Diez Hermanas

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Sibel verdrehte die Augen zur Decke und deutete auf die Akten:



»Alles nur Spinnerei?«



»Ich weiß ja nicht, um was es hier geht«, schaltete sich Bob ein. »Doch mir ist echt nicht nach Scherzen zumute!«



»Erzähl, was ist los!«



»Es geht um 251011M9.«



»Was ist los, mit ihm?«



»Du hast mich gebeten, ein Auge auf ihn zu werfen. Hast mir erzählt, er glaube, Arzt zu sein und, dass er sich verfolgt fühlt.«



»Richtig. Er verriet mir, dass er mittels nicht frei gegebener Psychopharmaka Experimente an Kinder durchführen sollte.«



»Seine Erinnerung scheint zurückzukommen. Er hat sich mir anvertraut«, raunte Bob. »Er sprach von einer Organisation, die Experimente im Bereich der Gehirnmanipulation durchführt, um Menschen aus dem Verkehr zu ziehen. Auch an Privates konnte er sich erinnern. Er glaubt, Single zu sein und in Brighton als Arzt zu praktizieren. Er habe Todesangst. Er glaubt, man wolle eine transorbitale Lobotomie bei ihm durchführen!«



»Was?« entfuhr es Sibel. »Wo? In unserer Klinik?«



»Ja«, antwortete Bob. Er war mittlerweile kreidebleich.



»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Steve und zupfte nervös an seiner Nase.



»Das ist eine neurochirurgische Operation und schon lange aus der Mode gekommen. Diese Therapie wurde durch Psychopharmaka ersetzt. Oh Gott, so eine brutale Scheiße. Das kann nicht sein!« Sibel war aufgebracht.



»Was passiert dabei?« fragte Mikel neugierig.



»Es ist eine Gehirn-OP, bei der die Nervenbahnen zwischen Thalamus und Frontallappen sowie Teile der grauen Substanz durchtrennt werden.«



»Das ist doch Papperlapapp. Wir sind doch hier nicht in Frankensteins Laborküche«, stöhnte Steve.



»Da bist du leider falsch informiert, mein Lieber. Auch wenn du es nicht wahrhaben willst, Frankenstein war immer unter uns. Ich schaue noch mal genau nach, antwortete Sibel und griff nach einem medizinischen Schinken.«



Nach zwei, drei Minuten peinlichen Schweigens, wurde sie fündig:



»Hier: Die Hirnoperationstechnik wurde von dem Italiener Mario Fiamberti und dem Portugiesen António Egaz Moniz vorangetrieben. 1936 wurde sie erstmals am Menschen durchgeführt. 1949 erhielt Moniz den Nobelpreis für Medizin. Anfang der 40er Jahre entwickelte vor allen Dingen der Amerikaner Walter Freeman die Methode zu einer populären Standardtechnik der Psychiatrie. Wurde bis 1955 in den meisten Industriestaaten eingesetzt«, las Sibel weiter. »Die massenhaften psychischen und psychiatrischen Erkrankungen waren in den USA eine Folge des Zweiten Weltkriegs und der Weltwirtschaftskrise ...«



»Die haben also operiert, was das Zeug hält?« fragte Bob ungläubig.



»Hier steht«, fuhr Sibel weiter fort: »Walter Freeman schrieb ohne Beschönigung: Die Psychochirurgie erlangt ihre Erfolge dadurch, dass sie die Fantasie zerschmettert, Gefühle abstumpft, abstraktes Denken vernichtet und ein roboterähnliches, kontrollierbares Individuum schafft. Walter Freeman ließ jedoch auch nach der Einführung von Psychopharmaka und der weitgehenden Ablehnung der irreversiblen operativen Methoden in der Praxis nicht von seiner transorbitalen Lobotomie ab. Sein Wille, die Methode zu verbreiten und Kollegen zu überzeugen, erreichte dabei bizarre Auswüchse: So operierte er vor den Augen zahlreicher Zuschauer sowohl im Fernsehen als auch in Hörsälen Patienten im Akkord (mehrere Dutzend pro Tag). Zeit seines Lebens pries er die Lobotomie als optimale Behandlungsform und operierte bis zu seiner Pensionierung 1962 weiter, insgesamt ca. 3600 Patienten.« *P.R. Breggin: Elektroschock ist keine Therapie, 1989, Urban & Schwarzenberg, S. 175.



»Und das ist auch heute noch erlaubt?«



Mikel schien wie vor den Kopf gestoßen.



»Verboten ist es jedenfalls nicht, so weit ich weiß.« Sibel kaute nervös auf einer Haarsträhne. »Hier steht es: Bei der Lobotomie werden die Nervenbahnen zwischen Thalamus und Frontlappen sowie Teile der grauen Substanz durchtrennt – und zwar im Nerotex-Abschnitt. Angewendet zur Schmerzausschaltung, bei Psychosen und Depressionen. Folgen: Persönlichkeitsveränderung mit Störung des Antriebs und der Emotionalität.«



»Am Hirn herumschnipseln, wo gibt’s denn so was?« Steve verzog angewidert das Gesicht.



»Das ist ganz normal«, erwiderte Sibel. »Heute macht man das mit Hilfe von Lasern, Ultraschallaspiratoren und Neuronavigationssystemen. Das Laserzielgerät wird dabei am Mikroskop angeschlossen. Setzt man vor allen Dingen bei Gehirntumoren und Hirnblutungen ein. Wie immer kann man diese Methode zu guten Zwecken nutzen oder zu schlechten missbrauchen. Doch eine Lobotomie verheißt meines Erachtens nichts Gutes!«



Sibel musterte Bob nachdenklich. »Was hat Löwenherz noch gesagt?«



»Er fantasierte von Manipulationen apokalyptischen Ausmaßes.

Auf allen Ebenen haben sie uns bei den Eiern

, sagte er wortwörtlich.

Auch hier in eurer Klinik sind sie unterwegs.

 Immer wieder wiederholte er den Begriff

Diez Hermanas.

Keine Ahnung, was er damit andeuten wollte, oder was es damit auf sich hat.«



»Hmmm,« Sibel schaute nachdenklich. »

Diez Hermanas

ist Spanisch und


heißt übersetzt

zehn Schwestern.

«



»Noch jemand einen Zug?« fragte Steve, der liegend mit dem Kopf unter den Couchtisch abgetaucht war.



Erneut entstand eine längere Redepause.



»Sie müssen es sein«, durchbrach schließlich Sibel das Schweigen.

Diez Hermanas. Zehn Schwestern.

 Das Matriarchat lebt. Zustra zieht nach wie vor die Strippen.« Wie ferngesteuert ging ihr Blick zur Tür. »Vielleicht schieben wir auch grundlos Panik.« Mikel hustete, als er den Rauch ausblies. »Wahrscheinlich hat dieser Löwenherz einfach nur Panik. Schaut, er hat sein Gedächtnis zumindest teilweise verloren. Klar, dass der am Rad dreht. Aber diese fixe Idee mit der Lobotomie kann er ja auch einfach so in seinem kranken Hirn erdacht haben.«



»Sein Hirn ist nicht krank«, stellte Bob tonlos fest.



»Hat er sonst noch irgendetwas von sich gegeben?« Sibel wurde zunehmen nachdenklicher.



»Er wollte mir noch etwas zuflüstern. Doch als Paul das Zimmer betrat, verstummte er und schloss im gleichen Augenblick die Augen.«



»Paul«, murmelte Sibel. »Paul!«



»Du hast morgen frei. Versuch, den Abend zu genießen«, lächelte Bob, als er sich erhob und seinen roten Zopf band. »Ich melde mich, falls es


irgendwelche besonderen Vorkommnisse geben sollte.«



»Halt ich komme mit«, echote es unter dem Couchtisch hervor. »Ich bin im Eimer. Ich muss ins Bett«. Steve gähnte herzzerreißend und dachte, mit Blick auf Sibel:

Mikel hatte recht. Die ist ja komplett hysterisch. Nein, die Braut ist mir zu chaotisch. Nicht meine Kragenweite. Kurve kratzen und weg!



»Oh großer Aufbruch?« Mikel, der in einen Aktenordner vertieft war, schaute erstaunt auf.



»Wenn du magst, bleib noch. Ich würde mich freuen.« Sibel legte ihm eine Hand auf die Schulter.





Nachdem sie die beiden verabschiedet hatte, verriegelte Sibel geräuschvoll die Tür und atmete tief durch. Mikel schaute auf und lächelte:



»Bin ich jetzt dein Gefangener?«



»Wenn du willst«, entgegnete Sibel mit rauchiger Stimme.

Ist es nicht an der Zeit, mal auf andere Gedanken zu kommen und sich angenehmeren Dingen zu widmen.

Dann erschrak sie, unsicher ob sie das nun laut gesagt – oder tatsächlich nur gedacht hatte.



»Ich öffne noch eine Flasche Wein. Magst du?« fragte sie daher mit Unschuldsmiene.



Mikel nickte:



»Gerne.«



»Oasis?«



»Klingt gut.«



»Hatte ganz schön einen sitzen, der Gute«, murmelte Sibel und hockte sich im Schneidersitz neben Mikel.



»Ganz schön krass, was du zusammengetragen hast. Was treibt dich dazu?« fragte Mikel so mitfühlend wie nur irgend möglich.



»Lange Geschichte.« Sibel nahm einen tiefen Schluck Wein und fixierte das Poster der Umweltorganisation

Save Turtles

. »Mit Ausnahme von Liz habe ich noch niemandem in London davon erzählt.«



Mikel breitete die Arme aus, als wolle er sagen

nur zu. Schieß los, ich kann zuhören

. Das Werfen des rechten Armes zur Seite kam allerdings eine Spur zu schwungvoll. Ergebnis: Die Schüssel mit Chips hob ab und flog durch die Luft wie eine Rakete beim Start, am Ende des Countdowns.



»Oh no!«



»Halb so wild«, grinste Sibel. »Ich werde morgen saugen.«



»Bekomme mich heute schlecht koordiniert. Sorry, ich bringe das gleich in Ordnung.«



»Nein, bleib sitzen.« Sibel atmete tief durch. »Ich bin ein wenig vorbelastet durch die Geschichte meiner Ma. Und was ich erzähle, ist keine Spinnerei. Ich bin auch nicht halb so labil, wie das manchmal den Anschein haben mag. Doch die Geschichte rund um diese radikale Sekte ist nicht herbeifantasiert.«



Sibel brach ab, umfasste ihre Knie und bog den Oberkörper durch. Mikel ertappte sich dabei, wie sein Blick an ihren straffen Brüsten hängen blieb, die durch das Tank-Top nur schwerlich gebändigt wurden. Ein leises Stöhnen und ein verzweifelter Blick signalisierten, wie schwer Sibel die kommenden Sätze fallen würden.



»Meine Ma war eine Schülerin der Sektenführerin. Sie befand sich also im inneren Zirkel. Früh lernte sie die Regeln des Matriarchats. Eine hieß Unterwerfung des Gegners durch Sex. Darin waren die Mitgliederrinnen wohl spitze.« Ein kleines, gequältes Lächeln spielte in ihren Mundwinkeln.



»Und dann?« fragte Mikel mit leiser Stimme.



»Sie ist geflohen. Sie hat sich an den Hals des Nächstbesten geschmissen und ist mit ihm durchgebrannt. Sie war damals 15 Jahre alt. Diese Geschichte hat mich natürlich sensibilisiert.«



»Und dann hast du angefangen zu recherchieren?« Mikel deutete fragend auf die Ordner.

 



»Nein! Der Auslöser war ein anderer.«



Sibel schluckte, Tränen traten ihr in die Augen. Ihre Stimme wurde brüchig. Mikel nahm ihre Hand:



»Lass dir Zeit.«



Sibel sah ihm tief in die Augen und stöhnte auf:



»Ich habe in Neuseeland gelebt, das habe ich dir ja schon erzählt. Ich arbeitete mit meinem Freund Jan für die Umweltorganisation

Save Turtles.

Das schien nicht allen zu gefallen. Irgendwem waren wir im Weg. Frag mich nicht nach den genauen Hintergründen. Ich weiß, dass die Regierung damals Schwierigkeiten mit den Maori hatte. Deren Probleme als unterdrückte Ureinwohner und Minderheit waren natürlich vielschichtig. Unser Ziel war es, den Fang und den Verzehr von Meeresschildkröten zu unterbinden. Damit ging es den Maori gleichwohl an eine weitere Tradition. Für das, was dann allerdings geschah, tragen diese armen Menschen keine Schuld.« Sibel schluckte schwer. »Die hatten damit nichts zu tun, das habe ich recherchiert – und meine Ma auch.«



»Was passierte?« fragte Mikel mitfühlend und legte den Arm um Sibel.

Wie gut sie riecht,

dachte er.

Sie fühlt sich gut an.



»Eines Tages, Jan war mit einem Schnellboot unweit der Küste unterwegs, um durch Schiffsschrauben verletzte Schildkröten zu bergen, gab es plötzlich eine riesige Explosion. Ich bin sofort hin. Das Turtle-Hospital brannte lichterloh. Ich sah das Rettungsboot sich im schnellen Tempo dem Strand nähern. Jan winkte mir aufgeregt zu. Im nächsten Moment ...« Sibel schluckte, dann rollten Tränen über ihre Wangen. Sie begann, zu schluchzen. »Im nächsten Moment explodierte das Boot.« Sibel wurde nun von einem Weinkrampf geschüttelt und lehnte den Kopf an Mikels Schulter. Sie versuchte, die aufkommenden Bilder zu verdrängen.



»Die Explosion zerriss Jan«, flüsterte sie leise, nachdem sie sich wieder ein wenig gefangen hatte.



»Mein Gott!«



»Es ereigneten sich noch eine Reihe harmloser, aber merkwürdiger Vorkommnisse. Ma's Bauchgefühl signalisierte

Aufbruch.

 Dann sind wir Hals über Kopf weg und nach London gekommen.« Sibel schaute Mikel mit tränenunterlaufenen Augen an.



»True Story!« Sie begann erneut zu schluchzen und schmiegte sich Hilfe suchend an Mikels Schulter. Er nahm sie noch inniger in die Arme und begann ihren Kopf zu streicheln.

Es ist ein wunderbarer Zauber, der von ihr ausgeht,

 dachte er.



»Seitdem sammle ich alle abnormen Ereignisse, die sich weltweit zutragen. Es ist wie eine Sucht, fast krankhaft. Ob Erdbeben oder Vulkanausbrüche, überall vermute ich die große Verschwörung. Es ist zum Kotzen!«



»Pssst...« Mikel wiegte sie in seinen Armen, während im Hintergrund die Gallagher-Brüder die ersten Töne zu 'Wonderwall' anstimmten.



»Du hast schöne Hände«, murmelte Sibel und zog ihn noch ein wenig näher zu sich heran.



So verharrten sie lange zehn Minuten, bis Sibel sich schließlich löste. Schniefend setzte sie sich auf und rang sich ein gequältes Lächeln ab. »Lange her«, seufzte sie. »Aber manchmal kommt es einfach hoch. Ich habe Lust auf einen Tee. Magst du auch?«



Mikel fühlte sich sichtlich mitgenommen.



»Gerne«, antwortete er mechanisch.



»Und was passiert jetzt mit eurem Gig für Lost Children?«, fragte Sibel, indem sie sich über die Schulter drehte.



Sie sieht atemberaubend aus

, dachte Mikel.

Doch halt, sie ist auch der Traum deines besten und ältesten Freundes! Finger weg,

mahnte er sich.



»Den werden wir spielen, ist doch klar«, antwortete er kämpferisch. »Wir lassen uns von einem idiotischen Plattenheini doch nicht vorschreiben, für wen wir auftreten, und für was wir stehen!«



»Gut gebrüllt Löwe«, schmunzelte Sibel und reichte ihm eine Schale mit schwarzem Samowar-Tee.



»Ich habe seit dem Tod von Jan keinen Freund mehr gehabt.«



»Keinen Festen?«



»Japp! Und auch keine Affären. Nichts! Kannst du dir das vorstellen?«



Mikel musterte sie verstohlen, sein Mund wurde trocken und plötzlich zog es in seinen Lenden.



»Nein, ehrlich gesagt unvorstellbar«, antwortete er mit belegter Stimme.



»Jetzt erzähl mal was von dir.«



»Ach da gibt es nichts besonders«, legte Mikel stockend los. »Brav und bürgerlich und wohl behütet an der Südküste, in Chichester aufgewachsen. Mit neun Jahren lernte ich Steve kennen, wir gingen in die gleiche Klasse. Im Alter von zehn Jahren begannen wir gemeinsam im Klub zu kicken, beide im Mittelfeld. Mit zwölf begann ich Gitarre zu spielen. Steve erstand ein gebrauchtes Schlagzeug. Als wir fünfzehn waren, spielten wir in der ersten Band. Steve zog mit neunzehn nach London. Ich brauchte noch ein Jahr, hatte damals eine Trennungsgeschichte laufen. An meinem zwanzigsten Geburtstag packte ich schließlich meinen Kram und zog bei Steve ein. Wir schrieben uns für Journalismus und Kunst an der Uni ein. Im Grunde genommen haben wir aber immer nur Musik gemacht. Immer wieder in unterschiedlichen Bands gespielt. Diesmal muss es klappen. Ich meine, wir haben nicht ewig Zeit, ich werde nächsten Monat dreiundzwanzig Jahre alt.«



»Hey keine Panik, das ist doch kein Alter«, lächelte Sibel. »Schau mich an, ich werde nächstes Jahr siebenundzwanzig. Ich bin schon ganz verrunzelt«, grinste sie.



»Stimmt«, faxte Mikel. »Ich schenke dir bei Gelegenheit

Oil of Olaz

, das soll helfen.«



Sibel knuffte ihn mit aufgesetztem Entsetzen in die Rippen und ließ sich gegen ihn fallen.

Schon wieder dieses Kribbeln

dachte Mikel.

Wie gut sie sich anfühlt!

Sibel schloss für einen kurzen Moment die Augen und genoss:

Welch schönes Gefühl, ihn zu spüren.



Einen Augenblick später versteifte sich jedoch Mikels Körper.

 Was tust du hier

?, schoss es ihm durch den Kopf.

 Du bist verrückt!!! Steve ist in Sibel verknallt! Du kannst unmöglich deinen besten Freund betrügen!



»Alles okay, mit dir?« Sibels Gesicht war jetzt Mikels sehr nahe. Sie konnte seinen Atem spüren.

Hört er mein Herz pochen,

 fragte sie sich. Mikel konnte die innere Anspannung kaum noch ertragen. Instinktiv rückte er ein wenig von Sibel ab. Er wusste sich nicht anders zu helfen und schaute umständlich auf seine Armbanduhr.



Sibel:



In diesem Moment zersprang der Anfang von etwas, das sich sehr schön angefühlte, mit einem leisen Klirren. Es tat weh. Ich war verwirrt. Was hatte ich falsch gemacht? Hatte ich zu offensiv agiert?



Mikel:



Oh Mann, ich bin ein Idiot. Sie ist so verletzlich. So allein. Und jetzt enttäusche ich sie. Sibel ich möchte dich gerne weiter im Arm halten. Doch das darf nicht sein!









Mikel warf einen erneuten Blick auf die Uhr.




»Spät?« fragte Sibel mit unsicherer Stimme.



»Halb zwei, ich muss los«, antwortete Mikel mechanisch, während er sich erhob.



»Pass auf, schmeiß mir nicht den Tisch um«, witzelte Sibel, um die Situation zu überspielen. Mikel ging darauf ein:



»Haha immer auf die Kleinen«, äffte er. »Soll ich dir noch helfen, das Chaos zu beseitigen?« Mikel deutet mit einer Handbewegung durch den Raum.



»Nein, lass gut sein, das erledige ich morgen. Ich leg mich gleich hin.« Sibel druckste und drehte Mikel den Rücken zu. Sein Blick blieb an ihrer Wespentaille hängen. Haftete auf ihrem perfekten Hintern, der vom Minirock wie eine zweite Haut umspannt wurde. Wäre er seinem Instinkt gefolgt, so hätte er nun einen Arm um ihre Hüfte gelegt.



»Der letzte Teil des Abends war sehr schön«, lächelte Sibel, indem sie sich über die Schulter drehte. »Hier (sie streifte einen Armreif über ihr Handgelenk) – ich möchte ihn dir schenken. Einfach so, weil wir Freunde sind. Okay?«



»Okay«, antwortete Mikel sichtlich perplex. »Vielen Dank! Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.«



»Gute Nacht könntest du noch sagen«, lächelte Sibel, als sie die Wohnungstür entriegelte. Mikels Blick verfing sich an ihrem kirschroten Mund. Dieses Hochziehen der linken Oberlippe bis kurz vor dem Umstülpen, war ihm damals als Erstes ins Auge gesprungen. Anfangs hatte er es als leicht arroganten Zug interpretiert. Doch jetzt erschien ihm diese, auf den ersten Blick verunglückte Mimik offen, verführerisch, herausfordernd und hoch erotisch.



»Und jetzt raus mit dir, die alte Frau muss schlafen.«



Im Hausflur stehend, dreht sich Mikel noch einmal über die Schulter und knetet unbeholfen seine Baseballkappe. Dann hängte er ihr spontan seinen Gunners Schal um den Hals.



»Vielen Dank, Sibel! Es war sehr schön! Kommst du übermorgen zum Gig?«



»Denke schon«, antwortete sie mit einem Augenzwinkern.



»Aber ich wollte dir noch etwas sagen.«



»Was?«



»Du fühlst dich gut an.«



»Du auch«, stammelte Mikel, drehte sich zur Treppe um und nahm stolpernd die Stufen bis zum Erdgeschoss.





2011

 - 17.4., 2:30



Großbritannien



London,



Royal Nurse Hospital,





Szene 30







Innenaufnahme: Abgedunkeltes Pflegezimmer. Lediglich eine schwache Schreibtischlampe wirft ein fahles Licht auf Schränke voller Medikamente.





»

2

51011M9 wird zum Problem! Was sollen wir tun? Seine Kollegen in Brighton haben herausgefunden, dass er hier ist. Was nun? Exitus?«



Die Leitung am anderen Ende knackte, dann rauschte es.



»Nein, zu gefährlich. Zu offensichtlich. Zu viele unnötige Fragen, die unter Umständen Untersuchungen nach sich ziehen. Sprecht von einer schweren Krise, die eine schnelle Lobotomie unumgänglich machte! Danach hält ihn sowieso niemand mehr für zurechnungsfähig. Dann ist er erledigt. Das wird zwar auch unangenehm, aber damit kommen wir durch. Wir halten euch den Rücken frei.«









Sibel plagte währenddessen ein unruhiger Schlaf. Sie träumte von ihrer Mutter Vici.







VICIS PROLOG







2008

 - 15.10., 20:10



Rückblende



Deutschland



Köln, Spichernstraße





 N

iemals hätte ich damit gerechnet, noch einmal ein eigenes Baby im Arm zu halten. Doch nun ist sie da, unsere kleine Fernanda. Na ja, es war Winnis Wunsch, ihr diesen Namen zu geben.



Wir erleben einen wunderbaren Oktober. Die alten, majestätischen Platanen im Stadtgarten strahlen in herbstlichen Farben. Vor einem Jahr entdeckten wir diesen wundervollen Altbau in der Spichernstraße. Wer hätte gedacht, dass Winni und ich noch einmal zueinanderfinden würden? Unglaublich nach all den Jahren und nach all dem, was sich zugetragen hatte!



Es war mir nicht leichtgefallen, Sibel im Januar 2006 in London alleine zurückzulassen. Einerseits hatte sie schon lange auf dem Nestrand gehockt. Andererseits war sie nach den Vorkommnissen in Neuseeland und nach Jans Tod in einer jämmerlichen Verfassung. Zu allem Unglück hatte sie sich seit dieser Zeit in den Kopf gesetzt, gegen Zustras Matriarchat vorzugehen. Den Job, in der Klapse, sitze ich auf einer Backe ab, hatte sie mir beim letzten Besuch erzählt. Voller Stolz hatte sie eine Reihe von Ordnern und Festplatten präsentiert:

gesammeltes Material!

 Sibel trug dieses gefährliche Funkeln in den Augen, für das ich einst in meiner eigenen Jugend bekannt, berüchtigt und gefürchtet war.





Es war im Januar 2006, als ich ohne große Erwartungen nach Köln zurückkehrte. Hört sich das jetzt an, wie nach Hause kommen? Dann habe ich mich falsch ausgedrückt, denn ich war in dieser Stadt nie heimisch gewesen. Ich hatte die gesamte Welt bereist und es gab eine Handvoll Orte, die ich eher als Heimat bezeichnet hätte. Als ich jedoch über die Severinsbrücke fuhr und den Dom erblickte, fühlte sich das vom ersten Moment, richtig an.



Es war bitterkalt und der Himmel von einem trostlosen Grau. Doch entgegen allen Erwartungen waren die Menschen in prächtiger Stimmung. Sie feierten die fünfte Jahreszeit: Karneval!



Als mich schließlich nichts mehr in meiner Pension auf der Bonnerstraße hielt, erstand ich ein Piratenkostüm und ließ mich durch die Kneipen und Straßen treiben.



Plötzlich schunkelte ich mit wildfremden Menschen. Ja, so ist es: Schunkeln ist gut gegen Einsamkeit und Traurigkeit und vertreibt das Gefühl des Alleingelassenseins.



Ich genoss die oberflächlichen Berührungen und ließ mich von der Freude der Jecken anstecken.



















2006

 - 28.2., 14:00



Rückblende, zwei Jahre zuvor



Deutschland

 



Köln, Friesenstraße





Szene 31













Innenaufnahme: Eckkneipe. Karnevalsdienstag gegen 14 Uhr. Eine Unzeit. Die lustigen Tage sind gezählt. Am Abend wird der Nubbel verbrannt, und am nächsten Tag ist Aschermittwoch. Der Tag, an dem nach einem berühmten Karnevalsschlager, alles vorbei ist. Hinter der Theke stehen ein abgekämpfter Indianer, ein Lappenclown und eine Hexe mit Sonnenbrille. Aus den Boxen erklären uns die Bläck Fööss, weshalb es „in unsrem Veedel“ so schön ist. Über dem Tresen hängen drei Cowboys im Koma. Eine sichtlich gealterte Prinzessin knutscht währenddessen mit einem übergewichtigen Schornsteinfeger, was das Zeug hält. Am Ecktisch hat eine Gruppe von Clowns, Generälen und Meerjungfrauen dermaßen die Kontenance verloren, dass ihr Anblick geradezu das Auge beleidigt. Seibernd, lallend, schnarchend, sich mit Kölsch und Erbsensuppe besudelnd, stecken einige trotz allem begierig ihre Zunge in den Hals des jeweiligen Nachbarn. Ein Geruch nach Sauerem, nach Erbrochenem, nach Schweiß, Zigarettenqualm und abgestandenem Bier liegen in der Luft. Der Boden ist mit Kippen, Scherben und Resten von zertretenen Frikadellen übersät. Am Ende der Theke hockt ein belämmert dreinschauender Willi (das ist der Mann von Biene Maja) in einem gelb-schwarz geringelten Kostüm vor einer frisch gezapften Cola.







 A

ls ich die Kneipe betrat, hatte ich den festen Vorsatz gefasst:

noch ein Bier und dann heim.

 Unglaublich, doch ich hatte mich vom Karneval anstecken lassen und schmetterte „Du bess Kölle“ mit voller Inbrunst und dem Brustton der Überzeugung. London, Neuseeland und alles, was davor lag, schien Welten entfernt.



Ich steuerte auf das Ende der Theke zu und signalisierte der Hexe hinter dem Zapfhahn:

„en großes Kölsch“!

Alleine und etwas belämmert hockte eine männliche Ausgabe von Biene Maja vor einer Cola. Der Typ sah zum Schreien aus. Das Kostüm kleidete ihn unvorteilhaft. Die schwarze Badekappe mit den seitlich vom Kopf abstehenden Bömmeln (sagen wir Fühler) machte den Anblick nicht besser. Das Gesicht hingegen war wohl auf

„Sams“

geschminkt. Ich konnte nicht anders und prustete los:



»Na du fette Hummel. Gut drauf?«



Biene Maja schaute mich entgeistert an. Ihre Augen weiteten sich. Das Insekt stammelte irgendetwas in Richtung Lappenclown. Hörte sich an wie „

nen Doppelten“

! Dann griff er mit zittrigen Fingern nach seinen Zigaretten und fegte beim Versuch, die Kippe verkehrt herum anzuzünden seine Cola vom Tresen. Ich gab einen spitzen Schrei von mir und spürte, wie das Zuckergemisch vom Thekenbrett auf meine Piratenhose tropfte. Er starrte mich an und zog im Zeitlupentempo seine Badekappe ab. Und plötzlich bewegten sich seine Lippen, während er vom Barhocker zu kippen drohte:



»Oh mein Gott!!! Vici? Vici bist du das?!!!«



Kaum zu glauben! Doch so traf ich meine Jugendliebe Winni nach Jahrzehnten wieder. Wir waren gemeinsam vor den Killer des Matriarchats um die halbe Welt geflüchtet. Ich war damals fünfzehn Jahre alt und Winni dreiundzwanzig. Was soll ich sagen? Winni war immer noch der Alte:



FC-Fan und Dachdecker, von Grund auf ehrlich und auf liebenswürdige Art unbeholfen und tollpatschig.





Wir entdeckten unsere Liebe aufs Neue. Und nun halte ich Fernanda im Arm. Zum Glück hat sie deine Gene, feixten unsere Freunde. Nur diese überdimensionalen Segelohren hat sie von Winni geerbt, hatte meine Tochter Sibel beim letzten Besuch gelacht. Macht nix, da lassen wir Haare drüber wachsen, hatte ich glücklich gelächelt.





2011

 - 17.4., 14:00



Großbritannien



London, Brixton,



Sudbourne Road





Szene 32







Innenaufnahme: Die Küche von Steve und Mikel ist das reinste Chaos. Die zum großen Teil aus Sperrmüllmobiliar zusammengestellte Einrichtung macht einen erbarmungswürdigen Eindruck. Durch ein verschmutztes Fenster scheint trübes Zwielicht. Draußen regnet es in Strömen. Zwei gurrende Tauben tänzeln auf dem Fensterbrett. Der wacklige Campingtisch, der als Küchentisch dient, ist mit Gläsern übersät. In der Spüle türmt sich schmutziges Geschirr. Mikel betritt das Zimmer und legt eine CD der 'Strokes' ein.





M

ikel goss Tee auf und versuchte seine Gedanken zu ordnen, als er aus Steves Zimmer Gelächter vernahm. Verwundert sah er zur Tür seines Freundes. Darauf konnte der sich keinen Reim machen. Steve war doch gestern Nacht vor ihm aufgebrochen, war ziemlich angeknockt und wollte nach Hause … (?)



Was immer das zu bedeuten hat, ich werde es bald erfahren.

Mikel fühlte sich gerädert. Wilde Träume hatten ihn verfolgt – und immer wieder war Sibel darin aufgetaucht. Mit einem Seufzer ließ er sich auf der alten, durchgesessenen Couch aus braunem Cord nieder und streckte die Arme zur Seite, um sie auf der Rückenlehne abzulegen. Wenig später stutzte er, als seine Hände zuerst einen BH und wenig später einen weiblichen Schlüpfer ertasteten.

Was ist das?

fragte er halblaut, und betrachtete die Objekte wie Eindringlinge von einem anderen Stern.



Unglaublich

!

Er hat eine Braut abgeschleppt, das ist die einzige Erklärung.



Wie zur Bestätigung öffnete sich im gleichen Augenblick Steves Tür.



»Hi, ich bin Suzanne! Hast du vielleicht meine Unterwäsche irgendwo gesehen?«



Mikel blieb für einen Moment die Spucke weg. Da stand eine nackte Frau vor ihm. Nicht schwer zu erraten, dass sie Inderin war: dunkle Haut, tutti kompletti enthaart und mit verwischtem Make-up.



Mikel reichte ihr den BH und hob den Slip mit spitzen Fingern an.



»Willst du duschen?« fragte er mechanisch.



»Nein, lass gut sein, ich muss zur Spätschicht«, säuselte sie. »Tu deinem Freund einen Gefallen und bring ihm ein Aspirin – nein zwei. Am besten drei« grinste sie.



Mikel gönnte sich einen ausgiebigen Blick auf ihren nackten Schoß und prostete ihr mit der Teetasse zu:



»Na dann, guten Morgen!«



Fünf Minuten später fiel die Wohnungstür ins Schloss.



»Alter, brauchst du Aspirin?«



»Eine ganze Schachtel«, stöhnte Steve und baute sich im Türrahmen auf.



»Zieh dir was an, ich frühstücke«, stöhnte Mikel, ging zum Küchenschrank und fischte eine Packung Schmerztabletten aus einer zerbeulten Blechdose.



»Ich war noch im Fridge, als ich bei Sibel weg bin. War zu aufgedreht. Und geil! Und konnte nicht schlafen«, stammelte Steve. »Suzanne lief mir über den Weg. Hast du nichts gehört?«



»Nichts!«



»Erstaunlich! Sie hat geschrien wie am Spieß«, grinste Steve.



»Na dann hast du ja `ne nette Nacht verbracht«, feixte Mikel. »Und was ist mit deiner großen Liebe zu Sibel? Oder hast du dich gerade frisch verknallt?«



»Gestern Abend ist mir klar geworden, dass Sibel zu kompliziert ist«. Steve massierte seine Schläfen mit einem vor Schmerz verzerrten Gesicht. »Mit Suzanne das war ein One-Night-Stand, schätze ich. Und in Sachen Sibel ist die Bahn für dich frei«, grinste er gequält.



»Was meinst du denn damit schon wieder?«



»Ach Alter, glaubst du im Ernst, ich bemerke nicht, was ab geht? Aber Vorsicht, verrenn dich nicht. Das wird nicht einfach. Irgendwie tickt die nicht ganz sauber. Lass dich in nichts reinziehen.«



»Du machst mich fertig«, stöhnte Mikel und schaufelte drei Löffel Zucker in seinen Tee.





2011

 - 17.4., 14:45



Großbritannien



London, Kensington,



Stratford Road





Szene 33







Innenaufnahme: Die Fenster des Apartments sind geöffnet. Draußen regnet es ohne Unterlass. Sibel mit Schlüpfer und T-Shirt bekleidet versucht, Ordnung ins Chaos zu bringen. Im Hintergrund läuft Neil Young. Auf dem Herd pfeift ein altmodischer Wasserkessel.





 S

ibel war in Gedanken beim gestrigen Abend, beim Abschied von Mikel. Doch das plötzlich einsetzende Läuten des Telefons ließ sie aus ihrem Tagtraum schlagartig aufschrecken.



»Hi, hier ist Bob!«



Seine Stimme klingt gehetzt.

Innerhalb von Sekunden übertrug sich seine Anspannung auf Sibel.



»Sie haben Löwenherz verlegt!«



»Was ist passiert?«



»Keine Ahnung! Ich fürchte, die machen Ernst! Ich konnte noch kurz mit ihm reden.«



»Was hat er gesagt?« Si