Diez Hermanas

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»NEIN!« schrie Sibel in den Hörer hinein. Hat er sonst noch irgendetwas gesagt?«

»Er sprach vom ewigen Leben. Immer wieder stammelte er D.H.!D.H.! Dann erschien Paul. Löwenherz verstummte wie am Tag zuvor und dieser Fascho warf mir düstere Blicke zu. Zehn Minuten später rollten sie 251011M9 Richtung OP-Trakt.«

»Hast du seine Klamotten durchsucht? Irgendwelche Anhaltspunkte gefunden?«

»Ja, da war ...« Bob unterbrach abrupt seinen Satz. »Sibel ich muss auflegen, Paul beobachtet mich. Er hat einen merkwürdigen Blick drauf! Mein Gott, sie sind dabei Löwenherz einer Lobotomie zu unterziehen!«

Sibel starrte den Hörer entgeistert an. Das kann nicht sein, flüsterte sie. Mit fliegenden Fingern wählte sie Mikels Nummer.

»Was soll ich nur tun, Mikel?«, stöhnte Sibel, nachdem sie ihn auf den neuesten Stand der Dinge gebracht hatte.

»Du solltest dich krankmelden, Sibel. Das Ganze fühlt sich nicht gut an. Okay? Ich muss jetzt zur Probe und anschließend zum Soundcheck. Sehen wir uns morgen?«

»Ja«, flüstere sie. »Ich komme vorbei.«

2011 - 19.4., 19:00

Großbritannien

London,

Royal Nurse Hospital

Zwei Tage später

Szene 34

Innenaufnahme: Pflegezimmer im Halbdunkel. Paul steht inmitten des Zimmers mit dem Telefonhörer am Ohr und gießt sich mit der freien Hand einen Kaffee ein. Im überquellenden Aschenbecher liegt eine brennende Zigarette.

»Alles planmäßig verlaufen?«

»Alles okay«, antworte Paul. »Habe allerdings keine Ahnung, was diesen Bob umtreibt. Ich glaube, der hat Lunte gerochen.«

»Ist er wichtig? Kann man ihn drehen?«

»Zwei Mal nein!«

»Okay, wir kümmern uns.«

2011 - 19.4., 23:00

Großbritannien

London,

Farringdon Road

Szene 35

Innenaufnahme: Ein in Plüsch gehaltenes Varieté. Caféhaustische eingedeckt mit bordeauxroten Tischdecken und kleinen Gaslampen. Seitlich der kleinen Bühne hängen schwere, rote Samtvorhänge. An der Decke rotiert eine silberne Diskokugel. Die Bar, ebenfalls mit rotem Leder ausgepolstert, ist spärlich beleuchtet.

Nach einer Stunde war der Gig beendet. Es hatten sich ungefähr achtzig Leute an diesem Abend eingefunden. Bedauerlicherweise hatte kein Blatt auf die Veranstaltung 'Lost Children' hingewiesen. Kein Wunder, dass kaum Leute erschienen sind, raunte Steve. Das schummrige Licht wurde nun hoch gedimmt, ein tagheller Spot erleuchtete die Bühne. Die Band räumte ihr Equipment zur Seite, um der folgenden Rednerin Platz zu machen.

Steve:

Als ich sie sah, traf mich der Schlag! Vor mir auf der Bühne, zum Greifen nah, stand eine blondierte Griechin. Als Erstes fielen mir ihre Lippen ins Auge. Wie Julia Roberts, schoss es mir durch den Kopf. Sie lächelte ein wenig unsicher. Ein Lächeln, das von einem zum anderen Ohr reichte. Sie trug einen hellroten Lippenstift. Ihre hellblau-grauen Augen, denen eines Huskys in ihrer Intensität um nichts nachstehend, funkelten in einer Tiefe, die ich nie für möglich gehalten hätte. Ein Perlmutt schimmernder Lidschatten unterstrich die Intensität ihres Blickes. Die Augenbrauen waren sichelartig gezupft. Sie war nicht groß, vielleicht 1,70. Ihr mediterraner Teint war mit einigen Sommersprossen durchsetzt, die ihr etwas sehr Frisches und Jugendliches verliehen. Doch so ganz taufrisch war sie augenscheinlich nicht mehr. Ich entdeckte die ersten Krähenfüße in ihren Augenwinkeln. Das halblange, blondierte Haar, hatte sie hinter die Ohren gesteckt. Sie trug goldene Blattohrringe. Ich war wie gebannt. Selbst ihr teurer Businessfummel konnte mich nicht abschrecken. Sie trug ein blaues Kostüm, eine weiße Bluse und hautfarbene Nylonstrümpfe. Darunter zeichnete sich eine sehr weibliche Figur ab.

Sie brauchte eine Minute um sich zu sammeln. Dann räusperte sie sich. Sie stellte sich als Adriana vor und nach den üblichen Begrüßungsfloskeln, folgte Klartext:

»Weltweit verschwinden jeden Tag Hunderte von Kindern und tauchen nie wieder auf. Und das ist nicht nur ein Phänomen, das sich auf Kontinente wie Afrika, Asien oder Südamerika beschränkt. Nein, auch bei uns, in der westlichen Welt, verschwinden täglich Kinder. Ich habe am eigenen Leib erfahren, wie das ist.« Ihre Stimme stockte, sie räusperte sich und fuhr sich mit der rechten Hand durchs Haar. »Meine beiden Kinder Damian und Penelope wurden zusammen mit fünfzehn weiteren Kindern vor etwas mehr als drei Monaten aus einem Kindergarten in der Nähe von Thessaloniki entführt. Ich weiß, dass es einigen hier im Saal genauso ergangen ist. Dass sie auf der Suche nach ihren Kindern sind. Zehn Nationalitäten sind heute vertreten – und damit die Sprache kein Verständigungsproblem wird, habe ich Dolmetscher engagiert. Ich möchte ein umfassendes Netzwerk und eine Datenbank aufbauen, damit wir uns organisieren können. Jeder von uns ist verzweifelt, und wenn die Behörden das Problem ignorieren, so müssen wir zur Selbsthilfe übergehen. Dazu ist der Abend gedacht. Abschließend möchte ich mich noch bei der Band bedanken, die auf Bitte unserer Leidensgenossin Barbara, heute Abend ohne Gage aufgetreten ist.«

Im Anschluss fanden sich die Betroffenen zu kleinen Gruppen zusammen und diskutierten engagiert.

Adriana gesellte sich zur Band.

»Noch einmal persönlich, herzlichen Dank!« Ihr Englisch klang gebrochen.

Sie ist voller Tatendrang und voller Stolz, eine Powerfrau, dachte Sibel. Sie beobachtet, wie Steve und Adriana sich die Hände reichten. Hoppla, da funkt‘s aber gewaltig, war ihr erster Gedanke. So hatte sie Steve noch nie erlebt. Er hatte mit einmal diesen unbeholfenen Ausdruck, den sie von Mikel kannte. Doch auch Adriana schien beeindruckt. Sie lächelte von einem Ohr zum anderen und zeigte dabei ihre strahlend weißen Zähne.

Mit steigendem Interesse, beobachtete Sibel den Funkenflug zwischen Adriana und Steve. Der coole Typ lässt tatsächlich die Maske fallen, grinste sie still in sich hinein.

»Ich bin ihnen auf der Spur!« In Adrianas Augen stieg ein bedrohliches Funkeln. »Und ich werde nicht eher Ruhe geben, bis ich Gewissheit habe, was mit meinen Kindern geschehen ist. Sie sind diesem Ring zum Opfer gefallen, da bin ich sicher. Genauso wie ich mir sicher bin, dass Damian und Penelope noch leben!«

Sibel hielt den Atem an.

»Von welchem Ring sprichst du?«

»Sie sind organisiert. Ich denke, dieser Kinderhändlerring verkauft die entführten Kinder weltweit an elternlose Supereiche.«

»Oder missbraucht sie für eigene Interessen«, warf Sibel ein. »Doch wie und wem willst du auf der Spur sein?«

»Mein Onkel Sirius ist Chef bei der E.Y.P.«

»E.Y.P., was ist das?«, mischte sich nun Steve in das Gespräch ein. Es fiel ihm sichtlich schwer, seine Augen von Adriana zu lassen. »Das ist die Bezeichnung für den griechischen Geheimdienst, besser bekannt unter der englischsprachigen Bezeichnung N.I.S. Das steht für National Intelligence Service. Mein Onkel Sirius hat mich einen Blick auf seinen Schreibtisch werfen lassen. Ich habe mir Zugang zu geheimen Dossiers verschafft. In Europa soll es eine zentrale Sammelstelle geben. Alle Spuren führen nach Italien, nach Ponte di Legno. Dort, in der Lombardei, an der Grenze zu den Provinzen Sondrio und Trentino soll es ein Lager geben – gut versteckt in den Alpen, Richtung Bozen. Es gibt allerdings untrügliche Anzeichen, dass auch ein Lager in der Nähe Londons existiert.« Adriana strich die Haare hinter die Ohren und schaute nachdenklich.

»Was hast du vor?«

»Sibel, was wir brauchen, ist Öffentlichkeit. Ich werde denen auf die Pelle rücken. Ich (sie stockte) will (erneutes Stocken) meine Kinder zurück!«

Zum ersten Mal an diesem Abend zeigte Adriana so etwas wie Schwäche. Sie biss sich auf die Lippen, um einen Schluchzer zu unterdrücken.

»Wie können wir dir helfen?« Sibel legte eine Hand auf ihre Schulter.

»Helft mir dabei, Augen und Ohren offen zu halten. Ich brauche Leute, die mir dabei helfen die Großräume der Flughäfen unter die Lupe zu nehmen. Kommt es dort zum Beispiel irgendwo zu regelmäßigen Großeinkäufen, abweichend von den bekannten Abnehmern. Einkäufe, die darauf schließen lassen, dass eine größere Gruppe außerplanmäßig versorgt wird. Der kleinste Hinweis könnte wichtig sein. Und wie sieht die Situation in den Heimen, Krankenhäusern und Kliniken aus. Gibt es verschlossenen Stationen, hinter deren Türen unbekannte Gruppen untergebracht sind?«

»Heime, Krankenhäuser«, murmelte Sibel.

»Ich möchte hier ein Netzwerk aufbauen!«

»Du kannst auf mich zählen«, murmelte Sibel und wandte sich dann zur Überraschung aller schnell ab. Sie zog ihr Handy aus der Tasche und wählte mit verbissener Miene eine Nummer.

»Was ist los? Wo willst du hin? Wen rufst du an?« Mikel war ihr nachgeeilt.

»Ich versuche, Bob zu erreichen. Nach dem Anruf aus der Klinik habe ich nichts mehr von ihm gehört.« Sibel hob beunruhigt eine Augenbraue und fixierte Mikel. »Was soll ich tun, wenn er sich nicht meldet? Er geht schon wieder nicht ran!« Mit verstörter Miene ließ Sibel das Handy in die Seitentasche des offenstehenden Kapuzenpullovers gleiten.

»Hey ihr beiden Turteltäubchen!« Steve grinste und rieb sich die Hände.

»Was haltet ihr davon, wenn wir noch zu uns fahren? Adriana würde sich gerne anschließen.«

Gute Idee, hatte Mikel geantwortet. Sibel nickte zustimmend. Zehn Minuten später verließen sie den Klub. Es nieselte. Sibel schlotterte. Sie schlugen die Kragen ihrer Mäntel und Jacken gegen die Kälte hoch und zogen die Schultern ein, unschlüssig, ob sie nach einem Taxi Ausschau halten sollten.

 

»Lasst uns bis zur nächsten Station laufen«, hatte Steve schließlich vorgeschlagen und war dabei Adriana nicht von der Seite gewichen. Die beiden hätten gegensätzlicher nicht sein können. Doch augenscheinlich zogen sie sich wie gegenpolige Magnete an.

Sie gingen nebeneinander her und schwiegen. Das Quietschen und Klackern der Sohlen und Absätze auf den verwitterten Gehwegplatten waren die einzigen Geräusche, die an ihre Ohren drangen. Die Stadt schien wie ausgestorben. Bei diesem Scheißwetter, kein Wunder, dachte Sibel. Schließlich durchbrach Mikel das Schweigen, als er einem einsamen Straßenverkäufer, der vor dem stärker werdenden Regen Schutz in einem Hauseingang gesucht hatte, die aktuellste Ausgabe des Mirror aus der Hand pflückte.

»Mal schauen, was es Neues bei den Gunners gibt«, feixte Mikel um die Stimmung ein wenig aufzulockern und wischte dabei mit der Linken durch sein regennasses Gesicht.

Der Himmel hatte sich pechschwarz verfärbt. Die ehrwürdigen Straßenlaternen suggerierten ein Licht, das dem von trüb ausgeleuchteten Aquarien ähnelte. Im Eilschritt legten sie nun die letzten Meter bis zur U-Bahnstation zurück und umkurvten dabei die immer tiefer werdenden Pfützen. Als sie schließlich die Rolltreppen erreichten, atmeten sie erleichtert durch. Mikel drehte sich über die Schulter und reichte nach einem flüchtigen Durchblättern die Gazette an Sibel weiter.

»Hier hast du was zu studieren, auf der Suche nach Auffälligkeiten«, zwinkerte Mikel.

Sibel schüttelte unmerklich den Kopf und hing ihren Gedanken nach: Weshalb macht er jetzt auf locker und oberflächlich? Es scheint, als habe er mit Steve die Rollen getauscht. Dann fiel ihr Blick auf den Mirror und im nächsten Moment gefror ihr das Blut in den Adern.

Mord in Kensington: Gestern gegen 0:30 wurde ein junger Mann an der Haltestelle High Street Kensington von einer herannahenden Bahn aus Hammersmith erfasst. Er war auf der Stelle tot. Es scheint sich dabei jedoch offensichtlich nicht, um einen Unfall gehandelt zu haben. Augenzeugen wollen gesehen haben, wie der Mann von zwei schwarz gekleideten Personen vor die herannahende Bahn gestoßen wurde. Bei dem Getöteten handelt es sich um den 25-Jährigen Pfleger Bob Salt.

Sibel drückte Mikel die Zeitung in die Hand und ließ sich auf die nächststehende Holzbank niedersinken. Sie wurde kreidebleich. Sie zitterte. Mikel legte den Arm um Sibel und sie bettete schluchzend ihren Kopf an seine Schulter. Geschlagene zehn Minuten saßen sie schweigend, während die U-Bahnen ein und ausfuhren und ständig neue Passagiere auf den schmutzigen Bahnsteig ausspuckten.

Später hatten bis in die frühen Morgenstunden in der Sudbourne Road zusammengesessen. Es gibt keine Zusammenhänge, es kann keine Zusammenhänge geben, hatten Mikel und Steve am Ende jeder Diskussion resümiert. Doch Sibel wusste, dass Adriana das gleiche, seltsame Gefühl wie sie beschlich. Konnte man vor diesen Fakten die Augen verschließen:

o Entführungen

o ein Arzt, der sich weigert, Testreihen mit verbotenen Psychopharmaka an Kindern durchzuführen und dafür lobotomiert wird

o ein Zeuge, der dem Verbrechen zu Nahe kommt, wird vor den Zug gestoßen

Wie sicher kann ich mich überhaupt noch fühlen? fragte sich Sibel.

Am frühen Morgen, als die anderen schliefen (Steve einen Arm um Adriana geschlungen), rief Sibel ihre Mutter an und bat um Rat. Nachdem sie Vici die Geschehnisse der letzten Tage geschildert hatte, war die sonst so starke Stimme ihrer Mutter in ein Flehen gewechselt:

Sibel! Bitte! Du meldest dich weiterhin krank! Sibel! Ist das klar? Treffe dich mit niemandem mehr aus der Klinik. Schau, dass du da rauskommst. Ich weiß, du denkst, dass ich überreagiere, doch es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die können wir nicht verstehen, erklären oder beeinflussen. Es gibt Dinge, die entziehen sich unserer Vorstellungskraft! Du solltest für eine Zeitlang das Land verlassen. Flieg zu Jefferey, deinem Vater. Du weißt, wo du ihn findest. Dort unten in Kanada, am Winnipeg Lake, bist du sicher.

Sibel fühlte sich zwar unwohl in ihrer Haut, doch ihre Mutter hatte für ihren Geschmack mal wieder überzogen hysterisch reagiert. Im Grunde genommen wollte sie sich Mikels und Steves Meinung anschließen: Dieser ganze Verschwörungsscheiß soll mir gestohlen bleiben, murmelte sie still in sich hinein. Sie beobachtete Mikel, der im Schlaf lächelte, und strich ihm eine Locke aus der Stirn.

2011 - 15.4., 15.00

Ecuador/Osomo,

Pazifischer Ozean,

auf halbem Weg zum

Galápagosarchipel

Szene 36

Außenaufnahme: Die Plattform auf der Klippe bietet einen imposanten Blick auf den tosenden Pazifik und auf eine Reihe von bereits neu entstandenen Gebäuden, die sich im Hinterland der hügeligen Dschungellandschaft nahezu perfekt einschmiegen. Am Fuß der Klippe, im neu errichteten Hafen, werden Öltanker und Frachtkähne gelöscht. Im nahe liegenden Yachthafen dümpeln eine Handvoll Luxusschiffe und drei von insgesamt sieben U-Booten der Klasse ‚Seawolf‘ vor sich hin. Vom nahe gelegenen Hubschrauberlandeplatz steigt ein voll bewaffneter Apache AH-64 E auf.Nordwestlich erheben sich aus einer gerodeten Fläche von insgesamt 25 Quadratkilometern unzählige Baukräne. Hier wird die neue Stadt Ramin in Höchstgeschwindigkeit hochgezogen. Geografisch gegenüberliegend, im Südosten der Insel, planieren Raupen auf einer Länge von 2,5 Kilometern eine Flugzeugpiste in den Dschungel.

»Geht das nicht schneller?« Aira schrie mit hochrotem Kopf in ihr Mobiltelefon. »Nächste Woche ist die Landebahn fertig! Ist das klar? Ansonsten rollen Köpfe! Und du weißt, das sind nicht nur Worte!«

Mit einem spöttischen Grinsen beendete Aira das Gespräch und ließ ihren Blick von der Plattform aus in die Ferne schweifen.

»Wir werden die Welt beherrschen. Was meinst du Kati?« Aira trat von der Brüstung der Plattform in den Schatten der riesigen Kokospalme und bediente sich an der aus edlem Teakholz gezimmerten Bar. Während die Eiswürfel im Martini klirrten, schaute Katla von ihrem Macbook auf und nickte. Die 1,95 Meter große Lesbe mit Nazischeitel hatte sich an die Verniedlichung ihres Namens noch nicht gewöhnt.

»Die Zahlen sehen gut aus, die Nachrichten, die uns erreichen, sind durch die Bank weg positiv.«

»Sehr gut! Lass uns nach unten gehen und einige Dinge besprechen. Ich möchte mir gemeinsam mit dir die Analysen unserer DHs anschauen.« Aira bog ihren Körper durch und befeuchtete mit der Spitze der Zunge ihre vollen Lippen

»Danach werden wir mit dem Jeep zum Strand runterfahren und uns noch ein wenig amüsieren, Kati.«

Katla zog unmerklich eine Augenbraue hoch und nickte. Beide verließen die Plattform über eine Wendeltreppe zur nächsten Ebene. Von dort nahmen sie einen chromblinkenden Aufzug in das Innere des Felsmassivs.

Szene 37

Innenaufnahme: Der Raum, der sich vor ihnen ausbreitet, als sich die Türen des Lifts mit einem leisen Stöhnen öffnen, misst an die 300 Quadratmeter. Seeseitig ist er durch riesige Boden-Deckenfenster begrenzt. Der Blick über das Meer bis hin zum flirrenden Horizont ist atemberaubend.

»Setz dich Katla und lies mir vor, was die Schwestern im Detail berichten.«

Beide ließen sich, auf indisch anmutenden Sitzkissen, nieder. Und während K-DH, das Laptop auf den Knien, die notwendigen Files öffnete, goss Aira Tee aus einem vergoldeten Samowar in schwarze Teeschalen.

»Unsere Marilyn – sorry, P-DH, berichtet, dass die politischen Flächenbrände, die wir im Nahen Osten und den Vereinigten Staaten gelegt haben, zu den avisierten Anschlägen und Blutbädern geführt haben. In einigen Regionen rechnen wir in Kürze mit kriegerischen Auseinandersetzungen. Von den 193 Staaten, die Mitglied der UNO sind, tanzen mittlerweile zwanzig nach unserer Pfeife und fünfzig kooperieren. Weiteren fünfundzwanzig werden gerade die Daumenschrauben angelegt. Dazu passt der Bericht von Schwester F-DH über kollabierende Finanzmärkte. Die internationale Großindustrie beschränkt sich mittlerweile auf ungefähr 100 Unternehmen von veritabler Größenordnung. Auf knapp ein Drittel haben wir laut I-DH 'starken Einfluss'. Die Verunsicherung ist immens und wird tagtäglich und weltweit über unsere kleine, dicke Engländerin angeheizt. PR-DH propagiert den Untergang und die Medien steigen darauf ein. Denn wir beeinflussen mittlerweile zweiundvierzig Prozent der weltweiten Medienunternehmen. Die Bevölkerung wird mit Belanglosigkeiten, entertaint und schluckt parallel manipulierte News. Auch in diesem Sinne leistet unser Dickerchen ganze Arbeit. Die enge Vernetzung der Kommunikation mit den S-DH-Bereichen Satellitenüberwachung und Spionage führt zu nie gekannten Möglichkeiten der Infiltration, schreibt unsere rassige Spanierin. Und dann, jetzt kommt das Größte«, Katla schlug sich vor Lachen auf die Schenkel:

»Das Konzept des sozialen Netzwerks geht voll und ganz auf. 1,5 Milliarden Mitglieder! Unglaublich, oder? Wir sind fähig, auf einen Schlag riesige Massen zu mobilisieren. Unser bleichgesichtiger Student hingegen wird als Held gefeiert. Als Erfinder einer neuen Welt. Kannst du dir das vorstellen?«

Katla lachte und klatschte vor Begeisterung in die Hände.

»1,5 Milliarden geben ihre intimsten Daten freiwillig preis. Fantastisch oder?«

Aira fiel in das ausgelassene Gekicher mit ein:

»Ein netter Nebeneffekt. Doch unser wahres Wissen und die damit verbundene Weltherrschaft beziehen wir aus den transatlantischen- und pazifischen Glasfaserkabeln. Wir werden denen immer einen Schritt voraus sein, Schätzchen!« Aira bettete ihren Kopf auf Katlas Oberschenkel.

»Weiter«, befahl sie.

»W-DH gibt sich optimistisch, dass es ihr in den kommenden drei Monaten gelingen wird, fünfzig Prozent der Bildungs- und Wissenschaftsebenen zu infiltrieren. ‚Die Bildungsinhalte der kommenden Generationen legen wir fest ‘, schreibt sie.«

Aira nickte.

»Genau so, wie du es vorausgesagt hast«, flüsterte Katla.

»Weiter meine Liebe.«

Katla legte die Hand auf Airas Schulter und fuhr fort:

»Unsere Army-DH zettelt täglich Unruhen und Massaker in Afrika an. Der Nahe Osten und damit angrenzende Länder wie die Türkei werden in anstehende Auseinandersetzungen hineingezogen. Darüber hinaus berichtet sie von ca. 570 Hinrichtungen, die in der letzten Woche vollzogen wurden. Möchtest du Einzelheiten hören?«

»Nein, das langweilt mich«, grinste Aira. »Was berichtet unsere Pharma- und Medizin-DH. Gibt es Neuigkeiten?«

»Die weltweite Manipulation mithilfe von Psychopharmaka hat ungeahnte Dimensionen angenommen. Psychische Gehirnwäschen und manuelle Gehirnmanipulation wurden um siebzig Prozent gesteigert.«

»Die Götter in Weiß und deren industrielle Helfershelfer lassen sich am einfachsten manipulieren und schmieren.«

Aira klatschte vor Vergnügen in die Hände, eine Gefühlswandlung, die man äußert, selten bei ihr sah.

»Warte ab«, lachte sie. »Das ewige Leben lockt. Das ist unsere Trumpfkarte. Wir werden zu diesem Thema kommende Woche eine Sondersitzung mit allen DH‘s abhalten. Wir müssen Lösungen finden! Bedarf und Nachfrage sind kaum zu decken. Wenn uns auf dieser Ebene der Durchbruch gelingt, liegt uns die gesamte Welt zu Füßen! Schreibe eine Mitteilung an alle DH’s und richte ihnen meinen Dank aus. Und erinnere sie daran, dass Sex der Machtfaktor No. 1 ist!« Noch während des letzten Satzes, schob Aira ohne Umschweife eine Hand zwischen Katlas Beine und grinste sie herausfordernd an.

2011 - 20.4., 23:50

Großbritannien

London, Kensington

Stratford Road

Szene 38

Innenaufnahme: Sibel hat sich auf der weißen Schlafcouch ihres Apartments ausgestreckt. Der Deckenfluter ist gedimmt und wirft ein gedämpftes Licht in den Raum. Sibel trägt ein schwarzes Schlaf-Shirt mit dem Aufdruck „Psychodelic Furs“. Sie hat ihr Tagebuch aufgeschlagen und schreibt:

Das war ein sehr schöner Tag! Wir haben zusammen gefrühstückt. Und nachdem Steve angeboten hatte Adriana zum Hotel zu begleiten, bin ich mit Mikel zum Caton Ridge gelaufen, um über den Brixton Markt zu schlendern. Ich liebe dieses bunte Treiben. Die Reggae-Farben, die Gerüche fremdländischer Küchen. Das Multikulti der Sprachen. Die fliegenden Händler. Die stolzen Turbane. Das duftende exotische Obst. Die bunten, wehenden Kleider und Gewänder. Den verspielten Schmuck, der Duft nach Räucherkerzen und den Gute-Laune-Karibiksound.

 

Für Momente hatte ich das Gefühl, die einzige Weiße auf diesem Planeten zu sein. Doch ganz blütenweiß bist du ja selbst nicht, du alte Zigeunerin, hatte Mikel geneckt. Ich fühle mich wohl an seiner Seite. (Sibel seufzt wohlig und zieht die karamellfarbene Wolldecke bis unters Kinn). Mikel hat sämtliche Stände nach alten Platten durchstöbert und irgendwann stolz mit einer Scheibe von Third World gewunken. Das Cover war abgegriffen.

Er schien wieder der Alte zu sein. Gefühlvoll, schüchtern, tollpatschig. Er hat drei Mal nach meiner Hand gegriffen und dabei zwei Mal ein Bier verschüttet (Sibel seufzt glücklich und wirft einen Blick auf die Uhr, fast Mitternacht). Und dann habe ich mich tatsächlich getraut (sie schlingt den Gunners-Schal, der nach Mikel riecht um ihren Hals und träumt mit offenen Augen, als sie sich an die Szene vom Morgen erinnert): Darf ich dich umarmen, habe ich gefragt. Mikel lächelte unbeholfen und seine blonden Locken fielen ihm dabei in die Stirn. Du bist das Schönste, was mir je begegnet ist, flüsterte er.

Er zieht mich an seinem Geschenk, dem Gunners-Schal, zu sich heran. Er ist ganz nahe. Ich werfe einen Blick auf sein Grübchen, auf sein Muttermal – und dann in seine Augen. Er lächelt. Darf ich dich küssen, fragte er? Dann berühren sich unsere Lippen. Seine Hände auf meiner Schulter, an meiner Taille, an meiner Wange, in meinen Haaren, an meinem Rücken, auf meinem Hintern. Ich spüre ihn, wie er sich an mich drängt. Mein Herz! Schlägt. Pocht! Heftig! Wir liegen uns in den Armen und strahlen uns an. Es ist der 20. April, die Sonne strahlt wie ein Vorbote des Frühlings: Vögel trillern kraftvoll, Autos hupen fröhlich und Bobbys sehen freundlich nickend weg, während Rastas Joints in die Runde reichen. Ich halte dich fest, hatte Mikel geflüstert. Alles andere ist egal!

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