Zwischen den Zeiten ist Nirgendwo

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Zwischen den Zeiten ist Nirgendwo
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Georg Steinweh



Zwischen den Zeiten ist Nirgendwo



Die Gelegenheiten des Fred Keller, Teil 3





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Inhaltsverzeichnis





Titel







Prolog







Die Wahrzeit...







...und die Beziehungen







...und das Unmögliche







Figuren und Plan







Über den Autor







Impressum neobooks







Prolog

















worum es geht:






Fred kehrt zurück aus dem Mittelalter. Beißwanger spürt, dass Fred etwas Einzigartiges erlebt haben muss. Fred selbst kommt mit seinen Erlebnissen überhaupt nicht zurecht. Er erzählt Renie von seiner Zeitreise. Sie beichtet, warum sie sich in sein Leben geschlichen hat. Ihre Liebe vertieft sich.



Währenddessen versuchen Makler und Notar mit allen Kniffen Freds Grundstück zu kaufen, um ihrem Ziel, ein riesiges Spielkasino zu bauen, näher zu kommen.



Fred widersteht und spürt, dass er in die 70iger Jahre reisen muss, um den Tod seiner Mutter zu verhindern.







wie es klingt:






... Gelassen neigte sich der Tag seinem Ende entgegen. Am Horizont begrüßte ein schmaler, orangefarbener Lichtstreifen das Paar. Es war so weit.



Es gab nichts mehr zu sagen. Renie saß am Außenborder und brachte ihre wertvolle Fracht in tauchfähiges Gebiet. Fred prüfte Knoten und Festigkeit seines doppelten Ledersackes, dem er seinen zweiten Vacumator anvertraut hatte. Schon weit entfernt lächelte er ihr zu.



Als er kurz nickte, nahm sie das Gas weg. Sachte kniete sie sich vor ihn, küsste ihn ein letztes Mal auf den Mund, half, die Brille zu fixieren und entwirrte nachsichtig lächelnd den Schlauch des Lungenautomaten. Sie konnte und wollte nichts anderes denken. Mechanisch folgte sie Freds Handgriffen.



Zuversichtlich folgte sie dem Kurs, den die Möwen wiesen.




Und erinnerte sich:



Wenn er wiederkommt, wird er gar nicht weg gewesen sein. ...






Die Wahrzeit...



Sonntag










„...und was würdest Du sagen, wenn ich behaupte, dass ich... dass es kein Zufall war, wie wir uns... naja, kennengelernt haben?“



Renie legte lässig ihren Arm über die Lehne des Beifahrersitzes und redete, ohne ihren Blick von der Straße zu wenden. Das Wäldchen hatte sie längst hinter sich gelassen, aber es dauerte, bis sie den richtigen Einstieg ins Gespräch fand. Schließlich hatte sie das Wochenende mit Marc noch nicht ganz abgeschüttelt.



Die Frauenstimme perlte wie klares Wasser aus den Lautsprechern. Ihre Risikofreude wurde belohnt. Wenigstens auf dem musikalischen Sektor. Renie hatte es mit neuer Musik versucht, ein Stimmungswechsel, neue Zeiten brauchen neue Musik. Einer ihrer Immobilienkunden, sicher Schwabe, brachte sie mit den vertonten Texten Eduard Mörikes zusammen.



Sie saß also in ihrem Mustang, staunte, mit welcher Raffinesse dieser Peter Schindler Melodien für alte Gedichte fand. Sie fuhr, sie schwebte auf diesen neuen Tönen, sie halfen ihr. Enorm.



„Natürlich mochte ich dich gleich, aber das konnte ich ja... ich konnte nicht ahnen, du weißt schon, was ich meine. Wofür ich mich allerdings von vornherein interessiert habe...“ Renie stockte, nutzte die Pause zwischen den Musikstücken um die vielleicht doch zu erschreckende Wahrheit in sanftere Klänge zu hüllen und bog nach Frauenfeld ein. Geleckte Wege, herausgeputzte Spaziergänger, aufdringlich viele Schweizer Fahnen an den Häusern, rechts die Berge, links der See – diese Idylle konnte nicht wirklich sein.



Sie log stumm.



Diese schöne Welt schien gebaut, damit andere Lügen besser ertragen werden konnten.



„Was ich von Anfang an wollte, war dein Haus, dein Grundstück, einfach alles.“



Endlich war es raus. War gar nicht so schwer, wie sie gedacht hatte. Der Fahrtwind schmeichelte ihrem Haar, der fette Motor vibrierte so unauffällig es bei seiner Größe möglich war, versetzte die Sitze in sanfte Schwingung. Aus der Kaimauer wuchsen heftige Wellen Richtung deutsches Ufer.



Doch. Genau so war es.



Eine glänzende Idee, fand Renie. Sie würde Fred in ihren Mustang packen, da wäre er sicher erst mal eine Weile sprachlos. Zur passenden Einstimmung könnte Mörike taugen, und nach kurzer Überlandfahrt würde sie dann mit ihrem Geständnis beginnen - das ja nun eigentlich auch kein richtiges Geständnis war, schließlich hat sie nichts verbrochen. Es war kurz vor Vier, Renie freute sich auf die knappe Stunde, die sie mit verzaubernder Musik nach Hause brachte.





Zwei Minuten nach Vier tauchte Fred auf. Am 22. Juli 2012.





Der Wald, es war eher ein Wäldchen, roch.



Unter den schwer überhängenden Farnen dampfte das Moos. Weit hinten drang die Helligkeit einer kleinen Lichtung durchs Unterholz. Ab und zu klopfte ein Specht. Unter Maras Füßen knackten Äste. Bedächtig suchte sie sicheren Tritt, wollte so wenig verräterische Geräusche wie möglich machen. Sie blieb stehen. Lauschte... Nichts.



Mit den Händen formte Mara einen Trichter und rief „Lisa, wo bist du?“ Langsam wurde sie unruhig. Lisa blieb verschwunden. Von rechts schob ein kräftiger Wind durch den Wald, brachte den angenehmen Geruch von frisch gesägtem Holz und würzigem Harz. Um sie herum standen dicke Stämme mit groben Rinden, kaum Äste, erst weiter oben zeigten sich erste, aber schon dürre Ableger.



Es war ein schöner Wald, krustige Walderde, fasrige Wurzeln, weiche Moose, überwachsene Wasserläufe, ein lebendiger Wald. Aber eben keine Lisa in Sicht.



Mara ging weiter, rief mehrmals ihre Tochter, versuchte nur ihre Gedanken, nicht ihre Stimme sorgenvoll klingen zu lassen. Blieb stehen. Lauschte...



„Buaaaah!“ schrie Lisa und stürzte mit Armbewegungen, die sie einem Gorilla abgeschaut hatte, aus ihrem Versteck. Mara erschrak heftig und wäre fast rückwärts über eine Wurzel gefallen. Lisa erschrak, weil ihre Mutter so taumelte.



„Buaaah, Buaaah! Du hast mich nicht gefunden. Ich bin die Zauberin des Hexenwaldes. Das ist mein Wald, mein Wald!“



Ein vom Orkan entwurzelter Baum reckte sein riesiges Wurzelgeflecht mehrere Meter in die Höhe, der Stamm schwebte in der Luft und darunter erschien – wie aus dem Tor in eine verwunschene Zeit – die selbsternannte Zauberin Lisa. So gut es der verwurzelte Boden zuließ, tanzte Lisa um ihre Mutter, fuchtelte beschwörend mit den Armen. Sie standen tatsächlich inmitten einer wunderbar verzauberten Szenerie.



Mara beruhigte sich schnell. Ein Blick in das überglücklich strahlende Gesicht ihrer Tochter genügte. Die Augen funkelten, die Wangen glühten, der Wald hallte von Lisas Geschrei. Lisas Hände waren verschmiert, die Schuhe lehmig, die geflochtenen Haare belaubt. Ein wahres Bild eines modernen Rotkäppchens.



Mara genoss die Stunden mit Lisa in ihrem Wald, bevor das sonntägliche Abendgeschäft begann. Regelmäßig mit dem Kind am großen Grundstück entlang streifen, das ihr genau genommen schon nicht mehr gehörte. Ein wunderschöner Ausblick über den See verdünnte ihre Wehmut.



Kurz nach Vier fand Lisa ein neues Versteck.





Zwanzig nach Vier saß Fred völlig erschöpft im seichten Wasser und starrte auf das Schilf.





„Natürlich teile ich Ihre Bedenken, aber vielleicht hat unsere Angestellte einfach nicht den richtigen Zugang zu Herrn Keller gefunden. Wie finden Sie denn die Idee, das Vereinshaus der Fischereizunft in seinem Haus zu etablieren. Die früheren Querelen mit dessen Vater könnten doch auf keine angenehmere Weise hochoffiziell zu den sicher schon angestaubten Akten gelegt werden.“



Noch während Landrat Bartelmann nach einer Antwort suchte, wunderte er sich mehr und mehr, wie bis ins kleinste Detail informiert diese Carin Lüti doch schien. Nein, offenbar war.



Der See war ein offenes Buch, kein Geheimnis konnte eine Gemeinde an seinen Ufern verbergen, jeder Fisch, der den umtriebigen Fischern nicht ins Netz ging, schien mehr zu wissen, als den Menschen in ihren Booten lieb sein konnte.



Landrat Bartelmann hatte sich von seiner Sonntagnachmittagspaziergangsgruppe zurückfallen lassen, telefonierte mit links, gestikulierte eindringlich mit rechts.



„Wartet nicht, ich komm schon nach, bin nur etwas außer Puste!“ rief er seiner Familie zu. In diesem Fall log er nicht, spazieren gehen und gleichzeitig telefonieren ließ seine Leibesfülle kaum zu. Zusätzlich zwangen ihn die Informationen zum Stillstand.



„Sie meinen, er könnte anbeißen, eine Wiedergutmachung posthum sozusagen, vielleicht mit einer schönen Ehrentafel am Haus. Bürgerehrungen kommen immer gut.“



Natürlich war es Bartelmann ein Anliegen, Carin Lüti den Spielraum der Möglichkeiten, die er als Landrat hatte, deutlich zu präsentieren. Schließlich hatte er hier das Sagen. Bartelmann war stur und von Haus aus träge. Dafür war seine Kombinationsgabe scharf, flexibel und vor allem auf eigene Vorteile trainiert.

 



‚Dran bleiben, Josef’, dachte er, ‚jetzt schlägt deine Stunde. Die Stunde, in der ich meine klug geknüpften Beziehungen brauchen kann.’ Bartelmann fühlte sich wie der Angler, nicht wie der Fisch und so betrachtete er diesen Tag als wunderbaren Tag, an dem er einem einflussreichen Schweizer Immobilienkonzern, vor allem der geltungsbewussten Gattin des Chefs mit einem so delikaten Auftrag weiterhelfen konnte.



„Ich stünde tief in Ihrer Schuld, mein verehrter Herr Landrat, ich darf doch Josef zu Ihnen sagen, jetzt, wo uns ein so alle Grenzen überschreitendes Anliegen verbindet.“ Sie gab ihm förmlich Recht. Er fühlte sich erleichtert. Die Geschichte überschritt tatsächlich alle möglichen Grenzen, dessen war sich Bartelmann bewusst. Da würde er die Angelegenheit mit der anderen Dame mit der ihm gegebenen Routine sicher leicht in den Griff bekommen. Alfred Keller würde sich doppelt wundern.



Carin Lüti war noch allein. Marc Lüti würde nicht vor Achtzehn Uhr von seinem Bergausflug zurück sein. ‚Von seinem arbeitsamen Wochenende, der Fleißige’, dachte Carin Lüti süffisant, lehnte sich zufrieden zurück und genoss mit einem Glas Champagner den Blick über ihr Sankt Gallen.



Um halb Fünf schloss Josef Bartelmann wieder zu seiner Gruppe auf.





Es war halb Fünf, vielleicht später.



Fred brauchte endlos lange, bis er sich aus seinem Neoprenanzug geschält hatte. Bewegte sich so wenig wie möglich, jede überflüssige Bewegung schmerzte. Er war überfordert. Er saß im Wasser vor einer Hütte, die ihm bekannt vorkam, mit einem weit ins Wasser reichenden Steg, den er wahrscheinlich öfters betreten hatte, nur - beschwören wollte er es gerade nicht.



Seine Rückfahrkarte, diese kleine, unscheinbare Kugel klebte an seinem Mundstück wie ein zum Platzen bereiter Pickel. Fred rieb die Kugel. Sie war greifbar, das unterschied sie von allem andern, was in ihm tobte. Er schaute auf die Kugel, als wollte er damit den Blick auf naheliegende Fragen verstellen. Es war viel zu früh für irgendeine Art von Bewusstsein.



Er fühlte sich erschlagen, niedergestreckt. Nur der Wind war um ihn herum, und die wispernden Laute, die das fast vier Meter hohe Schilf herüber schob, als möchte die Bewegung ihn beruhigen, in Sicherheit wiegen. Irgendwie kam ihm dieses Gefühl bekannt vor, ein Bild, das ihn vor längerer Zeit schon gefangen nahm, obwohl er dem damaligen Ort voller Abneigung entgegensah.



Das Haus, weit hinten der Geräteschuppen, das Gras. Kein Zentimeter gewachsen. Zurück? Wie weit zurück? Wo er vorher war? Waren die vielen Wochen im Konstanz von 1415 zeitlos an dieser Gegenwart vorübergegangen? Hat das Mittelalter nur in ihm seine Spuren hinterlassen? Zeitlose Erinnerung.



Es war zu früh, viel zu früh. Um das was war zu verstehen.



Auf dem See ein Meer unterschiedlich großer Dreiecke, weiße, farbige, schräg zum Wasser gebeugt, oder stolz aufrecht gleitend. Fred fragte sich, ob die Regatta schon vorher war. Egal.





Wohin bin ich zurückgekommen? Ich hoffe, der Tag, an dem ich das Radieschen gepflückt habe. Jetzt wird’s mir doch zu kalt, ich muss raus.





Fred schleppte die Ausrüstung in den Bootsschuppen und legte alles auf den schmalen Umlauf. Der Nachen hing in den Seilen und schaukelte zur Begrüßung leicht hin und her. Fred lächelte, schlurfte nackt durchs Gras, bestaunte links und rechts wehmütig jeden Winkel seiner wieder gewonnenen Heimat und verschwand im Haus. Ein Cabrio versteckte sich hinter der Scheune. Es war sein Saab. Es muss also alles einigermaßen so sein, wonach es aussah.



Der Wirtsstube gönnte er nur einen kurzen Blick, es zog ihn hoch in sein Bett, in dem in letzter Zeit ungewöhnlich viel los gewesen war. Matt sank er auf das Laken und starrte zur Decke. Es war ruhig, es geschah nichts, niemand rief. Die dunklen Balken forderten keine besondere Aufmerksamkeit, kein Reflex vom See tanzte über ihm, Fred lag in einer Höhle, war erschöpft und schaute einfach geradeaus.



Alles andere kam von selbst. Keine Fragen, wie und ob er das alles fassen konnte, wie ein Mensch damit umgehen sollte, mal eben so ins Mittelalter und wieder zurück gereist zu sein. Nein, er sah die Herrin, wie sie sich durch die Räume schieben ließ. Er begleitete Runold auf den Markt, stieg mit Theresa ins Bett. Und er sah Paul, er verfolgte Paul, beobachtete stolz, wie geschickt er sich bei den Bäckern anstellte. Gemessen an Pauls plötzlichem Auftauchen gingen seine Lehrmeister sehr schnell zur Tagesordnung über und behandelten ihn wie ihresgleichen. Fred sah, wie er von allen gut behandelt wurde.



Fred schluckte. Zuhause bei Paul war er sehr herzlich empfangen worden. Die Erinnerung drückte ihn in sein Kissen. Kleine Tränenpfützen füllten die Augenwinkel, liefen über und leerten sich in schmalen Rinnsalen zu den Ohren. Es kitzelte. Immerhin spürte er das. Ein kitzelndes Gefühl in seinen Ohren, die sich wunderbar eigneten, Pauls Tränen aufzufangen.



Wo waren die Sonnenstrahlen, die tanzenden Reflexe, das rechthaberische Gekrächze der Möwen? Wo zum Teufel war das alles hin? Es war still. Nichts in Freds Leben war mit den letzten sieben Wochen vergleichbar. Er wollte sich davonstehlen, wollte das schwermütige Gefühl abschütteln, das die Bilder aus Pauls Stube antrieben. Und ließ es einen winzigen Augenblick später doch zu, klammerte sich nicht an etwas von viel früher, sondern ließ sich mitreißen. Von allem, was er erlebt hatte.



Hätte er Paul mitnehmen sollen? Das wäre nicht möglich gewesen, aber er vermisste ihn schon jetzt. Andererseits war Fred froh, wie zielstrebig Paul sein Leben in die Hand nahm, es würde schon klappen, er gehörte dort hin, die Polen waren gute Menschen. Er würde ein fleißiger Bäcker werden, seiner Schwester Maria leckere Kuchen backen und seiner Mutter Magdalena eine ständige Freude sein. Ein anhaltender Stoßseufzer baute eine Brücke aus seinen Erinnerungen zur Gegenwart.





Montag



Wie hektische Trommelwirbel klangen die Schritte auf den rohen Dielen. Immer mehr. Immer lauter. Sie kamen also näher. Von rechts schnitten sie ihm den Weg zum Fischmarkt ab. Schnell schlupfte er in die schmale Hohenhausgasse.





Hoffentlich kommt mir hier niemand entgegen, sonst ist es aus.





Fred schaute sich kurz um, rempelte mit der Schulter an ein Tor, hoffte auf das Münster. Außer Atem kreuzte er die Hofhalde, überquerte unter missmutigen Blicken einiger Händler keuchend den oberen Münsterhof und verschwand in der Kirche.



Papst Johann XXIII. hielt die Messe. Er weihte die Kerzen und sprengte Weihwasser darüber. Für einen zufälligen Augenblick kreuzten sich die Blicke Freds und des Papstes, der ihn aus schmalen grünen Augen fixierte und ihn erstarren ließ. Der Papst beendete seine Zeremonie und übergab dem Erzbischof von Dänemark das Weihwasser. Am Altar des Leutpriesters stand ein Thron, ähnlich dem Thron am extra erbauten Altar neben dem Sakramentshäuschen. Auf diesem hohen Leutpriesterthron saß der Papst und jeder im Münster konnte ihn sehen. Auch Fred. Er war gebannt und starrte auf eine beeindruckende Szenerie.



Das Kirchenschiff barst vor Farben. Kardinäle, die in der Kirche ohne ihre breiten roten Hüte anzutreffen waren, Erzbischöfe und Bischöfe in violetten Talaren, Gelehrte in blauen und ockerfarbenen Gewändern drängten sich neben den Hausherrn, den gelähmten Dekan Albrecht von Büttelsbach. Von goldenen Streifen durchbrochene Blautöne, grüner Samt, weiße leuchtende Tücher, roter Wams und schwarze Kleider, goldene Leuchter und silberner Stahl, jede Farbe würdig genug, um in der Kirche vertreten zu sein.



Leise stieg Fred den Nordwestturm hoch. Es stank fürchterlich, die Luft war von den vielen Menschen verbraucht und mit Kerzenrauch vergiftet. Langsam kam er dem Geläute näher und näher. Als erinnerte das Dröhnen ihn schmerzlich daran, dass er nicht schwindelfrei war. Aber er musste höher, er musste zu einem der drei schmalen, hoch aufragenden Turmfenster gelangen. Einen Moment fürchtete er die Herzöge und Ritter schon auf den Fersen, um ihn, Alfred den Ketzer, zusammen mit Jan Hus Abbitte leisten zu lassen. Aber sie würden ihn verfehlen. Er lehnte sich weit aus dem Fenster, sah das Feuer, das bedeutete nichts Gutes. Auf dem Brühl übergab Herzog Ludwig dem Vogt von Konstanz den armen Hus, der vor mehr als 5000 Gaffern verbrannt wurde.



„Da oben! Da ist er!“ schrie einer der Krämer vom unteren Münsterhof in die Menge und deutete zu Fred hoch. Die Gürtler und Schuhmacher wurden unruhig, seit einiger Zeit wurde die Menschenmenge in dem kleinen Hof immer größer. Das Gedränge erklärte sich rasch. Durcheinander schrien die Weiber, fluchten die Männer, selbst die Hunde bellten gehetzt.



„Holt ihn runter!“ „Ja. Spannt ihn aufs Rad!“ „Der Hus wird ihn holen!“ Fred wollte weghören, weggehören. Dies war nicht sein Platz, nicht in diesem Moment, nicht sein Leben, das hier mit unterschiedlichen Qualen ausgelöscht werden sollte. Von der Treppe klang es gefährlich laut. Kein Ausweg. Wütend wuchs die Menschenmasse unter ihm zusammen. Zerfetzen würden sie ihn. Von hinten verstärkte sich der Klang der Schwerter, deren Träger nach oben drängten, ihn mit dem Segen des Papstes zu töten. Aber niemand sollte ihn kriegen.



Noch während er stürzte, bedauerte er, keinen Wassergraben um das Münster zu sehen.



Es zog ihn in die Tiefe. Zwanzig, dreißig Meter und kein Halten in Sicht. Die Lungen pressten gegen seine Rippen. In achtunddreißig Meter Tiefe erschien ein Wrack. Der uralte Raddampfer war teilweise im Schlick verschwunden, der klägliche Rest voller Moosalgen und Rost. Im Bug klaffte ein riesiges Loch. Diese Wunde hatte das Dampfschiff sinken lassen. Unter Deck eine lädierte Werkbank. Ein paar Schraubschlüssel rosteten mit offenem Maul ihrer Verwitterung entgegen. Drei armselige Werkzeuge, als ob sie gerade noch vom Mechaniker ordentlich an die Wand gehängt worden waren. Der Rest gestohlen, wie alles, was mit wenig Aufwand abzumontieren war. Der massive Schraubstock war wohl zu schwer gewesen. Mit dem ausladenden Knebel schien er durch den modrig-kalkigen Überzug wie ein absurdes Korallenriff.



Freds Faszination wich der Angst. Ganz sicher würde er jetzt gleich ertrinken, trotzdem spürte er keinen Drang, aufzutauchen. Seine Schulter streifte die Nebelglocke auf dem Vordeck. Erschrocken öffnete er den Mund, ließ einen Schwall Wasser in seine Lungen und das durchdringende Scheppern der Glocke in sein Ohr. Zu früheren Zeiten verkündete die Glocke andere Schiffe, die auf gleichem Kurs unterwegs waren, die Anwesenheit, warnte vor Kollision. Hier unten warnte der Klang in die Tiefe...



Warum hörte das Klingeln nicht auf?



Fred sprang aus dem Bett und rannte zum Telefon.



Was der Landrat von Fred wollte, würde er am Nachmittag höchstpersönlich erzählen, warum Fred vom Mittelalter träumte, war klar. Aber warum ein Schiffswrack in diesem Alptraum auftauchen musste, war ihm ein großes Rätsel.





Fred war nicht aufgetaucht.



Mara hatte gehofft, ihn am Sonntagabend im Lokal zu sehen. Sehr gehofft, ein paar Minuten mit ihm reden zu können. Fred machte sich rar. Warum? Ihr Ärger kämpfte mit ihrem Stolz. ‚Ich werd ihm auf keinen Fall hinterherlaufen! Soll doch bleiben, wo der Pfeffer wächst’, dachte sie.



Montags hatte der Fernblick Ruhetag. Doch von Ruhe konnte im Haus keine Rede sein. Es gab genug zu tun. Lisa war in der Schule und nachmittags mit ihrer Freundin verabredet. Sie probten für das Schulfest. Ja Lisa. Mara warf den Wischlappen in den Putzeimer und schaute versunken aus dem Fenster der Gaststube. Der Schmerz der vergangenen Jahre, es wurde Zeit, ihn weg zu wischen.



Sie hörte die Vögel in den dichten Bäumen zwitschern, aber sie sah sie nicht. Sie wusste, vieles würde sich bald ändern, aber sie traute sich nicht, daran zu glauben. Zu oft schien die Sonne in ihre Richtung und ließ sie letztendlich doch im Schatten stehen. Lisa, ja Lisa war anders. Ihr öffnete sich alles, so jung sie war, war sie doch das Zentrum der Familie. Familie. Mara lächelte. Eine geifernde Schwiegermutter, die das Unglück gepachtet hatte, eine lebenshungrige Frau, die nicht mehr funktionieren wollte und ein sonniges Mädchen, das überall gerne gesehen wurde und unbeschwert durchs Leben ging.



Hedwig stapelte in der Küche Töpfe ineinander. Mara sah es nicht, aber sie hörte es. Das reichte schon. Routiniert zog sie die schmutzigen Decken von den Tischen und warf sie über den Arm. Sie wollte alles noch einmal schön herrichten. Frische in den Raum und die Muffigkeit aus den Gedanken. „Das hier ist mein Leben, verdammt noch Mal! Aber an diesem Ort nicht mehr lange. Und keiner, wirklich keiner weiß Bescheid.“ Das gefiel ihr am meisten und verschaffte ihr endlich ein mildes Lächeln.

 



„Soll die Alte doch sehen, wo sie bleibt. Ihre Söhne haben ja auch nie gefragt, wie und ob ich es schaffe, so ganz allein.“ Mara bremste ihre Redelust, Hedwig durfte auf keinen Fall etwas hören.



Gabriel und Johannes waren keine große Hilfe. Mit ihrem Mann verband sie zwar eine nahezu romantische Liebe, er ließ sich aber nie dazu hinreißen, in der Wirtschaft mit anzupacken.



„Es muss doch reichen, wenn ich den geputzten Fisch in die Küche lege. Der Rest ist eure Sache.“ Immer wieder hörte sie seine Sätze, versuchte damit, ein realistisches Bild von Johannes zusammenzusetzen, das ihn etwas weniger glorifizierte. Dann starb Gabriel. Ein schwerer Schlag. Sie mochte ihn sehr, gerade weil die Brüder so unterschiedlich waren. Gabriel empfand viel für Mara, das spürte sie, vermied es aber, ihm Hoffnung zu machen.



Gabriel verunglückte. Danach war nichts, aber auch gar nichts mehr, wie es mal war. Das Glück verließ die Familie, nur die kleine Lisa trieb ihr erfrischendes Lachen vor sich her durchs Haus. Gabriel hätte es sicher gefallen, Lisa heranwachsen zu sehen, sie hatte eher seine Wesenszüge, nicht viel von ihrem Vater. Wenn sie es nicht besser gewusst hätte...



Der Duft der gestärkten Decken verscheuchte die dummen Gedanken, Flusen flirrten im Gegenlicht, das mit gleißenden Streifen den Raum zerschnitt. Leicht. Es gab auch leicht. Das musste sie wieder lernen. Wenn sie an Fred dachte, lernte sie gerne. Offen, herzlich und ihr wesensnah, das fiel ihr ein. Sie versuchte auch, sich vorzustellen, ob sie sich vorstellen könnte, in seinen Armen zu liegen. Ob er der Richtige wäre? Was Lisa sagen würde? Mit dem schwungvollen Flug der nächsten Decke begrub sie diese Option zwischen Tuch und Tisch. Zufrieden genug, in Fred einen vertrauten Menschen gefunden zu haben, wollte sie diese Freundschaft nicht mit Beziehungsgedanken belasten.



„Zwischen uns ist nichts und so wird es auch bleiben, basta“, flüsterte Mara abgeklärt. „Aber ich mag ihn, vielleicht so wie Gabriel. Hoffentlich ist nichts passiert.



Irgendwann würde sie mit irgendwem darüber reden müssen. In ihrer Schürze vibrierte das Handy.



„Sieder,“ meldete sie sich kurz und hörte lange zu. „So fühle ich mich auch. Wirklich“, lächelte sie Minuten später entspannt vor sich hin. „Vielen Dank, dass Sie mir so schnell Bescheid gesagt haben. - Ja, Ihnen auch. - Wiedersehen.“ Mara betrachtete lange ihr Telefon, als würde sie eine wundersame Geschichte verbinden. Verträumt nickte sie in den Raum. Das Geld war angekommen.



Mit frischem Elan stand Mara auf und plante die Woche bis zum Ferienbeginn. Überlegte, ob sie die Schwiegermutter in ihre Umzugspläne einweihen sollte oder nicht. Konnte sie in einer Woche ohne Vorwarnung ihre Tochter nehmen und einfach verschwinden? Hedwig vor vollendete Tatsachen stellen?



‚Soll sie doch sehen, wo sie bleibt. So eine billige Kraft wird sie zwar so schnell nicht finden, aber Arbeitslose gibt’s genug. Da wird schon eine Fesche dabei sein, der die Gäste gerne nachschauen’, dachte sie trotzig.



Die feine Art wäre es nicht. Aber Hedwig würde ihr jeden weiteren Tag die Hölle auf Erden bereiten, wenn sie zu früh davon erfahren würde. Warum war sie so sicher, von Fred den richtigen Rat zu erhalten? Vorausgesetzt, sie würde ihn endlich wieder zu Gesicht bekommen.



‚Naja, wenn der Prophet nicht zum Berg kommt’, dachte sie ohne Groll und beschloss, zum Abend eine kleine Radtour zu Fred zu machen. Ein bisschen frischer Wind um die Nase würde ihr gut tun.





Renie wollte noch ein paar Stunden bei ihren Eltern bleiben, der Garten, ihr Häuschen, all das fehlte ihr schon sehr. In ganz seltenen Momenten fragte sie sich, ob diese Welt bei Lüti-Boden die richtige für sie war. Jeden Tag der gleiche Ehrgeiz, beständiger Verdrängungswillen. Und jetzt brach sie auch noch mit ihren musikalischen Ritualen. Schon wieder Mörike, obwohl der für Wochenendreisen reserviert war. Aber die Musik war wunderbar und auch ein wenig verzagt. Renie lauschte der Klaviereinleitung, sanft setzten Klarinette und Cello ein, die Sängerin berichtete melancholisch: „Gelassen stieg die Nacht ans Land, lehnt träumend an der Berge Wand, ihr Auge sieht die goldne Waage nun, der Zeit in gleichen Schalen Stille ruh´n.“



An der Berge Wand lehnen wäre gut. Renies Anlehnungsbedürfnis brauchte einen Fels. Die gelegentlichen Selbstzweifel nahmen zu, das konstatierte sie sachlich, aber unwillig. Durfte sie nicht zulassen. Sollten andere hadern, sie würde in der Zwischenzeit einen Schritt weiter nach vorne tun, das Straucheln der andern nutzen. Aber es nützte nichts. Selbst die Vibration des Lenkrads nervte sie mehr als früher. Wann war ‚früher’? Und womit begann ‚danach’? Oder häufte sich mittlerweile nur alles an. Kleine Hügelchen störten nicht, aber wenn sich Berge vor einem auftürmten, konnte sich nicht einmal Renie einreden, der Schatten käme von einer eilig vorbeiziehenden Wolke.



Jedes mal, fast jedes mal bevor Renie von der Spiseggstraße in die Hüttenstraße einbog, gab sie noch einmal richtig Gas. Der Mustang machte einen kräftigen Satz nach vorn, die Cruise-O-Matic setzte den erhöhten Durst der Fünflitermaschine sofort in satte Beschleunigung um. Danach hatte sich Renie abreagiert, das brauchte sie, um den Müll der Stadt, das tägliche Taktieren, die kleinen Intrigen hinter sich zu lassen. In dem Moment, wo sie ihr weißes Gartenhäuschen sah, fühlte sie sich angekommen. Oft gelang das auch ohne angeberischen Kickdown - aber, zugegeben, mit machte es einfach mehr Spaß.



Röchelnd zog der Wagen die steile Gasse hoch, die seit Jahrzehnten nicht über das Stadium einer provisorisch geteerten Zufahrt hinauskam. Vorbei am trächtigen Birnbaum, der die schützende Nähe des Elternhauses genoss. Links hinter dem Giebel ragte der Engelberg hervor, schützte zum einen den Hof vor weiteren Bebauungsplänen expansionswilliger Gemeindeobmänner und versprach zum anderen die Nähe eines nicht zu anstrengenden Wanderziels. Direkt am Zaun zum Bauerngarten steckte denn auch ein massiver Wegweiser, der dem willigen Wanderer verschiedene Richtungen und Wegstrecken wies, die er je nach Zeit und Kraft wählen konnte. Vom nur fünfundzwanzig Minuten entfernten Bauzenhus bis nach Wittenbach, das in zwei Stunden und zehn Minuten per pedes zu erreichen war. Fehlte nur das Schildchen direkt zu ihrem Haus, auf dem

Heimat

 oder so ähnlich stehen könnte, Entfernung etwa

einen Augenblick

. Ihr liebstes Ziel.





Geduckt parkte der Wagen in gebührendem Abstand vom Haus, der rote Ami-Schlitten passte nicht so richtig zu der mit halbrunden Schindeln getäfelten Fassade. Das Haus hatte einen dunkelroten Anstrich und eine überzeugend einladende Ausstrahlung.



Renie hatte sich rechtzeitig angekündigt. So kam ihre Mutter Jeanne in den seltenen Genuss, ihren Mann Christoph tagsüber am Esstisch zu sehen. Auch hier, eine ähnliche Dissonanz wie draußen. Renies Dresscode war etwas überzogen für die rustikal möblierte Stube. Auf dem blanken Eichentisch dampfte eine Schüssel Blumenkohl mit Hühnerbrust, das ganze in sämiger Käsesahnesoße.



„Ach Mama, musst nicht jedes Mal mein Lieblingsgericht kochen. Mach doch nächstes mal einfach, was weg muss.“ Es roch verführerisch, der Wildreis war genau nach ihrem Geschmack. Sie liebte ihre Mutter, deswegen konnte sie schwer zugeben, wie ihr dieses Gericht allmählich zum Hals raus hing. Wenn es so weiterging.



Eine Weile saßen sie und aßen, als ob sie immer so saßen und aßen. Es war still und Renie genoss diese einvernehmliche Ruhe. Jeder sollte erst einmal ein paar Löffel im Bauch haben, bevor drauflos geplappert wurde. Das war schon immer so. Renie saß den drei Fenstern gegenüber, die den Blick ins Tal boten. Im linken lockte zusätzlich ihr Gartenhäuschen. Hier saß sie immer, hier erinnerte sie sich immer.



Ein halbes Stündchen wollte sie auf jeden Fall nachher...



„Die Leute reden.“ Ihr Vater beendete die Stille und holte sie aus ihren Gedanken zurück.



„Worüber?“ Renie wusste nicht, was er meinte, war aber guter Dinge. Noch. „Gefällt den Nachbarn dein Bärtchen auch nicht mehr