwarzen Tales seltener zu werden beginnt, auf den Weg.

 

Die Patache, welche zu finden Marcelle das Unglück gehabt, war von so äußerst altfränkischer Konstruktion, dass ein Altertümler sie mit Hochachtung betrachtet hätte. Sie war lang und tief, wie ein Sarg; die Räder, so hoch wie der Kasten, konnten den morastigen Gräben Trotz bieten, welche unsere Querwege durchschneiden und welche der Müller, unzweifelhaft aus Nationalstolz, zu Geleisen gemacht hatte; der Kasten selbst war weiter nichts, als ein Geflecht von Weiden, im Innern mit Kalk übertüncht, so dass bei jedem heftigeren Stoße Bruchstücke dieses Überzuges den Reisenden auf die Köpfe fielen. Ein kleines, mageres, feuriges und halsstarriges Pferd zog leicht genug diese ländliche Karosse und der Patachon, d. h. der Fuhrmann, welcher seitlings auf der Deichsel saß, war, in Betracht, dass es unsere Väter bequemer fanden, vermittelst eines Stuhles in den Wagen zu steigen, als sich in einem Fußtritt zu verwickeln, der am wenigsten Eingeengte und am wenigsten Gefährdete von der ganzen Reisegesellschaft.

Es existiert vielleicht in unserem Lande die eine oder andere Patache von dieser Art im Besitz alter, reicher Landleute, welche nicht von ihren Gewohnheiten ablassen wollen und behaupten, dass die in Federn hängenden Wagen den Wadenkrampf verursachen.

So lange man die gebahnte Straße verfolgte, war die Fahrt ziemlich erträglich. Der Patachon war ein roter, stumpfnasiger, frecher Bursche von fünfzehn Jahren, der sich um nichts kümmerte, sich, ohne alle Rücksicht auf die Frauen, nicht genierte, zum Antreiben des Pferdes seinen ganzen reichen Vorrat von Flüchen zu verwenden, und sich darin gefiel, die Kraft des mutigen Pony zu erschöpfen, der sein Leben lang noch keinen Hafer geschmeckt und dem der Anblick grünender Wiesen genügte, um bei gutem Mut zu bleiben. Als er sich aber im Verlauf des Weges in eine dürre Heide versetzt sah, begann er mit mehr unzufriedener, als widerspenstiger Miene den Kopf hängen zu lassen und seine Last mit einer Art Wut weiterzureißen, ohne der Unebenheiten der Straße zu achten, wodurch das Fuhrwerk in ein gefährliches Schwanken geriet.

1Unbequeme Kutsche, d. Bearb.