Zwischen den Zeiten ist Nirgendwo

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Christoph lächelte sie an, zwirbelte an den Enden des verunglimpften Schnauzers und schaute verlegen zu seiner Frau.

„Jetzt ärgert euch nicht schon wieder.“ Jeanne fuchtelte mit ihrer Gabel spielerisch böse und schielte wissend zu ihrer Tochter.„Was macht die Liebe, ma cherié?“

Renie schob sich ein Stück Huhn in den Mund und blieb gelassen. „Wisst ihr, was mir hier oben in dieser einsamen Bergregion immer gefallen hat?“ Renie kaute und redete, ganz beiläufig. „Ich setz mich an euren Tisch und muss nicht gleich eine Power-point-Rechtfertigungskampagne starten. Guten Appetit.“

Jeanne und Christoph schauten sich irritiert an. Christoph schenkte Fendant nach. „Noch ein Schlückchen?“

„Gern, Papa.“ Sie stießen an und tranken. Draußen knatterte ein Traktor vorbei. „Schmeckt wieder mal sehr gut, Maman. Vielleicht beleg ich bei dir demnächst einen Kochkurs.“ Renie aß genüsslich weiter.

Der Vater stichelte sanft, froh über die gute Stimmung. „Für Fortgeschrittene oder Anfänger?“

Jeanne suchte einen Übergang zu nicht so oberflächlichen Themen. „Einen Kochkurs auch noch. Siehst abgespannt aus. Arbeitest sicher recht viel.“

Renie knabberte an einem Blumenkohlröschen. „Schon. Aber mein Auto hat großen Durst und ich ebensolchen Hunger. Das kostet. Bringt aber Befriedigung.“

Christophs Blick zu seiner Frau verriet Skepsis. „Schöne Befriedigung“, meinte er, „man erzählt sich, am See treiben sich superreiche Spekulanten rum.“

Renie nahm ein größeres Stück Blumenkohl in den Mund. „Oh, heiß! Verdammt.“ Sie saugte heftig kühle Luft ein und fächelte albern mit der Hand vorm Mund. „Spekulanten treiben sich überall rum. Und außerdem wüsste ich was davon.“

„Aufpassen, langsam essen“, lästerte Jeanne und versuchte ihre Frage so beiläufig wie möglich zu gestalten. „Und... weißt du was davon?“

Sie nippte am Wein, schaute über den Rand, um Renies Reaktion nicht zu verpassen. Renie beherrschte sich, nahm es sportlich. Sie hatte den Mund grad ziemlich voll, konnte nicht antworten, stockte aber sichtlich. Christoph war etwas unwohl zumute, zog wegen der provozierenden Frage die struppigen Brauen hoch, genehmigte sich einen Schluck und räusperte sich, als ob er sich verschluckt hätte. Renie ließ sich Zeit, spülte mit einem kräftigen Schluck nach. In ihr arbeitete es auf Hochtouren. Christoph zwirbelte seinen Bart.

Es war soweit, diesmal schneller als sonst. Die Stimmung in der Stube war angespannt. Renie tupfte sich sehr langsam die Lippen, legte die Serviette neben sich.

„Ich hatte ein sehr schönes Wochenende, Danke der Nachfrage, das völlig zu meiner Zufriedenheit verlief, heute morgen war ich in einer exquisiten Boutique, gönnte mir ein schönes teures Kleidungsstück. Heute Abend habe ich noch eine Verabredung mit einem potenten, `tschuldigung, potentiellen Kunden und freu mich drauf.“ Sie strich während ihrer Aufzählung beiläufig die Serviette glatt und legte sie zusammen. „Dazwischen versuch ich mir eine zusätzliche Freude zu machen, schau bei meinen Eltern vorbei, in der vagen Hoffnung, die sonst nicht unberechtigt ist, dass sie sich einfach mal freuen.“

Sie trank. Ihr Vater leckte zum dritten Mal seine Gabel ab, Jeanne sortierte ihre übrig gebliebenen Wildreiskörner am Tellerrand, mal hell, mal dunkel.

„Ihr seht also, es funktioniert alles zu meiner Zufriedenheit, ich hab mein Leben im Griff. Und auch den Job!“ Nun hatte sie sich doch ungewollt etwas in Rage geredet.

Jeanne und Christoph schauten sich an. Er kannte seine Frau lange genug, spürte, jetzt sei er an der Reihe. Also goss er Renie erst einmal Wein nach.

„Alles? Klingt gut.“ Er hob sein Glas. „Lass uns darauf trinken.“ Es war nicht der erste Disput über Renies Aufträge oder über die Immobiliengeschäfte, die gerne und von jedem, der keine Ahnung hatte, in den Bereich der halbseidenen Spekulanten und Geldwäscher geschoben wurde. Renie verstand auch nicht, warum sie ausgerechnet heute so dünnhäutig war, um sich derart provozieren zu lassen. Sie trank ihrem Vater zu. Oder meinten es ihre Eltern gar nicht so? Und nur sie spürte in jedem Halbsatz Misstrauen, weil sie doch zu absolutem Stillschweigen verpflichtet worden war und es sich von selbst verstand, nichts über dieses aktuelle Projekt bei niemandem, sei er auch noch so vertraut oder verwandt, anklingen zu lassen.

Normalerweise würden diese kleinen Dissonanzen nicht mal Kringel in der Suppenterrine erzeugen. Und diesmal? Renies Eltern erlebten, wie die Tochter wegen ihrer ganz alltäglichen und Anteil nehmenden Neugier – so sahen sie es zumindest – einen Generalangriff witterte. Aus heiterem Himmel.

Christoph war irritiert. Wie seine Tochter dasaß gefiel ihm gar nicht.

Besorgt betrachtete Jeanne ihren Mann. Gefiel ihr gar nicht, wie er dasaß. Sein schmales, sonnengebräuntes Gesicht wirkte blass. Das lag an den Augen, ein Phänomen, wovon sie jedes Mal fasziniert war. Seine Augen erzählten immer die ganze Geschichte, auch einmal eine andere, egal ob sein Mund lächelte, um etwas zu verbergen, egal, wie gesund er aussah. Ein Blick in seine Augen erzählte vom wahren Christoph.

Diese spielerische, aber auch manipulative Fähigkeit liebte sie an ihm - neben vielen anderen Dingen. Aber, wie es mit außergewöhnlichen Fähigkeiten oft war, sie gaben Anlass zur Sorge. Seine Augen plapperten immer zu schnell seinen Seelenzustand aus, ein Landwirt, fast zu sensibel, seine jungen Kälber neuen Besitzern zu übergeben, ein Vater, fast zu verständnisvoll, seiner sehr selbstständigen Tochter ins Gewissen zu reden.

Auch diese Aufgabe blieb wohl wieder mal an ihr hängen.

„Ich kann nicht über meine Arbeit reden, genauso wenig, wie du diesen dämlichen Schnauzer abnehmen kannst!“ Renie stand abrupt auf. „Ich muss mich jetzt entspannen.“ Und verschwand mit ihrem Weinglas Richtung Gartenhaus.

Als sie noch klein war, sollte dies ihr Haus werden, wenn sie mal groß wäre. Sie lachte über ihren Vater, wenn er sagte „wenn du mal groß bist und Sorgen hast, gehst du einfach in dein Haus“. Und jedes Mal antwortete sie lachend „Wenn ich groß bin habe ich keine Sorgen. Dann bin ich reich“. Dann lachten beide.

Nun war sie groß, es war ihr Haus, aber kaum hatte sie es sich in ihrer Matratzenecke gemütlich gemacht, war sie wieder klein.

Sie fühlte sich klein und sprach mit dem wuchtigen Birnbaum vorm Fenster über ihre Nöte. „Na du Baum, das war vielleicht eine einfache Zeit früher. Hab mich nur drum gesorgt, ob denn auch die Hecke hoch genug wächst, um mein Häuschen zu verstecken und ob du groß genug wirst, um es zu beschützen. Und hab ich nicht mit acht schon dem Fabian, dieser aufdringlichen Nervensäge von nebenan, sein halbes Taschengeld abgeluchst, weil er sich in mein Gartenhaus einmieten wollte? Jedes mal, wirklich, wie ein Bekloppter, ist er mit seinem Lolly im Mund durch die drei Räume stolziert und hat großspurig „meine Villa“ gesagt. Aber verändern durfte er nichts, nur da sein. Möbliert vermietet, sozusagen. Hat sich ja nicht viel geändert bei mir, mein lieber Baum. Nur dass ich für kein Geld der Welt diesem Fabian auch noch irgendwas vermieten würde.“

Es klopfte. „Herein!“ Renie spannte sich an, es gab nicht viele Möglichkeiten, wer da zu ihr wollte. Und war doppelt überrascht.

Es war nicht ihre Mutter.

„Darf ich mich zu dir setzen?“ Ihr Vater... sah irgendwie verändert aus.

Sie starrte ihn an, während er neben ihr auf die Matratze sank und zum weit offenen Fenster hinausschaute, als ob er nur deswegen ins Gartenhäuschen gekommen wäre. Der mächtige Giebel des Wohnhauses stellte sich ins gerahmte Bild, bis zur Hausspitze reihten sich auf vier Etagen rosafarbene Geranienfelder. Schwer und saftig kippten sie aus den überwucherten Kästen, als wuchsen sie direkt aus den Holzrahmen.

Christoph tastete verlegen über die nackte Stelle seiner Oberlippe. „Irgendwann musste er ja mal weg.“

Renies Blick blieb auch draußen, sie fragte gelassen: „Und – was denkst du jetzt?“ Das Haus hatte die Wirkung, die sie erhofft hatte. Ein auf Emotionen geeichter faradayscher Käfig, der jegliches Gezeter, alle Hektik abblitzen ließ. Auch ihr Vater lehnte entspannt an der Wand, wobei sie sich sowieso kaum an Momente erinnern konnte, wo er mehr als ein wenig aufgebracht war. Er reagierte nicht. Renie wiederholte. „Und – was heißt das jetzt?“

„Ist doch klar.“ Ihr Vater rührte sich überhaupt nicht. „Das heißt, dass ich meinen Part der mündlichen Vereinbarung eingelöst habe.“ Er machte eine Pause, als warte er das Nicken der stenographierenden Gerichtsschreiberin ab.

Zwei kleine Wolken zierten den Himmel über dem Giebel, es war eher kitschig als makellos. „Und jetzt wärst du dran. Natürlich nur, wenn du willst.“ Aus purer Gewohnheit wollte er seinen Bart zwirbeln – und griff ins Leere.

Renie schmunzelte, hatte die kleine Peinlichkeit aus dem Augenwinkel bemerkt. „Sieht gut aus. Aber die Kälber werden dich nicht mehr erkennen.“

„Gut aussehen, Quatsch! Schau mal genau hin. Weiße Mondsichel nach unten, der traurige Clown, na prima. Und ganz schön empfindlich, kann ich dir sagen.“ Auf einmal wurde er gesprächig. Er streifte sich die Slipper ab, zog die Beine auf die Matratze und legte seine Arme darum.

Renie tat es ihm gleich, „Ich bin wahrscheinlich auch grad sehr empfindlich, oder?“ So saßen sie Schulter an Schulter, teilten sich die Aussicht.

Und waren ruhig.

Christoph - und da unterschied er sich sehr von seiner Frau - musste nicht unbedingt den Takt vorgeben. Er hielt mehr davon, wenn derjenige, der etwas auf dem Herzen hatte, den Zeitpunkt bestimmen konnte, wann er sich Luft verschaffen wollte. Nicht drängeln, nicht nerven. Und wenn er Glück hatte, wurde die Geduld belohnt. Leider kein sicheres System, mit dem er arbeitete. Aber ein menschliches.

 

„Weißt du, was mir vorhin eingefallen ist?“ Renie hatte gar nicht vor, auf Antwort zu warten. „Ich hab mit acht den Fabian tageweise zur Untermiete genommen. Gegen cash natürlich. Würdest du mich deswegen als berechnend oder geldgierig abstempeln?“

Christoph lächelte. „Nur, wenn du aus seiner offensichtlichen Notlage und dem sehr knappen Markt Kapital geschlagen hättest und zum Mietwucherer mutiert wärst. Du hast halt wirklich schon früh angefangen, zu lernen, worum es geht.“ Und tätschelte ihr Knie. Renie ließ es zu. Schämte sich etwas, weil sie die erotische Komponente ihres Erfolgs verschweigen musste.

Christoph ahnte nicht, was seine Tochter auf dem Herzen hatte, darum lobte er weiter: „Was ja mit dem zweitbesten Jahresabschluss angemessen honoriert wurde.“

„Ich kann wirklich nicht klagen, Papa. Dreißig Leute würden mich ohne mit der Wimper zu zucken zum Teufel jagen, hundert Heiratsanträge hätte ich mir schon anhören dürfen, wenn ich den potentiellen Antragstellern nicht frühzeitig signalisiert hätte, besser das Maul zu halten. Und vierhundert mal tausend Franken kann ich verdienen, wenn mein Projekt gut am Start ist.“

Christoph hörte zu, nickte stumm. Etwas viel Geld in so jungen Jahren, dachte er, auch wenn er es ihr natürlich gönnte. Sie waren auch nicht grad Landwirte im herkömmlichen Sinn. Wir fahren zweigleisig, würde der bescheidene und verschwiegene Schweizer sagen, der Landwirtschaft und einen lukrativen Nebenerwerb geschickt verknüpfen konnte. Christophs Kälberzucht war mindestens so angesehen und prämiiert wie der kleine Handel mit selbstgebrannten Edeldestillaten.

Renie atmete tief. Es wurde aber doch ein Seufzer. „Ich bin in einer Position und in einer Situation, in der ich mir mittlerweile alles leisten kann. Nur eins nicht.“ Ihr Vater horchte etwas beunruhigt auf und war gespannt auf ihre Einschätzung.

„Skrupel.“

Seit dreißig Minuten stand Fred unter der Dusche, hatte sich lange und gründlich rasiert, wollte sich so genau wie möglich wiederherstellen, für diese Zeit. Keine Veränderung sollte man ihm anmerken. Nichts an ihm sollte zu Fragen Anlass geben, die er noch nicht beantworten konnte. Irgendwann vielleicht. Die Rückkehr, der Traum, der Alptraum. Fred stand im Wasserkegel und hoffte auf irgendeine Wirkung. Die Farbe der Fliesen störte, der Fugenkitt schien porös, der Wasserhahn wurde zu heiß. Aber eine Dusche war eine Dusche. Das Wasser reinigte und massierte seine Haut, die Anspannung darunter konnte es nicht aufweichen. Die vielen Ereignisse ließen sich nicht wie jahrhundertealter Staub einfach wegspülen.

Die Menschen im Mittelalter hatten ihre Eindrücke in ihm hinterlassen. In der beschlagenen Duschtür spiegelte sich stumpf sein Gesicht. Wie auf einer Moritatentafel blätterte sich bei jedem Lidschlag eine Geschichte durch seine Erinnerung, zeigte ihm Menschen, die er zurück gelassen hatte.

Fred zwang sich mit einem üppigen Frühstück zurück ins einundzwanzigste Jahrhundert. Aber er knabberte lustlos an einem Stück Käse, tunkte es zur Abwechslung in die Marmelade. Zur Abwechslung? Weswegen brauchte er schon wieder Abwechslung? War er nicht sowieso zerstreut? Verwoben mit den Geschichten seiner mittelalterlichen Gefährten?

Es nützte nichts. Fred konnte seine Gedanken nicht bändigen, zu chaotisch sprangen sie durcheinander, mehrere Erinnerungen spielten sich gleichzeitig in den Vordergrund. Auch was er draußen sah, war anders. Der See, er war nicht wiederzuerkennen, so sehr Fred sich auch anstrengte, die Farben, die Töne der Wellen an der Uferbefestigung – unerhört.

Der See. Lag da seit zwanzigtausend Jahren, als der Rheingletscher in die Alpen zurück schmolz. Mal mehr, mal weniger gefährlich, in wechselnden Farben, je nach Wasserstand und Sturm. Lag einfach da. Sozusagen schon immer. Kein Fremder. Für Niemanden. Nur für einen.

Fred hatte die Herrin im Kopf. Und den Papst. Seine Haut juckte, so heftig versuchte er sich an den Namen der Dirne zu erinnern, die auf seinem Schoß saß. Und wo blieb sein Gefühl? Er schaute zum Steg und roch den Gestank der Kloaken, deren ärmlicher Kanal von ähnlichen Planken bedeckt war. Der Käse in der Hand roch nach ranziger Butter und der Rücken schmerzte seit Tagen, weil er die harte Pritsche nicht gewohnt war. Und drang aus dem Bootsschuppen nicht das Geschrei eines Trunkenboldes, der seine Frau verprügelte? Gleich würden drei oder vier halbwüchsige Kinder rausstürmen, dreckig, notdürftig bekleidet, und davonrennen. Sein Blick huschte mit ihnen, vorbei an der Hecke bis zum Gartentor. Aber da war niemand. Ein Holztor aus breiten Latten, oben zugespitzt, wie es im Mittelalter auch nicht anders war.

Für 14 Uhr hatte sich Landrat Bartelmann zu einem Gedankenaustausch angekündigt. Bartelmann sollte versuchen, Fred Keller auf gönnerhafte Tour im Sinne des allgemeinen Wohles der umliegenden Gemeinden Haus und Grund abzuschwatzen. Der Handel sollte für Fred einen sehr ehrenhaften Zug bekommen, verknüpft mit angemessen viel Geld, sein Haus, sein Anwesen würde das zukünftige Zentrum der Fischereiwirtschaft werden. Wer könnte da nein sagen?

Der arme Fred machte im Moment nicht den Eindruck, als hätte er dem bauernschlauen Landrat viel entgegenzusetzen.

Viele Verwirrungen später warf sich Fred eine Decke über die Schultern, stellte den Korb mit Brot, Käse und Wasser ins Boot und stieß sich ab. Seine Ausstattung ließ einen langen, ruhigen Seeabend ahnen. Aus dem Schilf lugten die Schwäne, zu vorsichtig, um sich in Bootsnähe zu wagen, aber zu neugierig, um sich nicht zu kümmern. Fred wandte ihnen den Rücken zu, so konnten sie unbehelligt ihre Fragen zur Reise stellen.

Draußen auf dem See sank der Anker in die Tiefe. Früher hatte Fred ihn meist über Bord geworfen, den kleinen Wellen zugeschaut und für sich gewettet, ob das Ankerseil Ruhe gab, bevor die Wogen sich geglättet hatten. Früher, ja, was war Früher?

Der Landrat hatte Freds Gedanken, die ihn an Land und zu Wasser auf Trab hielten, am Nachmittag für zwei Stunden unterbrochen, weil er angeblich wichtige und zugleich angenehme Vorschläge zu unterbreiten hätte. Sie saßen am Tisch, hatten den See vor sich - und redeten. Konnte man meinen. Tatsächlich redete aber fast ausschließlich Bartelmann. Auf Fred ein, köderte ihn mit nicht ablehnungsfähigen Angeboten, lobte sein Engagement für das heruntergekommene Anwesen in den höchsten Tönen. Fred nickte gelegentlich, um weiteren Sätzen Platz zu machen. Kapitalfreisetzung hatte er verstanden, Stiftungsmitglied wollte schon nicht mehr in sein von geschmeidigen Versatzstücken überfülltes Hirn.

Bartelmann gestikulierte, Fred hörte Möwenkreischen. Bartelmann redete, Fred hörte Wellenrauschen. Bartelmann prustete und überschlug sich mit schmückenden Formulierungen, Fred hörte die Trommeln des Herolds und des Königs Ausrufer auf dem Marktplatz.

Viele Einflüsse zeichneten seine Zeit auf dem See aus. Einer davon war: sie verging nicht. Stundenlang beruhigte ihn der leichte Wellenschlag an den Nachen, sanft rüttelte das Boot an ihm. Fred ruhte in diesem großen, weichen Schwamm, der ihn aufsaugte. Fühlte sich aber nicht wohl, was sollte er tun? Was geschehen war brachte ihn aus dem bisherigen Trott. Er hatte so ein geregeltes Leben in Bacharach, mit reichlich Stress, kaum zwischenmenschlichen Reibereien, planbaren Tagen und Nächten und Handlungen. Damit konnte er gut umgehen.

Seitdem er am Bodensee ankam – egal in welcher Epoche – war alles, einfach alles anders.

Erinnerungsfetzen des mittelalterlichen Geschehens fügten sich an Momente im Labor, Gedanken an Renie und Mara überlagerten Zweifel an Bartelmanns Seriosität, menschliche Wärme und zuverlässiges Handeln wurden regelmäßig benutzte Begriffe.

Die Ruhe tat gut.

Sein Blick klebte am Horizont, oder irgendwo weit draußen, wo die Dinge klein genug waren, um sie nicht mehr wichtig nehmen zu müssen. Tag für Tag blätterte er zurück und nickte aufmerksamer, als es Bartelmann während seines Vortrags erleben durfte.

Dummerweise geriet Fred durch Bartelmanns Besuch in eine gewisse Zeitnot. Auf der Fensterbank im ersten Stock lag die Richental-Chronik. Da gehörte sie nicht hin. Fred hatte der Bibliothekarin fest versprochen, das Buch am Montag zurückzubringen. Schließlich war es vorbestellt und der nächste Kunde fieberte schon danach.

So lästig die Sache war, so erholsam fand er dann doch die Ausfahrt mit seinem Saab. Die Spritztour holte ihn schnell ins 21. Jahrhundert zurück, forderte seine ganze Aufmerksamkeit und blies ihm eine Menge frische Luft um die Ohren.

Frau Schmal nahm den Richental entgegen, als wäre es ein wertvolles Unikat. Erleichtert blätterte sie das Buch durch, wie bei jeder Rückgabe. Den schmalen Notizzettel zwischen Seite 34 und 35 bemerkte sie nicht. Fred hatte sich ein paar wichtige Stichworte aufgeschrieben, benutzte den Zettel als Lesezeichen. Kunos Herberge war kurz beschrieben, die Säftelehre, Jan Hus stand darunter, mit Ausrufezeichen, darunter in Druckschrift WEGEPLAN, mit Fragezeichen.

Fred sprang vom Auto direkt in den Kahn, es zog ihn auf den See, am besten weit hinaus, als erhöhte sich seine Lebensqualität mit jedem Meter Abstand vom Ufer. Hier draußen war der Unterschied seiner zwei Leben nicht so groß, nicht so spürbar, nicht so befremdend wie sein momentan schwieriger Zugang zu Menschen – zumindest denen von heute. Es war ein langer Tag für ihn, trotzdem ging er zu Ende. Die Dämmerung streifte den Horizont mit dem letzten Fetzen Licht.

Er zog sich die Decke um die Schultern und biss ruppig an seinem Brotkanten. Niemanden würde er diese Geschichte erzählen können. Der einzige, der sie nach reiflichen Überlegungen glauben könnte, war er selbst. Obwohl... überzeugt war er davon nicht. Aber es gab zu viele Beweise, die seine Erinnerungen untermauerten. Weder konnte er die Geschichte seiner ausufernden Phantasie zuschreiben, noch fürchtete er sich in Wahnvorstellungen abgetaucht. Er hatte etwas in der Hand. Den Wegeplan von Konstanz und einige andere Notizen. Und er hatte etwas hinterlassen. Die Basis für eine gesicherte Zukunft des kleinen Paul. Selbst wenn sich keine weiteren Vorteile ergeben würden: schon allein dafür hatte sich seine Reise gelohnt.

Fred merkte nicht, wie er halblaut vor sich hin plauderte, als erklärte er jemandem beiläufig, wie denn so die Zeit im Mittelalter war, was ihm wichtig war, was ihn geprägt hatte. Auch wovor er sich fürchtete und worüber er sich besonders freute, erklärte er geduldig. Zuerst landeten zwei. Lautlos, sie wollten auf keinen Fall stören. In weitem Bogen kamen sie angeflogen, landeten auf der Bordwand, lauschten, steckten ihre Köpfe zusammen.

Es war zu phantastisch, was sie zu hören bekamen, glücklicherweise mussten sie es nicht erleben – sie mussten Fred nur glauben. Das war auch für die Schwäne, die mittlerweile neben dem Boot dümpelten, kein Problem. Wie es schien, war allen schon vor Fred klar gewesen, wohin die Reise gehen sollte. Als wussten sie von seiner Bestimmung. Als trauten sie Fred zu, das von seinem Vater hochgesteckte Ziel trotz oder gerade wegen aller eingebauter Komplikationen erreichen zu können.

Und so lebendig wie Fred seine Erlebnisse ausplauderte, aber auch wie warmherzig er über seine Weggefährten sprach, muss es eine sehr erfolgreiche Reise gewesen sein. Das entspannte die Schwäne und machte die Möwen stolz.

Einige Zeit vorher hatte Friederike Schmal Ferdinand Beißwanger aufgeregt angerufen. Er nahm den nächsten Bus zur Uni, stand ihr am Tresen gegenüber, nahm seine Friederike gedanklich in die Arme, (weil sie während der Dienstzeit Körperkontakt verbot), strahlte sie an, blätterte die Chronik durch, fand den Zettel. War erstaunt.

Er setzte sich in eine Leseecke, was er las, verwirrte ihn noch mehr. Für eine Minute fürchtete er, dass dieser ominöse Fred Keller ebenso an einem Jahrbuch oder etwas ähnlichem zum Konzilsjubiläum arbeitete. Unmöglich. Die Frage war, was meinte Keller mit dem Wegeplan? War er architektonisch interessiert wie er selbst? Ging es um blockartige Längenmaße der Gebäude zwischen zwei Gassen, eine bestimmte Regel, einen Multiplikator, den er noch nicht ausfindig gemacht hatte – und Keller vielleicht doch?

Beißwanger konnte seiner Friederike endlich verständlich machen, wie unbedingt nötig es war, Keller anzurufen. In dessen eigenem Interesse, natürlich, schließlich hatte er wichtige Unterlagen in einem öffentlich zugänglichen Buch vergessen. Die möge er doch bitte baldmöglichst abholen.

 

Fred Keller war nicht erreichbar.

Einige Zeit vorher stand Renie an Freds Gartentor.

Sie freute sich über die Verabredung, auch wenn sie momentan ihre Geschäftstüchtigkeit in einem etwas zweifelhafteren Licht als sonst strahlen sah. Es fiel ihr unerwartet schwer, ihr privates Vergnügen von den geschäftlichen Interessen zu trennen. Die Milde des frühen Abends trödelte in sie hinein und besänftigte sie. Sie musste es schaffen, Fred den Verkauf schmackhaft zu machen. Ein verdammt schönes Fleckchen Erde hatte er hier. So etwas konnte man tatsächlich meist nicht kaufen, nur erben. Geschäfte mit solchen Objekten scheiterten gelegentlich nicht nur an der Höhe des Kaufpreises. Manche Eigentümer verhielten sich, als besäßen sie ein Heiligtum, das unbedingt in der Familie bleiben musste.

Unruhig streifte Renie ums Haus, Fred reagierte nicht auf die Klingel, tauchte auch nicht aus der Hütte auf, als sie laut rief. Nicht zu laut, sie wollte nicht die Nachbarschaft auf sich aufmerksam machen. Den Mustang parkte sie vor dem Tor, sie hatte die Geheimniskrämerei satt. Er konnte die Verabredung nicht vergessen haben, so gut dachte sie ihn zu kennen. Anfangs war er zwar ziemlich bockig, aber sie hielt ihn für einen ehrlichen, zuverlässigen und einigermaßen liebenswerten Kerl. So einen Mann, der darüber hinaus für ihren Geschmack recht attraktiv war, den musste man sich angeln. Aber - wo war er? Angestrengt schaute sie auf den See, als hoffte sie zu sehen, wie Fred ihr entgegen schwamm.

Renies Blick ging in die richtige Richtung. Doch Freds Nachen war zu weit draußen, zu ruhig, um entdeckt zu werden. Fred gönnte sich gerade, wie durcheinander seine Gedanken waren.

Er hätte sowieso nicht gestört werden wollen.

Renie versuchte, ihn anzurufen, ihn her zu locken, egal, wo er sich gerade herum triebe. Im Haus klingelte ein Telefon. War er da und zeigte sich nicht? Warum? Sie hinterließ eine säuselnde Nachricht auf seiner Mobilbox und ließ sich nicht irritieren. Der Saab stand auf seinem vertrauten Platz, sie ging zum Bootsschuppen. Sie war nicht überrascht, das Boot fehlte. Er konnte also nur kurz raus gefahren sein, wenn er nicht mal sein Handy mitnahm.

Fred Keller war nicht zu erreichen.

‚Mich einfach zu vergessen, was bildet der sich ein!’

Es war nicht kalt, aber Renie fröstelte es. Hoffentlich war nichts passiert. Sachlich bleiben. Ärgerlich, sie sorgte sich. Nicht zu persönlich in die Geschäftsbeziehungen eintauchen, war ihr Motto. Nur weil sie miteinander ins Bett stiegen, hieß das noch lange nichts. Bei ihr gehörte das dazu. Obwohl ihr heute bei ihren Eltern bewusst wurde, welch Luxus Skrupel in ihrem Leben bleiben würden, schwankte sie. Unmerklich.

In weitem Bogen kreisten die Möwen um Renie. Lautlos - auf keinen Fall wollten sie schon wieder stören - und nahmen Renies Zweifel mit hinaus auf den See, ohne Fred von der Begegnung zu erzählen.

Lange stand Renie am Steg, schaute und gönnte sich einen langen Blick. Der See reifte, eine graue, unruhig schäumende Fläche wandelte sich zu einer ölig glänzenden Dunkelheit, die jedes Licht aufsaugte und irgendwann selbst verschwand.

Auch Mara fühlte sich angezogen. Die Minuten, in denen sich der See zurückzog, war ihre Zeit. Sie klammerte den Trubel in der Wirtschaft aus, genoss die Eindrücke immer wieder neu. Lehnte am Dachgaubenfenster und suchte da draußen die Erlaubnis für ihre Entscheidungen.

Und genau da, wo sich ihre Gedanken mit Renies Blicken kreuzten, saß Fred in der Dunkelheit und erzählte Geschichten.

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