George Orwell: 1984

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Und dabei war die Dokumentationsabteilung selbst nur ein kleiner Zweig des Ministeriums für Wahrheit, dessen Hauptaufgabe nicht darin bestand, die Vergangenheit zu rekonstruieren, sondern darin, die Bürger Ozeaniens mit Zeitungen, Filmen, Lehrbüchern, Teleschirm-Programmen, Theaterstücken, Romanen – mit jeder erdenklichen Art von Informationen, Belehrungen oder Unterhaltung zu versorgen, sei es ein Denkmal oder eine Parole, ein lyrisches Gedicht oder eine biologische Abhandlung, eine Rechtschreibfibel für Kinder oder ein Neusprech-Wörterbuch. Und das Ministerium musste nicht nur die vielfältigen Bedürfnisse der Partei befriedigen, sondern sämtliche Arbeitsschritte noch einmal auf einem niedrigeren Niveau für das Proletariat wiederholen. Es gab eine ganze Reihe eigener Abteilungen, die sich mit proletarischer Literatur, Musik, Theater und Unterhaltung im Allgemeinen befassten. Hier wurden Boulevardzeitungen produziert, die nichts als Sport, Verbrechen und Horoskope enthielten, reißerische Fünf-Cent-Romanhefte, Sexfilmchen und sentimentale Schlager, die vollkommen mechanisch auf einem speziellen Kaleidoskop, einem sogenannten Versifikator, komponiert wurden. Es gab sogar eine ganze Unterabteilung – Pornoab, wie sie in Neusprech genannt wurde –, die sich mit der Herstellung der schmutzigsten Art von Pornografie beschäftigte, die in versiegelten Paketen verschickt wurde und die sich kein Parteimitglied außer denjenigen, zu deren Arbeit es gehörte, ansehen durfte.

Während Winston arbeitete, waren drei weitere Nachrichten aus der Rohrpost geglitten, bei denen es sich aber um einfache Angelegenheiten handelte, die er erledigt hatte, bevor ihn der Zwei-Minuten-Hass unterbrach. Als der Hass zu Ende war, kehrte er in seine Arbeitskabine zurück, nahm das Neusprech-Wörterbuch aus dem Regal, schob den Sprechschreiber zur Seite, reinigte seine Brille und machte sich an seine Hauptaufgabe des Morgens.

Winstons größte Freude im Leben war seine Arbeit. Das meiste davon war zwar langweilige Routine, aber es gab darunter auch so schwierige und komplizierte Arbeiten, dass man sich in ihnen verlieren konnte wie in den Tiefen eines mathematischen Problems – schwierige Fälschungen, bei denen man sich von nichts anderem leiten lassen konnte als von seiner Kenntnis über die Prinzipien des Engsoz und seiner Einschätzung dessen, was die Partei von einem erwartete. Winston war gut in solchen Dingen. Gelegentlich war er sogar mit der Berichtigung von Leitartikeln der Times betraut worden, die vollständig in Neusprech verfasst waren. Er entrollte die Anweisung, die er zuvor beiseitegelegt hatte. Sie lautete:

times 3.12.83 bericht gb tagesbefehl doppeltplusungut nennt unpersonen komplett umschreiben präarchiv vorlage

In Altsprache übersetzt bedeutete dies:

Die Berichterstattung über den Tagesbefehl des Großen Bruders in der Times vom 3. Dezember 1983 ist äußerst unbefriedigend und erwähnt nicht existierende Personen. Schreiben Sie ihn vollständig um und legen Sie Ihren Entwurf an höherer Stelle vor, bevor er ins Archiv übermittelt wird.

Winston las den beanstandeten Artikel durch. Der Tagesbefehl des Großen Bruders war anscheinend hauptsächlich eine Lobpreisung der Arbeit einer Organisation namens SFZK, welche die Matrosen in den Schwimmenden Festungen mit Zigaretten und anderen Komfortgütern versorgte. Ein gewisser Genosse Withers, ein prominentes Mitglied der Inneren Partei, war namentlich besonders hervorgehoben worden und mit einer Auszeichnung, dem Orden für besondere Verdienste Zweiter Klasse, ausgezeichnet worden.

Drei Monate später war die SFZK plötzlich und ohne Angabe von Gründen aufgelöst worden. Man musste davon ausgehen, dass Withers und seine Kollegen nun in Ungnade gefallen waren, jedoch war weder in der Presse noch auf dem Teleschirm über die Angelegenheit berichtet worden. Das war zu erwarten gewesen, da politische Straftäter üblicherweise nicht vor Gericht gestellt oder öffentlich angeprangert wurden. Die großen Säuberungsaktionen, die Tausende von Menschen umfassten, mit ihren öffentlichen Prozessen gegen Verräter und Gedankenverbrecher, die unterwürfig ihre Verbrechen gestanden und anschließend hingerichtet wurden, waren besondere Renommierprojekte, die nur alle paar Jahre einmal stattfanden. Für gewöhnlich verschwanden Menschen, die das Missfallen der Partei erregt hatten, ganz einfach, und man sah und hörte nie wieder etwas von ihnen. Man hatte nicht die geringste Ahnung, was mit ihnen geschehen war. In einigen Fällen waren sie vielleicht noch nicht einmal tot. Etwa dreißig Menschen, die Winston persönlich gekannt hatte, seine Eltern nicht mitgezählt, waren im Laufe der Zeit verschwunden.

Winston strich sich mit einer Büroklammer über die Nase. In der Kabine gegenüber kauerte Genosse Tillotson immer noch geheimnistuerisch über seinem Sprechschreiber. Er hob für einen Moment den Kopf: wieder der feindselige Blitz durch seine Brille. Winston fragte sich, ob Genosse Tillotson mit der gleichen Arbeit beschäftigt war wie er. Das war durchaus möglich. Eine so heikle Arbeit würde niemals einer einzigen Person anvertraut werden; sie andererseits einem Ausschuss vorzulegen, käme einem öffentlichen Eingeständnis gleich, dass eine Fälschung durchgeführt werden sollte. Sehr wahrscheinlich arbeiteten gerade ein ganzes Dutzend Leute an konkurrierenden Versionen dessen, was der Große Bruder tatsächlich gesagt hatte. Und bald darauf würde irgendein Superhirn in der Inneren Partei diese oder jene Version auswählen, sie neu herausgeben und die erforderlich werdenden komplexen Prozesse der Querverweise in Gang setzen, und dann würde die ausgewählte Lüge ins Archiv eingehen und zur Wahrheit werden.

Winston wusste nicht, warum Withers in Ungnade gefallen war. Vielleicht wegen Korruption oder wegen Inkompetenz. Vielleicht wollte sich der Große Bruder aber auch nur eines allzu beliebten Untergebenen entledigen. Vielleicht war Withers oder jemand, der ihm nahestand, wegen häretischer Ansichten verdächtigt worden. Oder vielleicht – was am wahrscheinlichsten war – war die Sache einfach passiert, weil Säuberungen und Vaporisierungen nun einmal notwendige Bestandteile des Regierungsmechanismus waren. Der einzige wirkliche Hinweis lag in den Worten nennt unpersonen, was darauf hindeutete, dass Withers bereits tot war. Man konnte nicht immer davon ausgehen, dass dies der Fall war, wenn Menschen verhaftet wurden. Manchmal wurden sie freigelassen und durften noch ein oder zwei Jahre in Freiheit leben, ehe sie hingerichtet wurden. In ganz seltenen Fällen tauchte ein Mensch, den man längst für tot gehalten hatte, bei einem öffentlichen Prozess geisterhaft wieder auf, wo er dann Hunderte andere durch seine Zeugenaussage belastete, bevor er wieder verschwand, diesmal für immer. Withers war jedoch bereits eine UNPERSON. Er existierte nicht. Er hatte nie existiert. Winston entschied, dass es nicht ausreichen würde, einfach die Ausrichtung der Rede des Großen Bruders umzukehren. Es war besser, sie von etwas handeln zu lassen, das gar nichts mehr mit ihrem ursprünglichen Thema zu tun hatte.

Er könnte die Rede in die übliche Anklage gegen Verräter und Gedankenverbrecher abändern, aber das war etwas zu offensichtlich; würde er jedoch einen Sieg an der Front oder einen Triumph der Überproduktion im neunten Dreijahresplan erfinden, würde dies die Dokumentation erheblich erschweren. Was man hier brauchte, war ein reines Fantasieprodukt. Plötzlich kam ihm, quasi fix und fertig, das Bild eines gewissen Genossen Ogilvy in den Sinn, der kürzlich unter heldenhaften Umständen im Kampf gefallen war. Es gab Gelegenheiten, bei denen der Große Bruder seinen Tagesbefehl dem Gedenken an ein einfaches Parteimitglied aus dem Fußvolk widmete, dessen Leben und Sterben er als nachahmenswertes Beispiel anführte. Heute sollte er des Genossen Ogilvy gedenken. Zwar gab es die Person des Genossen Ogilvy nicht, aber ein paar gedruckte Zeilen und einige gefälschte Fotos würden ihn schon bald ins Leben rufen.

Winston dachte einen Moment nach, zog dann den Sprechschreiber zu sich heran und begann im vertrauten Stil des Großen Bruders zu diktieren: einem zugleich militärischen und pedantischen Stil, der wegen eines Kniffs, Fragen zu stellen und diese dann direkt zu beantworten, leicht nachzuahmen war (»Welche Lehre ziehen wir aus dieser Tatsache, Genossen? Die Lehre – die auch eines der Grundprinzipien des Engsoz ist –, dass ...«).

Im Alter von drei Jahren hatte Genosse Ogilvy alle Spielzeuge außer einer Trommel, einer Maschinenpistole und einem Modellhubschrauber abgelehnt. Im Alter von sechs Jahren war er – durch eine Ausnahmeregelung ein Jahr früher als üblich – den Spionen beigetreten, mit neun Jahren war er bereits Truppenführer. Mit elf hatte er seinen Onkel bei der Gedankenpolizei denunziert, nachdem er ein Gespräch belauscht hatte, dem er kriminelle Tendenzen entnahm. Mit siebzehn war er Bezirksleiter der Anti-Sex-Juniorenliga geworden. Mit neunzehn hatte er eine Handgranate entwickelt, die vom Ministerium für Frieden übernommen wurde und gleich bei ihrem ersten Einsatz einunddreißig eurasische Gefangene mit einem Schlag getötet hatte. Mit dreiundzwanzig war er im Kampf gefallen. Bei einem Flug mit wichtigen Depeschen über den Indischen Ozean wurde er von feindlichen Düsenflugzeugen verfolgt, daher war er mit seinem Maschinengewehr als Ballast mitsamt den Depeschen aus dem Hubschrauber ins tiefe Meer gesprungen – ein Ende, sagte der Große Bruder, das man unmöglich ohne Neidgefühle betrachten könne. Der Große Bruder fügte einige Bemerkungen über die Integrität und Unbeirrbarkeit von Genosse Ogilvys Leben hinzu. Er war absoluter Abstinenzler und Nichtraucher gewesen, hatte sich außer einer Stunde täglich in der Turnhalle keine weitere Erholung gestattet und das Zölibatsgelübde abgelegt, da er die Ehe und die Versorgung einer Familie für unvereinbar mit einer vierundzwanzigstündigen Pflichterfüllung hielt. Er kannte kein anderes Gesprächsthema als die Prinzipien des Engsoz und kein Lebensziel als die Besiegung des eurasischen Feindes und die Jagd auf Spione, Saboteure, Gedankenverbrecher und Verräter im Allgemeinen.

 

Winston überlegte, ob er dem Genossen Ogilvy den Orden für besondere Verdienste verleihen sollte. Schließlich entschied er sich wegen der unnötigen Querverweise, die das mit sich bringen würde, dagegen.

Noch einmal warf er seinem Rivalen in der gegenüberliegenden Kabine einen Blick zu. Irgendetwas schien ihm mit Gewissheit zu sagen, dass Tillotson mit der gleichen Arbeit beschäftigt war wie er. Es war nicht abzusehen, wessen Arbeit schließlich übernommen werden würde, aber er war zutiefst davon überzeugt, dass es seine eigene sein würde. Genosse Ogilvy, von dem vor einer Stunde noch niemand etwas geahnt hatte, war jetzt eine Tatsache. Es kam ihm komisch vor, dass man Tote erschaffen konnte, aber keine Lebenden. Genosse Ogilvy, der in der Gegenwart nie existiert hatte, existierte nun in der Vergangenheit, und wenn erst einmal die Tatsache der Fälschung vergessen war, würde er ebenso authentisch und nachweislich existieren wie Karl der Große oder Julius Cäsar.

KAPITEL 5

In der niedrigen Kantine, tief unter der Erde, rückte die Mittagessensschlange langsam vorwärts. In dem Raum herrschte bereits dichtes Gedränge und ohrenbetäubender Lärm. Aus dem Luftdurchlass an der Theke stiegen die Schwaden eines Eintopfes auf, mit einem säuerlich-metallischen Geruch, der die Dämpfe des Victory-Gins nicht ganz überdecken konnte. Auf der anderen Seite des Raumes befand sich eine kleine Bar, nicht mehr als ein bloßes Loch in der Wand, wo man für zehn Cent einen ordentlichen Schluck Gin kaufen konnte.

»Genau der Mann, den ich gesucht habe«, sagte eine Stimme hinter Winston.

Er drehte sich um. Es war sein Freund Syme, der in der Forschungsabteilung arbeitete. Vielleicht war »Freund« nicht ganz das richtige Wort. Heutzutage hatte man keine Freunde, sondern Genossen; aber es gab einige Genossen, deren Gesellschaft angenehmer war als die der anderen. Syme war Philologe, ein Spezialist für Neusprech. Er gehörte zu dem riesigen Team von Experten, das gerade mit der Erstellung der elften Ausgabe des Neusprech-Wörterbuchs beschäftigt war. Er war ein winziges Kerlchen, kleiner als Winston, mit dunklem Haar und großen, hervorstehenden Augen, die gleichzeitig schwermütig und spöttisch dreinblickten und während eines Gesprächs das Gesicht seines Gegenübers genau zu erforschen schienen.

»Ich wollte dich fragen, ob du vielleicht ein paar Rasierklingen für mich hast«, sagte er.

»Nicht eine«, erwiderte Winston schnell schuldbewusst. »Ich hab’s überall versucht. Es gibt keine mehr.«

Ständig wurde man von allen möglichen Leuten nach Rasierklingen gefragt. Ehrlich gesagt hatte er noch zwei unbenutzte Rasierklingen gehamstert. Seit Monaten waren sie nun schon Mangelware. Es gab ständig irgendeinen Gebrauchsartikel, den die Parteigeschäfte nicht liefern konnten. Manchmal waren es Knöpfe, manchmal Stopfgarn, manchmal Schnürsenkel; im Moment waren es Rasierklingen. Man konnte sie, wenn überhaupt, nur durch mehr oder weniger heimliches Suchen auf dem »freien« Markt ergattern.

»Ich benutze seit sechs Wochen dieselbe Klinge«, fügte er verlogen hinzu.

Die Warteschlange rückte ein Stück vor. Als sie zum Stehen kam, drehte er sich wieder zu Syme um. Jeder von ihnen nahm ein speckiges Metalltablett von einem Stapel am Ende des Tresens.

»Hast du dir gestern das Hängen der Gefangenen angesehen?«, fragte Syme.

»Nein, hab’ gearbeitet«, sagte Winston leichthin. »Ich schau’s mir wohl im Kino an.«

»Ein sehr unzureichender Ersatz«, meinte Syme.

Seine spöttischen Augen wanderten über Winstons Gesicht. »Ich kenne dich«, schienen diese Augen zu sagen, »ich durchschaue dich. Ich weiß sehr wohl, warum du nicht gegangen bist, um dir das Hängen anzusehen.« Auf intellektuelle Weise war Syme boshaft orthodox. Er konnte mit einer unangenehm hämischen Schadenfreude über Hubschrauberangriffe auf feindliche Dörfer, über Prozesse und Geständnisse von Gedankenverbrechern und deren Exekutionen in den Kellern des Ministeriums für Liebe sprechen. Wollte man sich vernünftig mit ihm unterhalten, musste man ihn erst einmal von solchen Themen abbringen und ihn, wenn möglich, in ein Gespräch über die technischen Einzelheiten von Neusprech verwickeln, über die er kompetent und interessant berichtete. Winston drehte seinen Kopf ein wenig zur Seite, um sich dem forschenden Blick der großen dunklen Augen zu entziehen.

»War ein ganz gutes Hängen«, sagte Syme in Erinnerung daran. »Ich finde ja, dass es die Sache verdirbt, wenn sie ihnen die Füße zusammenbinden. Ich sehe sie gerne zappeln. Und vor allem soll ihnen am Ende die Zunge raushängen, blau – so ganz leuchtend blau. Das ist der Punkt, der mir am besten gefällt.«

»Der Nächste, bitte!«, rief der weiß beschürzte Proll mit der Schöpfkelle.

Winston und Syme schoben ihre Tabletts über die Ausgabe. Auf jedes wurde schnell das Einheitsmittagessen geklatscht – eine Metallschüssel mit rosa-grauem Eintopf, ein Kanten Brot, ein Käsewürfel, ein Becher Victory-Kaffee ohne Milch und eine Süßstofftablette.

»Da drüben, unter dem Teleschirm, ist ein freier Tisch«, sagte Syme. »Lass uns unterwegs noch einen Gin holen.«

Der Gin wurde ihnen in henkellosen Porzellanbechern serviert. Sie schlängelten sich durch den überfüllten Raum und schoben ihre Tabletts auf den Metalltisch, auf dem an einer Ecke jemand eine Eintopflache hinterlassen hatte, ein ekliges, flüssiges Zeug, das wie Erbrochenes aussah. Winston nahm seinen Becher Gin, sammelte einen Moment seinen Mut zusammen und kippte dann den ölig schmeckenden Fusel runter. Als er die Tränen, die ihm in die Augen geschossen waren, weggezwinkert hatte, stellte er plötzlich fest, dass er hungrig war. Er begann, Löffel für Löffel des Eintopfs in sich reinzustopfen, in dessen gräulichem Matsch auch Würfel eines schwammigen, rosafarbenen Zeugs trieben, das vermutlich irgendein Fleischprodukt war. Bis sie ihre Schüsseln geleert hatten, sprach keiner von ihnen ein Wort. Am Tisch links hinter Winston redete jemand schnell und ununterbrochen, ein unangenehmes Geplapper, fast wie das Quaken einer Ente, das den allgemeinen Lärm des Raumes durchdrang.

»Wie geht es mit dem Wörterbuch voran?«, fragte Winston mit erhobener Stimme, um den Lärm zu übertönen.

»Langsam«, sagte Syme. »Ich bin bei den Adjektiven. Ist sehr faszinierend.«

Bei der Erwähnung von Neusprech war er sofort aufgelebt. Er schob seine Schüssel beiseite, nahm in eine seiner feingliedrigen Hände das Stück Brot und in die andere den Käse und beugte sich über den Tisch, um ohne schreien zu müssen sprechen zu können.

»Die elfte Auflage ist die endgültige Ausgabe«, sagte er. »Wir bringen die Sprache in ihre endgültige Form – die Form, die sie haben wird, wenn niemand mehr etwas anderes spricht. Wenn wir damit fertig sind, werden Leute wie du die Sprache noch einmal ganz neu lernen müssen. Du denkst bestimmt, dass unsere Hauptaufgabe darin besteht, neue Wörter zu erfinden. Weit gefehlt! Wir vernichten Wörter – massenhaft, zu Hunderten, jeden Tag. Wir reduzieren die Sprache bis auf ihr nacktes Gerüst. Die elfte Ausgabe wird kein einziges Wort enthalten, das vor dem Jahr 2050 veraltet sein wird.«

Er biss hungrig in sein Brot und schluckte ein paar Bissen hinunter, dann sprach er weiter, mit einer Art pedantischer Leidenschaft. Sein dünnes dunkles Gesicht hatte sich belebt, seine Augen hatten ihren spöttischen Ausdruck verloren und waren beinahe träumerisch geworden.

»Das ist etwas Herrliches, diese Vernichtung von Worten. Natürlich liegt der größte Teil der Streichungen bei den Verben und Adjektiven, aber es gibt Hunderte von Substantiven, die ebenso gut abgeschafft werden können. Nicht nur die Synonyme, auch die Antonyme. Welche Existenzberechtigung hat denn schließlich ein Wort, das nur das Gegenteil eines anderen Wortes ist? Ein Wort enthält in sich selbst sein Gegenteil. Nehmen wir zum Beispiel ›gut‹. Wenn wir ein Wort wie ›gut‹ haben, wozu brauchen wir dann ein Wort wie ›schlecht‹? ›Ungut‹ funktioniert genauso gut – besser sogar, weil es das genaue Gegenteil ist, was das andere Wort nicht ist. Und wenn man eine Steigerung von ›gut‹ will, welchen Sinn haben dann diese ganzen Reihen von vagen, nutzlosen Wörtern wie ›ausgezeichnet‹ und ›großartig‹ und all die anderen? ›Plusgut‹ deckt die Bedeutung vollkommen ab, oder ›doppelplusgut‹, wenn man eine noch größere Steigerung will. Natürlich verwenden wir diese Formen bereits, aber in der endgültigen Fassung des Neusprech wird es nichts anderes mehr geben. Am Ende wird die gesamte Begrifflichkeit von Gut und Böse durch nur sechs Wörter abgedeckt sein – eigentlich nur durch ein einziges. Siehst du die Schönheit, die darin liegt, Winston? Das war natürlich ursprünglich G.B.s Idee«, fügte er nachträglich hinzu.

Bei der Erwähnung des Großen Bruders huschte eine Art von oberflächlichem Enthusiasmus über Winstons Gesicht. Dennoch bemerkte Syme sofort einen gewissen Mangel an Begeisterung.

»Du weißt Neusprech nicht wirklich zu schätzen, Winston«, sagte er beinahe traurig. »Selbst wenn du in Neusprech schreibst, denkst du immer noch in der Altsprache. Ich habe einige der Artikel gelesen, die du gelegentlich in der Times schreibst. Sie sind ganz gut, aber es sind nur Übersetzungen. Dein Herz hängt noch immer an der Altsprache, mit all ihren Ungenauigkeiten und ihren nutzlosen Bedeutungsschattierungen. Du verstehst die Schönheit der Zerstörung von Worten einfach nicht. Wusstest du, dass Neusprech die einzige Sprache der Welt ist, deren Wortschatz von Jahr zu Jahr kleiner wird?«

Das war Winston natürlich bewusst. Er lächelte, wie er hoffte auf eine sympathische Weise, da er sich nicht traute, etwas zu sagen. Syme biss ein weiteres Stück des dunklen Brotes ab, kaute kurz darauf herum und fuhr fort:

»Begreifst du denn nicht, dass das Ziel von Neusprech darin besteht, den Gedankenspielraum einzugrenzen? Zum guten Schluss werden wir Gedankenverbrechen buchstäblich unmöglich machen, weil es keine Worte mehr geben wird, um sie auszudrücken. Jeder Begriff, der jemals benötigt werden könnte, wird durch genau ein Wort ausgedrückt werden, wobei seine Bedeutung starr definiert wird und all seine Nebenbedeutungen ausgemerzt und vergessen werden. Wir sind schon jetzt, bei der elften Ausgabe, nicht mehr weit von diesem Punkt entfernt. Aber der Prozess wird auch dann noch weitergehen, wenn du und ich längst tot sind. Mit jedem Jahr wird die Anzahl der Worte immer geringer und der Gedankenspielraum wird immer kleiner werden. Natürlich gibt es auch heute keinerlei Grund oder Entschuldigung für das Begehen von Gedankenverbrechen. Das ist lediglich eine Frage der Selbstdisziplin, der Realitätskontrolle. Aber am Ende wird nicht einmal mehr das nötig sein. Die Revolution wird komplett sein, wenn die Sprache perfekt ist. Neusprech ist Engsoz und Engsoz ist Neusprech«, fügte er mit einer Art geheimnisvoller Befriedigung hinzu. »Ist es dir jemals in den Sinn gekommen, Winston, dass spätestens im Jahr 2050 kein einziger Mensch mehr leben wird, der ein solches Gespräch, wie wir es gerade führen, verstehen könnte?«

»Außer –«, begann Winston zweifelnd und brach dann ab.

Beinahe hätte er gesagt: »Außer den Prolls«, aber er hielt sich zurück, da er nicht ganz sicher war, ob eine solche Bemerkung nicht in gewisser Weise unorthodox gewesen wäre. Syme hatte jedoch erraten, was er sagen wollte.

»Die Prolls sind keine Menschen«, sagte er leichtfertig. »Bis 2050 – wahrscheinlich früher – wird alles wirkliche Wissen über die Altsprache verschwunden sein. Die gesamte Literatur der Vergangenheit wird vernichtet worden sein. Chaucer, Shakespeare, Milton, Byron – es wird sie nur noch in Neusprech-Fassungen geben, die nicht einfach nur in etwas anderes umgewandelt worden sind, sondern tatsächlich in etwas, das dem widerspricht, was sie einmal waren. Selbst die Literatur der Partei wird sich verändern. Sogar die Parolen werden sich ändern. Wie könnte eine Parole wie ›Freiheit ist Sklaverei‹ bestehen bleiben, wenn der Begriff der Freiheit abgeschafft worden ist? Das ganze Klima des Denkens wird sich ändern. Tatsächlich wird es überhaupt kein Denken mehr geben, zumindest nicht so, wie wir es jetzt verstehen. Orthodoxie bedeutet, nicht zu denken – nicht denken zu müssen. Orthodoxie ist Unbewusstheit.«

Eines Tages, dachte Winston plötzlich aus tiefster Überzeugung, wird Syme vaporisiert werden. Er ist zu intelligent. Er sieht zu klar und spricht zu offen. Die Partei mag solche Leute nicht. Eines Tages wird er verschwinden. Es steht ihm ins Gesicht geschrieben.

 

Winston hatte sein Brot und seinen Käse aufgegessen. Er drehte sich auf seinem Stuhl ein wenig zur Seite, um seinen Becher Kaffee zu trinken. Am Tisch zu seiner Linken sprach der Mann mit der schrillen Stimme immer noch unerbittlich weiter. Eine junge Frau, vielleicht seine Sekretärin, die mit dem Rücken zu Winston saß, hörte ihm zu und schien allem, was er sagte, eifrig beizustimmen. Von Zeit zu Zeit hörte Winston eine Bemerkung wie »Ich glaube, Sie haben vollkommen recht, ich bin absolut Ihrer Meinung« in einer jugendlichen und dümmlichen weiblichen Stimme. Aber die andere Stimme hörte noch nicht einmal dann auf zu reden, wenn das Mädchen sprach. Winston kannte den Mann vom Sehen, obwohl er nicht mehr über ihn wusste, als dass er einen wichtigen Posten in der Romanabteilung innehatte. Er war ein Mann um die dreißig, hatte einen muskulösen Hals und einen großen, lebhaften Mund. Den Kopf hatte er ein wenig zurückgelehnt, wodurch er so saß, dass seine Brille das Licht einfing und Winston zwei blanke Scheiben anstelle von Augen sah. Er fand es erschreckend, dass man aus dem Redeschwall, der aus seinem Mund strömte, kaum ein einzelnes Wort verstehen konnte. Nur ein einziges Mal schnappte Winston einen Gesprächsfetzen auf – »vollständige und endgültige Auslöschung des Goldsteinismus« –, der rapide und, wie es schien, ohne jegliche Unterbrechung ausgestoßen wurde. Der komplette Rest war nur ein Geräusch, nur quak-quak-quak. Und obwohl man nicht wirklich verstehen konnte, was der Mann sagte, konnte man keinen Zweifel an der allgemeinen Natur des Gesagten hegen. Ob er nun Goldstein anprangerte und härtere Maßnahmen gegen Gedankenverbrecher und Saboteure forderte, gegen die Gräueltaten der eurasischen Armee wetterte, den Großen Bruder oder die Helden an der Malabar-Front lobte – es machte keinen Unterschied. Was auch immer er sagte, man konnte sicher sein, dass jedes Wort davon Orthodoxie und Engsoz in Reinkultur war. Als er das augenlose Gesicht mit dem schnell auf- und zuklappenden Unterkiefer beobachtete, hatte Winston das seltsame Gefühl, dass es sich nicht um einen echten Menschen, sondern um eine Art Puppe handelte. Hier sprach nicht das Gehirn des Mannes, sondern sein Kehlkopf. Das Zeug, das aus ihm herauskam, bestand zwar aus Worten, aber es war keine Sprache im eigentlichen Sinne: Es waren unbewusst hervorgestoßene Laute, wie das Quaken einer Ente.

Syme war für einen Moment verstummt und zeichnete mit dem Griff seines Löffels Muster in der Eintopfpfütze. Die Stimme am anderen Tisch quakte immer weiter, gut hörbar trotz des Lärms ringsum.

»Es gibt ein Wort in Neusprech«, sagte Syme, »ich weiß nicht, ob du es kennst: Quaksprech, quaken wie eine Ente. Das ist eines dieser interessanten Wörter, die zwei widersprüchliche Bedeutungen haben. Gebraucht man es einem Gegner gegenüber, ist es eine Beschimpfung, gebraucht man es aber bei jemanden, mit dem man übereinstimmt, ist es ein Lob.«

Zweifellos wird Syme vaporisiert werden, dachte Winston erneut. Er dachte es mit einem gewissen Bedauern, obwohl er genau wusste, dass Syme ihn nicht leiden konnte, sogar verachtete und durchaus dazu fähig war, ihn beim geringsten Anlass als Gedankenverbrecher zu denunzieren. Mit Syme stimmte etwas nicht. Es gab etwas, was ihm fehlte: Verschwiegenheit, Zurückhaltung, ein rettendes Quäntchen Dummheit. Man konnte von ihm nicht behaupten, dass er unorthodox war. Er glaubte an die Prinzipien des Engsoz, er verehrte den Großen Bruder, er jubelte über Siege, er hasste Abweichler, und das alles nicht nur aufrichtig, sondern mit einem Übereifer und einer Wohlinformiertheit, an die ein gewöhnliches Parteimitglied nicht ansatzweise herankam. Und dennoch haftete an ihm immer etwas Anrüchiges. Er sagte Dinge, die besser ungesagt geblieben wären, er hatte zu viele Bücher gelesen, er besuchte das Café Kastanienbaum, einen Treffpunkt für Maler und Musiker. Es gab kein Gesetz, nicht einmal ein ungeschriebenes, das den Besuch des Cafés Kastanienbaum verbot, und doch schien der Ort irgendwie unter einem schlechten Stern zu stehen. Die alten, diskreditierten Führer der Partei hatten sich dort immer getroffen, bevor sie endgültig aus dem Weg geräumt worden waren. Goldstein selbst, so hieß es, sei dort vor Jahren und Jahrzehnten manchmal gesehen worden. Symes Schicksal war unschwer vorherzusehen. Und doch bestand kein Zweifel an der Tatsache, dass Syme, wenn er auch nur für drei Sekunden die wahre Natur von Winstons geheimen Absichten erkannt hätte, ihn sofort an die Gedankenpolizei verraten würde. Das würde im Übrigen auch jeder andere tun; aber Syme mit größerer Bestimmtheit als die meisten anderen. Eifer allein genügte nicht. Rechtgläubigkeit bedeutete Unbewusstheit.

Syme blickte auf. »Da kommt Parsons«, sagte er.

Etwas im Ton seiner Stimme schien hinzuzufügen: »dieser Blödmann«. Parsons, Winstons Nachbar im Victory-Wohnblock, bahnte sich tatsächlich gerade einen Weg durch den Raum – ein kugelrunder, mittelgroßer Mann mit blondem Haar und einem froschartigen Gesicht. Mit seinen fünfunddreißig Jahren hatte er bereits am Nacken und an den Hüften Fettpolster angesetzt, seine Bewegungen waren jedoch schwungvoll und knabenhaft. Seine ganze Erscheinung war die eines kleinen, groß gewordenen Jungen, sodass es fast unmöglich war, ihn sich in etwas anderem vorzustellen als in den blauen Shorts, dem grauen Hemd und dem roten Halstuch der Spione, obwohl er den Einheitsoverall trug. Wenn man ihn sich vor Augen führte, sah man immer knubbelige Knie und pummelige Unterarme mit hochgekrempelten Hemdsärmeln vor sich. Parsons griff tatsächlich immer auf kurze Hosen zurück, wenn ihm eine Gemeinschaftswanderung oder eine andere körperliche Aktivität einen Vorwand dafür bot. Er begrüßte die beiden mit einem fröhlichen »Hallo, hallo!«, setzte sich an den Tisch und dünstete dabei einen intensiven Schweißgeruch aus. Schweißtropfen standen auf seinem gesamten rosafarbenen Gesicht. Seine Fähigkeit zu schwitzen war außergewöhnlich. Im Gemeinschaftszentrum konnte man an der Feuchtigkeit des Schlägergriffs immer erkennen, ob er Tischtennis gespielt hatte.

Syme hatte ein Blatt Papier mit einer langen Liste von Wörtern hervorgezogen, die er mit einem Tintenstift in der Hand betrachtete.

»Jetzt sieh sich mal einer an, wie der sogar in der Mittagspause arbeitet«, sagte Parsons und stupste Winston an. »Das nenne ich mal Eifer, ne? Was machen Se denn, alter Junge? Wahrscheinlich irgendwas, was zu hoch für mich is. Smith, alter Junge, ich sach Ihnen mal, warum ich hinter Ihnen her bin. Is wegen der Spende, die Sie mir noch schuldig sind.«

»Um welche Spende geht es?«, fragte Winston und tastete automatisch nach seinem Geld. Etwa ein Viertel des Gehalts musste man für freiwillige Zahlungen zur Verfügung stellen, und diese waren so zahlreich, dass es schwierig war, den Überblick zu behalten.

»Für die Hasswoche. Sie wissen schon – die Hauskollekte. Ich bin doch Schatzmeister für unseren Block. Wir geben uns richtich Mühe – und wir wollen echt was auf die Beine stellen. Ich sach Ihnen, is nich meine Schuld, wenn der alte Victory-Wohnblock nicht den besten Fahnenschmuck von der ganzen Straße hat. Zwei Dollar ham Sie mir versprochen.«