Es begann in der Abbey Road

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Dennoch hütete Oscar sein Täubchen Parlophone wie eine Henne ihre Küken (wenn dieser Vergleich ornithologisch überhaupt zulässig ist). Niemand durfte seinem Label zu nahe kommen. Allerdings gab es zeitweise nicht viel Arbeit bei Parlophone, da die Firma nach dem Krieg viele Interpreten verloren hatte. Einige Künstler wurden von Label zu Label verschoben, und so führte Oscar auch Produktionen für Columbia durch, da er bestimmte Musiker noch von Parlophone kannte und sie ihm ans Herz gewachsen waren. Zum Beispiel nahm er Robert Wilson auf, der eigentlich zu HMV gehörte.

Allerdings bestanden einige unumstößliche Gesetze. Parlophone produzierte niemals ein Musical, denn dieses Genre betreute HMV exklusiv. Die Differenzierung der Labels erstreckte sich sogar bis in die Geschäfte. Heutzutage werden Schalllatten überall verkauft. Damals konnte man Tonträger nur in Fachgeschäften erwerben, die wiederum nur ein Label vertrieben – ein Shop für HMV, ein anderes Geschäft für Columbia und so weiter. Speziell HMV hegte einen regelrechten Standesdünkel und war stolz auf ihre Läden. HMV-Platten durften nur von HMV-akkreditierten Verkäufern dem Endkunden angeboten werden. Darüber hinaus erlaubten sie nur eine Verkaufsstelle in einer Stadt. Die Innenausstattung jeweiligen Geschäfte machte der von Rolls Royce Konkurrenz. Die Filialleiter fühlten sich regelrecht geehrt, wenn eine Tafel mit dem Zeichen des Hundes mit dem Grammophon über ihrer Eingangstür hing.

Ich empfand das als nicht sonderlich intelligent, da sie den Umsatz freiwillig und absichtlich beschnitten. Am Ende zerbrach das Geschäftsmodell, und HMV-Platten waren überall zu kaufen. Das aber führte zu einer massiven Auseinandersetzung mit der EMI. Ein Mann, der den alten Zeiten partout nicht Lebewohl sagen wollte, empörte sich so sehr, sodass der letzte Ausweg für ihn in einer Kündigung bestand. So eine Entscheidung mag aus heutiger Sicht dumm anmuten, belegt und betont jedoch den starken Wunsch der Menschen, ihre Individualität beizubehalten.

1952 war die Zeit für mich reif, meine Identität zu suchen. Ich schlug Peter Ustinov vor, gemeinsam mit meinen Kollegen von der London Baroque Society eine Platte zu machen. Peter war das Enfant terrible der britischen Schauspielzunft, unsere Antwort auf Orson Welles. Da er das Publikum immer mit seiner sogenannten „Mundmusik“ erheiterte, entschieden wir uns für die doppelseitige Single „Mock Mozart“/„Phoney Folk Lore“. Die A-Seite beschreibe ich gerne als dreiminütige Mini-Oper von Peter. Ich kategorisierte die Produktion unter dem Überbegriff „The Voices And Noises Of Peter Ustinov“. Peter sang alle Teile, also Sopran, Altstimme und Tenor, und wurde von Anthony Hopkins auf dem Spinett begleitet.

Das Ganze entwickelte sich zu einem kleinen Abenteuer. Natürlich verfügten wir damals noch über keine Mehrspurtechnik. Da er im Grunde genommen ein vierköpfiges Ensemble imitieren musste, war Peter gezwungen, mit sich selbst zu singen. Dazu benutzten wir zwei Bandmaschinen und mischten dabei gleichzeitig. Natürlich war das alles noch in Mono, wodurch wir natürlich Generationen an Aufnahmequalität verloren. „Generationen“ bedeutet das prozentuale Verhältnis zwischen Signal und Geräusch. An dieser Stelle sollte ich den technisch eher Desinteressierten etwas über den mechanischen Aufnahmeprozess erklären. Die Aufnahmequalität wird von der Qualität/Quantität der Moleküle des Bandes an sich bestimmt. Das Verhältnis des ursprünglichen Signals zum Hintergrundrauschen – damit meine ich die kaum wahrnehmbaren Geräusche des Bandes, die durch den rein physischen Prozess des Anliegens am Tonkopf entstehen – bestimmt das Endresultat.

Das Verhältnis des ursprünglichen Signals, also der Tonquelle, zum Hintergrundrauschen verändert sich durch den mechanischen Abrieb, verkleinert sich also zugunsten des Hintergrundrauschens. Während bei der ersten Aufnahme das Rauschen noch eindeutig im Toleranzbereich liegt, nimmt es bei einer erneuten Aufnahme auf ein anderes Band zu. Je öfter dieser Prozess wiederholt wird, desto stärker hörbar wird das Phänomen. Jede weitere Aufnahme verschlechtert also das gewollte Tonsignal und verstärkt die Störgeräusche um den Exponenten 2. Bei zwei Aufnahmen wird das Rauschen viermal höher, bei drei Aufnahmen sogar neunmal. Dieser Faktor verringerte sich deutlich mit der Entwicklung der Bandaufnahmetechnik, da technisch ausgefeiltere Tonköpfe, ein leichterer Druck des Bandes gegen den Tonkopf und vor allem deutlich besseres Bandmaterial zu klanglich besseren Ergebnissen führten. Im Fall von Ustinov nahmen wir vier Mal auf, und darum verstärkte sich das Rauschen sechzehnmal. Doch ein Großteil des Publikums hört die Geräusche noch nicht mal. Ich glaube zudem, dass die Käufer der Platten noch nicht ahnten, dass der Hintergrundpegel so hoch war. Allerdings würde es den heutigen Hi-Fi-Puristen sicherlich auffallen.

Nun standen wir noch vor einem zusätzlichen Problem. Obwohl die Theorie der mehrfachen Stimmen machbar anmutete, ergab sich bei den Aufnahmen ein Problem. Ich fand heraus, dass Peter im Studio Schwierigkeiten hatte, zu der schon mitgeschnittenen Spur, auch „Track“ genannt, seines Gesangs zu singen. Wie viele andere war er ein „Kopierer“. Um synchron zu der ersten Stimme zu singen, musste er sie zuerst hören und setzte zeitlich versetzt kurz danach an – was natürlich zu spät ist.

Somit arbeiteten wir in kleinen Häppchen. Ich hetzte ständig vom Regieraum zu Peter und zurück. Zwischendurch gab ich ihm Anweisungen: „Hör zu, Peter. Bitte sing diesen Teil ti dum, ti dum, ti dum – und beginn exakt, wenn ich dir mit meiner Hand ein Signal gebe.“ Somit konnte er den genauen Anfangspunkt der Phrase erkennen und passend dazu die Melodie singen.

Es war ein beschwerlicher, langer und mühseliger Arbeitsprozess, der sich aber letztendlich auszahlte. Die Produktion der B-Seite hingegen viel uns wesentlich leichter, da Peter seine „Party-Stückchen“ imaginärer Folk-Songs zum Besten gab.

Doch dann stand die monatliche „Ergänzungs-Besprechung“ der EMI an. Bei „Mock Mozart“ angelangt, richteten sich alle Augen auf mich. Purer Horror machte sich auf den Gesichtern der Kollegen breit. Die Kommentare folgten schnell.

„Was ist das, George?“

„Peter Ustinov!!??“

„Was hast du dir nur dabei gedacht, George?“

„Das ist doch blanker Unsinn. Niemand hat bislang so eine Platte produziert.“

Oscar unterstütze mich, so gut es nur ging, doch die anderen dachten anscheinend, ich sei verrückt geworden. Ich musste mich mit jedem einzelnen der Kollegen herumschlagen, um sie davon zu überzeugen, dass die Platte eine Chance hatte. Die Veröffentlichung stand auf der Kippe, doch nachdem sie auf den Markt gekommen war, zahlte sich mein Wagemut aus. Eine Woche nach Veröffentlichung rief mich der Geschäftsführer von HMV aus der Oxford Street an und fragte: „Diese Peter-Ustinov-Platte – haben Sie die produziert?“

„Ja“, antwortete ich kleinlaut und wartete darauf, gegen was für einen Angriff ich mich jetzt zur Wehr setzen musste.

Doch er überraschte mich: „Können Sie mir möglicherweise bei der Beschaffung weiterer Exemplare behilflich sein? Ich haben schon 200 Stück verkauft und kann nirgendwo nachbestellen.“

(Der Geschäftsführer war übrigens zufälligerweise Ron White, später Manager des EMI-Verlags.)

Mit dem Lächeln eines Siegers ging ich zu meinen „Meistern“ und rieb ihnen die Neuigkeiten genüsslich unter die Nase. „Ihr habt viel zu wenig Platten gepresst.“ Ich glaube, dass die Erstauflage 300 Exemplare betrug. Als die Nachpressung gefertigt war, sank die Nachfrage unglücklicherweise. Schon wieder eine Lektion gelernt! Am heutigen Standard gemessen, klingt die Auflagenhöhe von 300 Platten lächerlich gering, doch damals gab es Produktionen, von denen sich vielleicht nur 180 Stück absetzen ließen. Trotzdem rechnete sich das aus ökonomischer Perspektive, da die Aufnahmekosten gering waren, ganz im Gegensatz zu den tatsächlich sehr hohen Endverbraucherpreisen.

Dazu kam noch, dass ein Künstler wie Peter keinen Vorschuss erhielt. Er bekam Tantiemen in Höhe von 5 %, damals die höchste Umsatzbeteiligung. Der größte Kostenfaktor bestand im Mieten des Spinetts, was uns 15 £ kostete, und in der Gage für Anthony Hopkins, die mit einer vergleichbaren Summe zu Buche schlug. Zur Kostendeckung musste man also nur 200 oder 300 Platten zu je 7 Schilling an dem Mann bringen.

Die Plattenproduktion mit Peter stellte eine Ausnahme von der Regel dar, da die meisten Künstler – besonders Sänger – Exklusivverträge mit den Plattenfirmen abgeschlossen hatten. Bedeutende Interpreten bekamen Verträge mit einer Laufzeit von zwei Jahren, möglicherweise um eine Option für weitere drei Jahre ergänzt. Der Vorteil für diese Interpreten bestand in der Zusage von regelmäßigen Veröffentlichungen, die sich natürlich finanziell niederschlugen. Einige erhielten eine Tantiemenvorauszahlung (allerdings musste man für so eine Vertragsklausel schon ziemlich erfolgreich sein), da die EMI mit ihren Künstlern in finanzieller Hinsicht ähnlich wie mit dem Personal umsprang – und dementsprechend knauserig war. Die durchschnittliche Bezahlung pro Platte lag bei einem Penny, die höchste Entlohnung bei einer 5-prozentigen Beteiligung. So ließ sich natürlich die mangelnde Verbundenheit der Künstler mit der Firma erklären.

Die Vielfalt der Interpreten beeindruckte mich immer wieder. In derselben Woche nahm ich Bob und Alf Pearson auf („My Brother And I“ war ihr großer Hit), Dick Bentley und Joy Nichols („Take It From Here“), das Covent Garden Orchestra, Tommy Reilly mit seiner Mundharmonika, Eve Boswell und Charles Williams, der neben Sidney Torch das Queen’s Hall Light Orchestra dirigierte.

Ich kann mich noch gut an Charles erinnern, der „The Dream Of Olwen“ schrieb, da das Schicksal ihn mit einem überraschenden Geld­regen erfreute. Er schrieb einige Stücke, eher als Hintergrundmusik gedacht, und erhielt dafür regelmäßige Zahlungen der Performing Rights Society, einer Organisation, vergleichbar mit der deutschen GEMA, die die mechanischen Vervielfältigungsrechte, Aufführungsrechte und Senderechte von Komponisten und Textern wahrnimmt. Plötzlich – ohne einen ersichtlichen Grund – betrug eine der Zahlungen die für damalige Zeiten exorbitante Summe von 5.000 £. Wie sich herausstellte, benutzte eine TV-Station in den USA eine seiner Kompositionen, ein Stück mit einer religiösen Grundstimmung, als Erkennungsmelodie. Und niemand hatte ihm davon berichtet!

 

Gelegentlich nahm ich auch Freddie Randall und seine Jazz-Band auf, denn mittlerweile hatte ich mich weit von den altehrwürdigen Klangkathedralen des Klassik entfernt und produzierte – trotz meiner früheren Zusammenstöße mit Humph – alle Jazz-Künstler von Parlophone, also Graeme Bell and his Dixieland Jazz Band, Joe Daniels and his Hotshots, Jack Parnell und Johnny Dankworth and his Seven.

Mit Johnny nahm ich einer meiner ersten Hits auf. Das Stück nannte sich „Experiments With Mice“ und basierte auf dem Liedchen „Three Blind Mice“. Er und Cleo Laine wurden schon bald gute Freunde, mit denen ich häufig arbeitete. Cleo, die damals noch nicht mit ihm verheiratet war, sang in der Band. Ich finde es erfreulich, dass John und Cleo genauso lange im Geschäft sind wie ich. Auch sie haben die harten Seiten und unangenehmen Aspekte kennengelernt: Tourneen, finanziell schwierige Zeiten, das ständige Auf und Ab sowie andere Problematiken – und nun betraten sie die Weltbühne als große Künstler. Eine mich immer wieder erheiternde Ironie besteht in der Tatsache, dass man Cleo ständig eine erfolgreiche Karriere absprach, da sie eine zu gute Stimme habe. Umso mehr erfreut mich der Erfolg einer nun von allen Seiten anerkannten Künstlerin.

John engagierte sich wahnsinnig, angetrieben durch einen regelrechten Fanatismus, und das konnte mitunter lustige Konsequenzen haben. Einmal bereitete er ein Jazz-Konzert für Matyas Seiber in der Festival Hall vor und arbeitete dabei mit seinem Arrangeur Dave Lindup, der mit der Band immer auf Tour ging. Da die Arrangements unbedingt fertig gestellt werden mussten, buchte John eine Hotelsuite und fragte ausdrücklich, ob er sich mit Dave ein Zimmer teilen könne, um den Großteil der Nacht durchzuarbeiten. Der Empfangschef reagierte mit einem zweifelnden Gesichtsausdruck, wobei ihm wahrscheinlich Vorurteile über das Musikerleben durch den Kopf gingen. Die beiden ließen sich davon nicht aus der Ruhe bringen, gingen auf ihr Zimmer und dachten nicht mehr darüber nach.

Als sie von dem Gig zurückkehrten, begannen sie unverzüglich mit der Arbeit. Um 4 oder 5 Uhr morgens drehte sich Dave zu John und meinte: „Mir fallen die Augen zu. Ich kann nicht mehr und brauche unbedingt Schlaf.“ Er entkleidete sich und fiel auf das eine Bett, während John mit ungebrochener Kraft weiter arrangierte.

Um 7 Uhr holte auch ihn die Müdigkeit ein, doch es war schon viel zu spät, um noch ins Bett zu gehen. Er legte die Arbeit beiseite, duschte, zog sich an und ging zum Frühstück. Als er sich den Marmeladentoast schmecken ließ, kam ihn in dem Sinn, dass er nicht nur um ein Doppelzimmer gebeten hatte, sondern dass die Zimmermädchen sofort sehen würden, dass nur ein Bett benutzt war. Als die beiden das Hotel verließen, zogen sie einige hochgradig suspekte Blicke auf sich.

Aus verständlichen Gründen empfand John rassistische Bemerkungen als abgrundtiefe Beleidigung und legte sich mit jedem an, der sich abfällig über eine andere Hautfarbe äußerte. Allerdings amüsiert er sich immer noch über einen Zwischenfall beim lokalen Obst- und Gemüsehändler, wo er sich etwas Obst kaufen wollte. Er entdeckte vielversprechende Weintrauben und sagte zum Verkäufer: „Ich hätte gerne einige Pfund dieser Trauben. Sie sehen ja äußerst schmackhaft aus.“

Doch als die Bedienung die Kiste von der Anrichte zog, bemerkte er das Etikett „Südafrika“. Er sah plötzlich keinen Grund mehr, sich die Früchte zuzulegen, und meinte: „Moment mal. Die Trauben kommen aus Südafrika, oder? Ich habe es mir überlegt und möchte sie nun doch nicht.“

Der Mann schaute ihn ein wenig unterkühlt an und antwortete: „Tja, vielleicht haben Sie ja recht. Man kann ja nie wissen, was für Nigger die angepackt haben.“

Nach dem Erfolg von „Experiments With Mice“ folgte Johns nächster Riesenhit „African Waltz“. Er wurde von dem aufstrebenden Songwriter Galt McDermott verfasst, den damals kaum jemand kannte. Wir nahmen später noch einige seiner Stücke auf, wie zum Beispiel „I Know A Man“ mit Rolf Harris. Das war noch lange vor der Zeit, in der er das berühmte Musical schrieb, das ihm zum Millionär machte – Hair. McDermott gehörte zu den Songschreibern, die sich in den Büros der Verleger in der Denmark Street rumdrückten und dabei versuchten, ihre Stücke zu verkaufen.

Zwischen der Moderne und den alten Zeiten besteht ein großer Unterschied: Heute4 werden alle Stationen des kreativen Prozesses von den Plattenfirmen überwacht, ja, sogar die Verleger stehen bei ihnen unter Vertrag. Früher waren Verleger eine starke und unabhängige Kraft. Wenn sie einen Komponisten akzeptierten, gehörte es zu ihrem Aufgabengebiet, den Song bei Plattenfirmen und den Radiomoderatoren vorzustellen, wodurch die Chancen auf einen Hit enorm stiegen. Hatte man keinen Verleger, der einem den Rücken stärkte, brauchte man mit dem Komponieren erst gar nicht anzufangen. Und so hingen die Songwriter sprichwörtlich an den Türen der Verlage und hofften auf ein Vorstellungsgespräch mit den Verantwortlichen, wie es einige Jahre später bei den Plattenfirmen genauso der Fall sein sollte.

Ich musste kontinuierlich Komponisten abweisen, was sich bis jetzt nicht geändert hat. Hörte ich mir tatsächlich alle angebotenen Stücke an, dann bliebe mir keine Zeit mehr zur Plattenproduktion. Unsere heutige Vorgehensweise besteht darin, dass sich ein Gremium durch das Material arbeitet und ausgesuchte Stücke empfiehlt. Wenn der Song womöglich etwas Besonderes darstellt, hören wir ihn uns selbst an.

Ein Grund für die damalige Stärke und Position der Verleger lag im Defizit der Singer/Songwriter, da damals weniger Menschen dieser Berufung nachgingen. Zudem gab es noch die klare Unterscheidung zwischen dem Interpreten und dem Komponisten. Die Interpreten befanden sich auf ständiger Suche nach gutem Material, und die Komponisten taten ihr Möglichstes, ihre Stücke vorzugsweise bei den bekanntesten Interpreten unterzubringen. Und so versuchte der Songwriter die Akzeptanz eines Verlegers zu gewinnen, der den notwenigen Kontakt zu einem populären Künstler unterhielt.

Natürlich wollten alle Künstler einen Nummer-1-Hit landen. Falls ein Konkurrent ein Stück ergatterte (das nach ihrer Meinung ihnen selbst zugestanden hätte) und es damit schaffte, schob man uns die Schuld dafür in die Schuhe. Zum Beispiel: Norman Newell, der für den Pop-Katalog von Columbia zuständig war, landete mit Danny Williams’ Version von „Moon River“ einen Riesenhit. Wir von Parlophone nahmen das Stück nicht auf, und so war es gut möglich, dass eine Eve Boswell (sie stand bei uns unter Vertrag) mich anmeckerte und mir vorwarf: „Wieso habe ich ‚Moon River‘ nicht gehört? Und warum habe ich die Nummer nicht aufgenommen?“ Zu so einem Wutausbruch hätte die gute Frau leider jegliche Berechtigung gehabt.

„Moon River“ stellte sich für meinen Assistenten Ron Richards als großes Fiasko heraus. Ich entsandte ihn ins Kino und erwartete einen Bericht und eine Einschätzung der Musik. Er schaute sich den kompletten Film an und schickte ein Memo: Er habe sich die Hintergrundmusik angehört, aber nichts Lohnenswertes entdecken können! Doch wir alle machen solche Fehler. Ich vertiefte mich immer mehr in das Geschäft und lernte die Journalisten, die Rundfunkmoderatoren, eigentlich die gesamte Branche kennen. Mit Noel Whitcomb vom Daily Mirror verband mich eine innige Freundschaft. Wie ein Lauffeuer hatte eine Nachricht die Runde gemacht, die auch uns nicht kaltließ. Einige Kids spielten erfolgreich in den sogenannten Coffee Bars, und so entschieden wir uns, dieses Phänomen genauer unter die Lupe zu nehmen. Eines Abends im Jahr 1957 besuchten wir die Two ’I’s Coffee Bar in Soho, um uns den neuen Act Tommy Steele and the Vipers Skiffle Group anzuschauen. Wir bestellten einen Kaffee, setzten uns hin und beobachteten den genialen jungen Mann, der mit seiner Gitarre in Hüfthöhe über die Bühne wirbelte. Mein erster Eindruck fiel nicht sonderlich positiv aus – ich stufte ihn als eine blonde Papp-Imitation von Elvis Presley ein. Noel teilte meine Einschätzung. Tommy hatte zwar viel Energie, doch seine Stimme klang nicht besonders gut – zumindest die wenigen Melodiefetzen, die ich hören konnte, denn die Vipers waren extrem laut und er nicht.

Von heute aus betrachtet wirkte die Show harmlos, doch in jenen Tagen empfand ich sie als schockierend, ähnlich musikalischer Masturbation. Die zur Schau gestellten Beckendrehungen stießen mich ab, da ich mich rein auf die Musikalität und Qualität seiner Stimme konzentrierte. Noel stimmte mir zu: „Da ist nichts.“ Und so ließ ich Tommy Steele an mir vorbeiziehen.

Aber ich mochte die Band und den Mut, mit dem sie ihre Musik umsetzten. Ich bot ihnen einen Vertrag an und produzierte mit ihnen viele erfolgreiche Platten. Doch Tommy Steele abzuweisen war offensichtlich eine große Dummheit, denn Decca trat einen Tag später an ihn heran, nahm den Sänger unter ihre Fittiche und machte einen großen Star aus ihm. Ich beichtete Sir Joseph Lockwood das Versäumnis, der damals die Geschäftsführung der EMI übernommen hatte. Er war offensichtlich sehr verärgert darüber. Ich hätte lieber mal den Mund halten sollen. Seit dieser Zeit habe ich Tommy schon mehrmals aufgenommen, woraufhin sich eine innige Freundschaft entwickelte, doch leider macht das den Fehler nicht ungeschehen.

Allerdings gibt es auch Entscheidungen, aufgrund deren Manager unfair behandelt werden. Dick Rowe von der Decca ist klassisches Beispiel dafür. Er wurde bekannt als „der Mann, der die Beatles abgelehnt hat“ und muss dieses Kreuz nun bis zu seinem Grab tragen. Doch es ist unfair, denn jeder in Großbritannien lehnte die Beatles ab. Der einzige Unterschied zu Dick Rowe bestand darin, dass er genügend Grips hatte, ihnen Probeaufnahmen zu gewähren – und das nicht nur ein Mal, sondern zwei Mal. Er zog es eindeutig in Betracht, die Band unter Vertrag zu nehmen. Statt ihn dafür anzuklagen, dass er sie letztendlich ablehnte, sollte man ihn wegen der Weitsicht loben, da er ihnen nun mal eine Chance gab, als alle anderen ablehnend reagierten.

1954 erledigte ich beinahe alle Aufgaben für Parlophone, und Oscar arbeitete kaum noch. Lockwood war der neue Geschäftsführer, was für die Firma einer frischen Brise gleichkam. Eine Zeit lang hasste ihn jeder wegen seiner Skrupellosigkeit. Allerdings zog er den Karren der EMI aus dem Dreck und brachte das Unternehmen auf Kurs.

Im Juli des Jahres bestand ich meine Führerscheinprüfung und startete in die „vierrädrige“ Welt. Das fragliche Vehikel war eine 1935er Austin Ten Cambridge Limousine, die mich 60 £ kostete. Das Gefährt war sicherlich nicht makellos, doch ein ideales Anfängerauto. Ich befand mich wegen der bestandenen Prüfung in Hochstimmung. Zurück im Büro, bot ich Oscar an, ihn nach Hause zu fahren, also zur Arkwright Road in Hampstead, nicht weit von den Studios entfernt gelegen.

Dankbar sagte er zu, und wir machten uns um 18 Uhr auf den Weg. In bester Laune steuerte ich die Finchley Road hinunter und näherte mich der Ampel beim John-Barnes-Kaufhaus. Natürlich schaltete ich – nach dem Erhalt des Führerscheins ein erstklassiger Fahrer – vom oberen in den dritten Gang zurück. Doch ohne dass ich mich versah, hatte ich den langen Schaltknüppel mit einem kugelförmigen Aufsatz, der weit unten im Fahrerraum befestigt war – komplett in der Hand!

Mit der nötigen (und aufgesetzten) Gelassenheit reichte ich Oscar das „amputierte“ Fahrzeugteil meines neuen Spielzeugs und meinte: „Würde es dir etwas ausmachen, den Knüppel ganz kurz zu halten?“ Ich steuerte den Wagen ganz vorsichtig an den Bordstein. Die Schaltung hatte sich im dritten Gang verkeilt. Das war nichts mehr zu machen. Was für eine Erniedrigung und Schmach! Und Oscar fuhr mit dem Taxi nach Hause!

Wenn man meine erste Automobilerfahrung als wenig glücklich beschreiben will, so war ich mit den Verhältnissen bei der EMI noch unzufriedener. Das erste Problem bestand in der Vergütung, besser gesagt, der unzureichenden Vergütung. Nach drei Jahren war mein Lohn auf läppische 13 £, 9 Schilling und 3 Pence gestiegen, wovon mir nach den Abzügen noch 12 £, 6 Schilling und 8 Pence blieben. Die EMI hatte schon immer schlecht gezahlt, da sie glaubten, dass ein attraktiver Job eine angemessene Kompensation sei. Sogar Oscar wurde niemals angemessen entlohnt. Nach 50 Dienstjahren, während deren er ihnen sogar verschiedene Erfindungen vermacht hatte, erhielt er als Abschiedsgeschenk eine Ausgabe der Encyclopaedia Britannica. Das blieb ihm also nach all den Jahren.

 

Als mir Frank Lee von Decca 1954 einen Job mit einem Jahreseinkommen von 1.200 £ anbot, war ich darauf erpicht, augenblicklich zuzuschlagen. Meine erste Tochter Alexis (Kosename: Bundy) war im vorhergehenden Jahr zur Welt gekommen, und meine wirtschaftliche Lage war mehr als dramatisch. Nach Abzug der laufenden Kosten plagten mich ständige Bargeldprobleme. Ich ging also zu C.H. Thomas, dem ersten Manager von EMI Records, und sagte: „Mir hat die Arbeit viel Freude bereitet, vielen Dank auch, aber der Lohn ist nicht gut genug. Ich habe eine neue Anstellung angenommen.“

Nun, ich sagte das frei heraus und dachte überhaupt nicht daran, damit den Grundstein für ein regelrechtes Gefeilsche zu legen. Für mich war das kein Trick, um an mehr Lohn zu gelangen. Damals dominierte eine eindeutig moralische Grundhaltung mein Verhalten, und ich hätte Skrupel gehabt, so zu taktieren, was vom heutigen Standpunkt aus gesehen schon ziemlich naiv war.

Doch der weltgewandte Thomas fasste es anders auf.

„Meinen Sie nicht, dass Sie sich recht unfair verhalten?“

„Wie meinen Sie das?“

„Ich kann es nicht zulassen, unsere Firma in eine Art Konkurrenzsituation zu bringen.“

„Ich glaube, dass das nicht nötig ist“, antwortete ich und legte dabei meine Naivität offen. „Wollten Sie mir mehr bezahlen, hätten Sie das sicherlich schon gemacht.“

„Tja, ich möchte Sie nicht verlieren und biete Ihnen hiermit die gleiche Summe an.“

Soweit ich mich erinnern kann, waren es letzten Endes 1.100 £, also eine geringere Summe, doch Thomas versicherte mir, dass ich nach Oscars Ausscheiden aus dem Arbeitsleben Parlophone übernehmen dürfe, wenn es nach ihm gehe. Ich glaube, dass diese Perspektive den Ausschlag zum Bleiben gab, denn es war nicht sicher, was nach Oscars Pensionierung geschehen würde. Ich hatte Thomas erklärt, kein alter Knochen werden zu wollen, kein unbedeutendes Zahnrädchen im Getriebe. Ich wollte noch in meiner Jugend etwas erreichen! Und so nahm ich sein Angebot an und musste Frank Lee von Decca anrufen und absagen, der ziemlich verärgert reagierte, was mich nicht überraschte.

Obwohl ich der EMI die Treue hielt, gab es noch einige Gründe, derentwegen ich mich unwohl fühlte. Mein Tagebuch verweist auf eine Notiz für ein Memo, dass ich dem Management schicken wollte. Der Eintrag lautet: „Als ersten konkreten Fall muss ich die Problematik mit Ron Goodwin ansprechen, dem Künstler, der im letzten Jahr für den höchsten Umsatz gesorgt hat. Er ist speziell wegen der Ausbeute verbittert, denn von den zuletzt veröffentlichten drei Platten – insgesamt hat er bislang sechs Tonträger produziert – wurde nur eine im Rundfunk gespielt. Dieser Faktor, im Zusammenhang mit der unglücklichen Präsentation von Parlophone in den USA, die britische Interpreten als weitaus schlimmer empfinden als überhaupt keine Präsentation, bewegte Ron dazu, die Unterschrift unter die optionale Klausel bezüglich einer längeren Kooperation in seinem Vertrag zu verweigern, der im November auslief. Der Verlust eines solchen Künstlers ist katastrophal.“

Der Fall verärgerte mich auch, da Ron ein guter Freund geworden war, zu dem ich eine so enge Beziehung hatte, dass er später bei meiner Hochzeit mit Judy Trauzeuge wurde. Ron war ein aufstrebender Arrangeur, den mir Dick James 1953 vorstellte, also ein Jahr, nachdem ich begonnen hatte, ihn aufzunehmen. Dick sang genau wie Eve Boswell in einer Band und zählte zu den ersten Künstlern, die eher zu meinem Stamm gehörten und nicht zu Oscars. Ich produzierte mit ihm einige erfolgreiche Platten, wie zum Beispiel „Robin Hood“. Da er jedoch Familie hatte, stand er dem Tourleben durch die Provinz ablehnend gegenüber. Schließlich gab er die Auftritte in den Music Halls auf und wurde Verlagsvertreter bei Sidney Bron, dem Vater von Eleanor. Doch 1953 sang er noch und schlug Ron Goodwin (nun einer unser besten Filmkomponisten) als Arrangeur seiner Platten vor.

Ähnlich ärgerte mich die Behandlung eines weiteren Freundes, nämlich Kenneth McKellars. Der Tagebucheintrag lautet: „Wir haben die Dienste eines brillanten, jungen Tenors aus Schottland verloren, den wir vor zwei Jahre aufnahmen. Ich bin mir sicher, dass er mit einer adäquaten Unterstützung einen vergleichbaren Erfolg wie den von Robert Wilson errungen hätte. Ich bin mir auch sicher, dass die Firma schon bald seinen Weggang bedauern wird. Er hat sich für Decca entschieden, da sie sich enthusiastischer bei der Förderung und Publicity zeigen. In seiner Erklärung beschwerte er sich: ‚HMV oder Columbia sind sicherlich keine schlechten Labels, doch man sieht niemals Produkte von Parlophone in den führenden Schallplattengeschäften.‘ Obwohl wir solch eine Anschuldigung nach außen hin bestreiten, bin ich der festen Überzeugung, dass sie stimmt.“

Der Eintrag der Notiz stammte vom Ende 1954, doch ich hatte Kenneth schon 1947 kennengelernt, während er noch Forstwirtschaft an der Universität zu Aberdeen studierte, wo meine erste Frau im Chor sang. Während meines Studiums an der Guildhall durchlief er eine Ausbildung am Royal College of Music in London. Er besuchte uns oft in Acton und half beim Bau eines Kamins.

Nach dem Einstig bei Parlophone überredete ich ihn zu einer Probeaufnahme in den Abbey Road Studios. Kenneth hatte eine sehr schöne Stimme, und ich nahm von 1951 bis 1955 acht Titel mit ihm auf. Leider entwickelte sich keiner der Songs zu einem Hit, was ich teils auf die mangelnde Unterstützung zurückführe und möglicherweise auch auf die enge Beziehung zwischen Oscar und Robert Wilson. Für Oscar nahm Wilson immer noch die Rolle eines Königs ein, dem kein Konkurrent an die Seite gestellt werden durfte. Da Parlophone in Schottland praktisch eine Monopolstellung einnahm, war er gleichzeitig die Stimme des Landes, ein Status, in dem ihn Kenneth nach einigen Jahren ablösen sollte. Oscar stand kurz vor der Rente, und wenn ich seine Stellung bekäme, würde ich alles dafür geben, Kenneth unter meine Fittiche zu nehmen. Ich sagte ihm: „Ich bereite schon mal einen Vertrag für dich vor. Wir werden den Durchbruch schaffen! Ich hoffe, ich darf bei der Umsetzung meiner Pläne auf dich als Schlüsselfigur zurückgreifen.“

Sie können sich sicherlich die Enttäuschung vorstellen, als er mir von dem unausschlagbaren Angebot von Decca berichtete und seiner Absicht, die Zusammenarbeit mit Parlophone zu beenden. Auch eine Erhöhung unseres Angebots hätte ihn nicht umstimmen könne, da seine Entscheidung feststand. Decca, ein gutes und marktbestimmendes Label, hatte ihm ein anständiges Angebot gemacht. Parlophone wirkte im Vergleich dazu wie eine Sandkastenfirma, stand kurz vor einem Wechsel in der Führung und sollte in der Zukunft von einem Mann geleitet werden, der im Grunde genommen nur ein frisch von der Hochschule kommender Musikstudent mit einem Quäntchen Erfahrung war. Ich durfte ihm nicht böse sein.

Im Frühjahr 1955 hatte Oscar das Rentenalter erreicht und verschwand (mit seiner Enzyklopädie). Sir Joseph Lockwood bestätigte offiziell meine Ernennung zum Leiter von Parlophone, eine durchaus abenteuerliche Entscheidung, denn ich war ein Grünschnabel mit nur wenig Erfahrung im Musikgeschäft. Doch mir eröffnete sich eine große Chance. Ich war der Boss eines Plattenlabels und auf mich allein gestellt!

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