Zwischen Bett und Labor

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Zwischen Bett und Labor
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Georg Steinweh

Zwischen Bett und Labor

Die Gelegenheiten des Fred Keller, Teil 1

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

Die Gelegenzeit

Die Entdeckung

Die Entscheidung

Figuren und Plan

Infos zum Autor

Impressum neobooks

Prolog

worum es geht:

Fred erbt sein Elternhaus, kehrt nach 18 Jahren zurück. Das Haus lehnt ihn auf mysteriöse Weise ab. Nicht nur der Notar interessiert sich für sein Grundstück, Fred überlegt, zu verkaufen. Eine berechnende Immobilienspekulantin beginnt mit ihm ein Verhältnis, das sich langsam zur Liebe entwickelt. Und er begegnet Mara, einer seiner vielen Jugendfreundinnen.

Schlafwandelnd und durch absonderliche Zufälle gelingt es ihm, die geniale Erfindung seines Vaters zu Ende zu führen.

Ein Zeitreise-Serum, das ihn mittels eines Tauchgangs in die Zeit des Konstanzer Konzils bringt.

wie es klingt:

... Wie von Marionettenfäden gezogen bewegte sich Fred durch die Stube, die so gar keine gute für ihn war, nach draußen. Wie er fast zärtlich mit den Fingerspitzen über jeden Tisch, über jede Stuhllehne strich, die sich ihm scheinbar in den Weg stellte, nahm er gar nicht wahr. Der Raum und die Zeit, die sich hier unten verbündet hatten, waren auf dem besten Weg, eine unauffällig begonnene Schlacht gegen einen Unzugänglichen zu gewinnen, der weder mit dem einen, noch mit der anderen etwas anzufangen wusste.

Die Gelegenzeit

Mittwochnacht

Achtlos lagen blutverkrustete Glassplitter neben einer akkurat aufgereihten Auswahl unterschiedlich hoher Gläser. Zwei düstere Ecken wurden von irgendeinem Licht angestrahlt, nur um den ganzen Rest noch mehr im Dunkel, im Ungewissen ruhen zu lassen. Ein Geheimnis aus Dingen zu machen, die entweder nicht existierten oder bei hellem Licht banal wären.

Im auslaufenden Schein der Tischlampe links vor dem Eckregal waren Chemikalien zu sehen. Alphabetisch aufgereiht, sicher über zwanzig. Eine Reihe darunter bestimmt ebenso viele Kräuter und Wurzelmixturen, fein säuberlich beschriftet, Druckbuchstaben auf weißen Etiketten.

Auf einem etwa schulheftgroßen schwarzen Samttuch glänzten silberne Werkzeuge, wie bei einen Zahnarzt oder Modellbauer. Die metallene Feinwaage daneben verlieh dem Arrangement einen unwirklichen Chic. Fast aufdringlich präsentierte sie sich, warf das Licht der Lampe von ihrer matt gebürsteten Stahlplatte an die poröse Sandsteinwand. Die ovale Reflexion streifte noch zur Hälfte den schlichten, aber praktischen Holzständer für Pipetten und Reagenzgläser. Arbeitsutensilien, wie sie seit Hunderten von Jahren benutzt wurden.

Rechterhand die gleiche Leuchte wie links, festgeschraubt an der Stirnseite eines weiteren Holzregals. Der Schwanenhals der Lampe wirkte unglücklich verdreht und hielt den Lampenschirm schräg, gerade so ohne ihn fallen zu lassen. Kein Fünkchen Licht fiel zur großzügig bemessenen Arbeitsfläche, der Schein der Lampe sollte offensichtlich nur die auffällig spitz zulaufende Ecke beleuchten.

Millimetergenau fügte sich die dicke Resopalplatte an die Wand, das Regal darüber keilte sich in die Ecke, es wuchs schier aus dem Sandstein und verdeckte mehr als zwei Meter der Eckwand. Es war still im Raum. War es ein Raum?

Scheinbar nicht zusammengehörige Gerätschaften und Mobiliar: eine Kammer für Überflüssiges, bereit für ein Rätsel. War das alles? Hin und wieder raschelte Papier, mal zaghaft, mal energisch, fast ungeduldig. Ja, umblättern. Sehen war nicht nötig, ahnen reichte, hier wurde in einem Buch oder Heft geblättert. Dann wieder ein faszinierter Blick über dieses Sammelsurium, schon fühlte sich die Phantasie aufgefordert, wenn ein weiteres Detail entdeckt wurde, auch die Geräusche mit eigenen Bildern zu versorgen. In diesem Regal hier, dem rechten mit der Lampe, verschieden große Büchsen, Gläser, Schachteln. Eine Holzprobe im Wasserbad, versiegelt in einem Einmachglas.

Das Buch wurde zugeschlagen – so klang es - und auf den kleinen ovalen Tisch gelegt, der gerade so unter die umlaufende Resopalplatte passte und fast zur Hälfte hervorstand. Wie ein Auge, das unter dem halboffenen Lid noch irgendwo etwas erspähen wollte.

Flirrte da Staub vom Tisch, von genau der Stelle, wo vorher das Buch lag? Der Blick stieß an, den Geräuschen folgend. In der rechten Ecke stapelten sich Schächtelchen mit Stoffresten, Fotos, zwei Alben, zwei Leitzordner. Rechts um den spitzen Winkel - sicher kaum mehr als 40 Grad -... da wurde aus dem großen Regal schon wieder ein Buch gegriffen! Welches? Von wem? Zurück blieb eine Lücke zwischen Büchern. Vielleicht dreißig, vierzig. Über ‚Heilkräuter’, ‚Hexenkräfte’, eine gebundene Doktorarbeit ‚Von der Alchimistenküche zum Chemielabor’. Nicht gerade die typische Literatur eines Fischers. Daneben Ordner und Manuskripte, die Weltuntergang und Himmelskunde thematisierten.

Es brummte. Unnachgiebig legte sich ein ratterndes Geräusch über die Bilder, füllte die stillen Lücken. Ein Generator in diesem Zweckverband aus Labor und Bücherei? Eine Tür schlug zu. Nicht groß, nicht laut, gummigefedert. Fast gleichzeitig wurde wieder geblättert, Seite um Seite durchgeblättert, zügig, auf der Suche nach... wonach? Von wem? Waren die Fingerkuppen benetzt, um das Blättern zu erleichtern? Das Papier klebte an den Fingern, die Zeilen entglitten dem Verstand. Überm Buch ein harter Schatten, die linke Hand hielt ein luftdicht verschlossenes Glas in den Strahl der Leselampe.

Neugier.

Dreiviertel voll Wasser oder einer ähnlich klaren Tinktur, worin ein kaum mehr als daumengroßes, sauber gearbeitetes Stück Holz von einem Stein unter die Oberfläche gedrückt wurde. Etwas konisch, ein Holznagel vielleicht, den Fred nach ergebnisloser Betrachtung wieder zurück in den Kühlschrank stellte. Genau an die vorherige Stelle. Das wieder gut beleuchtete Buch wurde zugeklappt, „Dendrochronologie und Archivierung“ stand in weißer Helvetica halbfett auf einem verblichenen Bilduntergrund, einer Holzscheibe mit imposanten Jahresringen. Sicher kein Vesperbrett.

Ruhig, fast mechanisch schob Fred das Buch an seinen Platz zurück, blieb einige Sekunden vor dem Regal stehen. Suchte er etwas Bestimmtes? Drehte sich zum Tisch. Der Aufbau dieser eindeutig chemischen Versuchsanordnung behielt den Sinn für sich. Er war erschöpft, ohne es zu spüren. In Fremdes eingedrungen, ohne sich zu wundern. Hatte die fehlende Raumhälfte ignoriert, ohne sie zu vermissen. Übergangslos verlor Fred jegliches Interesse an diesen rätselhaften Ort. Draußen schloss er ordentlich die Tür, die, sobald er die Hand wegnahm, überhaupt nicht mehr auszumachen war. Setzte Fuß vor Fuß aufwärts die steile Holzstiege in einem Licht, das wenig mehr war als nichts, mit einer Sicherheit, die nur einem Schlafwandler zu eigen war.

Wie von Marionettenfäden gezogen bewegte sich Fred durch die Stube, die so gar keine gute für ihn war, nach draußen. Wie er fast zärtlich mit den Fingerspitzen über jeden Tisch, über jede Stuhllehne strich, die sich ihm scheinbar in den Weg stellte, nahm er gar nicht wahr. Der Raum und die Zeit, die sich hier unten verbündet hatten, waren auf dem besten Weg, eine unauffällig begonnene Schlacht gegen einen Unzugänglichen zu gewinnen, der weder mit dem einen, noch mit der anderen etwas anzufangen wusste.

Donnerstagfrüh

Lustlos beschickte Fred die Kaffeemaschine und wunderte sich, wie vertraut all die Handgriffe in den letzten Tagen in dieser fremden Umgebung geworden waren. Fast hätte er gedacht, in dieser ungeliebten Umgebung.

Denn zu allem Übel schlief er auch noch schlecht, fühlte sich gerädert und ausgelaugt. Als beharre das Haus auf dem Recht, ihn nicht willkommen heißen zu müssen.

Für ihn war das Beweis genug, sich damals richtig entschieden zu haben. Aber musste er sich für irgendeine Entscheidung rechtfertigen? Wem gegenüber?

Es ist schließlich mein Leben, um das es hier geht. Schon immer, stachelte er sich auf.

Er goss sich Kaffee ein, schwarz, zwei Löffel Zucker, umschloss die bauchige Tasse mit beiden Händen und bewegte sich einmal mehr langsam durch die oberen Räume. Sein Blick streifte die Einbauschränke, suchte Erinnerungen.

Sein Haar streifte den Türsturz.

Ist mir früher gar nicht aufgefallen, ganz schön niedrig diese Decken.

Ein volles Bücherregal füllte die Wand zwischen der Wohnstube und der Küche.

Eigenartig.

Langsam ging er am Regal entlang, als registriere er die Titel.

Was macht ein vergrämter Fischer, wie mein Vater einer war, mit so vielen Büchern? In einem Haus, das unten eine verstaubte Besenwirtschaft ist und oben eine Höhle für einsame Leseratten.

 

Vor knapp drei Wochen – mittlerweile war es der 5. Juli 2012 - war Fred auf der Halbinsel Höri angekommen. Er hatte sich in all den Jahren keine Gedanken darüber gemacht, ob sich hier etwas verändern würde. Es hatte sich alles verändert. Und gehörte nicht mehr zu seinem Leben.

Als er, begleitet vom Quietschen des Gartentürchens, die Wiese des ungepflegten Grundstücks betrat, erschien ihm das Haus - obwohl es nicht anders aussah als früher - wie eine Fehlkonstruktion. Eine Zwangsgemeinschaft zweierlei Stile aus zweierlei Bedürfnissen. Ein gemauerter, dicker weißer Ring, der allem trotzte, was einzudringen wagte. Was völlig sinnlos gewesen wäre. In dem Haus gab es nichts zu stehlen. In dem Haus wollte sich auch nichts verbergen.

Oder wollte das Haus etwas verbergen...? War das der Sinn des Erdgeschosses? War es nicht zu wenig, einer bretterverschalten, schwarz lasierten Fachwerkkonstruktion zur ersten Etage zu verhelfen? Noch dazu mit einem sich unanständig weit auf den See hinausbeugenden Balkon, der die ganze Breite des Hauses dominierte.

Aus dem Bücherregal griff Fred ein Fotoalbum, aus seinem Wäschestapel kramte er einen weichen Pullover. Der breite Fenstersims, auf dem sich sonst Zimmerlinden und Geldbäume den Platz an der Sonne streitig machten, diente ihm als Kleiderablage. Drei Stapel hatte er aufgebaut: weiße T-Shirts und Hemden, einen Haufen Unterwäsche und ein Stapel, der keiner war: zwei dünne Pullover, grün und blau. Die Hosen hingen ordentlich – soweit das ohne Kleiderbügel ging – über einem Sessel. Eine schwarz-weiße Pepitahose, die ihn auch hier zum Koch machte, zwei dunkle Leinenhosen, je eine schwarze und braune Lederhose.

Fred war kein Jeanstyp, ja er hasste dieses „uniformierte Allerweltsoutfit“. Sein Freund Paul war da ganz anders. Der wurde bei guten Jeans, die gerne über 250 Euro kosten durften, gerne schwach.

Warum leg ich mir nicht einfach ein Kissen unter den Hintern und mach es mir auf der Fensterbank bequem? Der Blick von hier oben ist auch nicht zu verachten.

Fred hatte immer noch keine Lust, sich großartig zu etablieren – nur nicht das Gefühl aufkommen lassen, man könnte sich hier einnisten, womöglich sogar wohlfühlen. Faul schlurfte er mit seinem Päckchen die Treppe runter in die Wirtsstube. Warf achtlos das Fotoalbum auf einen Tisch und zog den Pulli über – obwohl... er hätte einfach nur vor die Tür treten müssen, schon würde er merken, wie angenehm warm dieser späte Vormittag war.

Morgen um drei wird Jure-Gunnar endlich das Testament eröffnen, endlich Freitag.

Fred nannte Gunnar von Falkenstein nur noch Jure-Gunnar. So wie er ihn in den letzten Tagen erlebt hatte, konnte er ihn nicht mehr ernst nehmen.

Diese Tage, diese verdammten Tage hoffte er irgendwann aus seinem Gedächtnis streichen zu können. Er lebte einen bizarren Traum, in dem sogar der Notar eine surreale Rolle spielte. Er wollte endlich aufwachen und wenn es sein musste, vor Schreck aus dem Bett fallen. Das natürlich in seiner Wohnung in Bacharach zu stehen hatte. Dann würde er auf dem Boden sitzen, über sich lachen und schreien und lachen. Würde sich in den Arm zwicken, feststellen, was wirklich war und sich über seine Phantasie wundern.

Aber noch war er hier, allein, phantasielos. Alter Staub und frische Putzmittel.

Ein großes Haus, ein toter Vater, unruhige Nächte, eine stumme Stube. Alles leider echt, kein phantasievoller Traum.

Fred stand zwischen den Stühlen, betrachtete wieder einmal den Raum und stützte sich müde auf den Tisch. Der sich keinen Millimeter bewegte. Solide Arbeit. Die Eckbank umklammerte den Raum wie ein dickes ‚U’ und war für die Ewigkeit gebaut. Eiche mehr als rustikal. Ebenso der schmale Tresen links an der Tür zur Stube. Der Tisch in der linken Ecke war größer als die beiden anderen an der rechten Wand.

Sicher der Stammtisch, mit Vorzugsblick zum See. Mehr als 20 Leute waren hier bestimmt nie drin.

Schmale Stühle mit offenen Lehnen, die den Männern den Schweiß des Tages aus den Kitteln zogen. Über den Tischen hingen schmiedeeiserne Lampen mit gelben Glasschirmen. Zur Zeit des alten Keller verbreiteten die sicher ein Licht, das die gemütliche Wirkung des Raumes noch verstärkt hatte.

Von der Fred momentan nichts spürte. Müde setzte er sich, müde betrachtete er das Album.

Was waren die siebziger Jahre bloß für eine Zeit? Geschmacklos ohne Ende, wie das Fotoalbum.

Ein Album, verpackt in pastellfarbene Seifenblasen im Stil der Flower-Power-Jahre. Ganz anders das Hochzeitsfoto der Eltern. Perfekt inszeniert, brav und bieder. Ein steifes, honoriges Zeugnis aus dem Jahre 1969, in zeitgebleichten Farben.

Mamas Haare sehen aus, als könnte sie mit der taftgefestigten Betonfrisur schadlos jede Mauer durchbrechen. Und Vater macht ein Gesicht, als denkt er darüber nach, wie er die Mauer wieder heil bekommt. Was dachte er bloß, als er sein Sterben vorbereitet hatte?

Kann man sein Sterben vorbereiten?

Wie viel Zeit hatte er sich dafür genommen...

Kann man Zeit irgendwo wegnehmen?

...zu planen, mich drei Wochen hierher zu zwingen, und ich kann nix dagegen machen?

Er blätterte weiter, und mit jeder Seite wuchs der Zorn auf seinen Vater.

Fred spürte nicht das Glück in den Familienfotos. Sah nicht den strahlenden Vater, der bis weit in die Siebziger Jahre immer zufriedener wurde. Schnappschüsse im Boot auf dem See, abwechselnd mit Netz, beide bei der Arbeit. Bilder am Haus, die Mutter hing nicht die Wäsche, sondern die Netze auf. Dann wieder eine Jahreszahl, mit Buntstiften geschrieben, liebevoll ausgemalt: 08.08.1976, seine Geburt. Fotos im Krankenbett, die erschöpfte Vrenie, der stolze Konrad mit dem Baby auf dem Arm, er streckte es dem Fotografen entgegen. Dann ein Foto zuhause am See, im weißen Rahmen, mit Bleistift das Datum: 20. August 1976.

Wahrscheinlich mein erster Seeblick.

Es war ein Bild voller Zärtlichkeit. Fred betrachtete es wie alle Fotos, als suchte er krampfhaft etwas, als wollte er die Zeit analysieren. Oder recht behalten mit seinem negativen Blick auf den toten Vater, der in jedem dieser Bilder eine Fred fremde Geschichte erzählte. Er wollte sie nicht erkennen.

Keine zwei Wochen war er alt auf dem Foto, seine Mutter drückte ihr Gesicht an seines, sie strahlte und schaute verträumt zum See. Zwei Schritte hinter ihr stand sein Vater, die zu großen Hände im Overall versteckt. Ein schmaler Typ, braune glatte Haare, mit 32 schon ausgeprägte Geheimratsecken und dem Ansatz eines Bierbauchs.

Viel ausdauernder betrachtete er seine Mutter. Ihr schmaler Kopf wirkte durch die ins Gesicht hängenden dunkelblonden Haare noch zierlicher. Schön und zart sah sie aus, war auf dem See ihrem Mann trotzdem ebenbürdig. Ihr Gesicht, ihre Augen sprachen eine sanfte Sprache, das Kinn war schmal und etwas spitz, die Augen grün und klar und – sie hatte eine Stupsnase.

Fred schaute genauer hin.

„Na Mama, für Deine Nase würden heutzutage einige Frauen ´ne Menge Geld hinlegen.“

Ferdinand Beißwanger war kurz im Paradies. Konnte es aber mit unnachahmlichem Geschick vermeiden, in die Wohnung namens Septembersuite ziehen zu müssen. Eine Wohnung in einem anonymen Hochhaus – das ging gar nicht. Da half es auch nicht, dass der Wohnblock in besagtem Paradies-Viertel stand, das ein Zentrum seiner Recherchen war. Allerdings in einem sehr schmalen Zeitkorridor. Beißwanger interessierte sich für Konstanz und seine an der Stadtmauer klebenden Viertel ausschließlich von 1414 - 1418. Und es ging ihm ausschließlich um das Konstanzer Konzil. Anfangs.

Es zog ihn mitten in die Stadt. Bis November würde er dann lieber bescheiden in der Hüetlinstraße wohnen, wo ihn sein Verleger untergebracht hatte.

Die Vermieter priesen den Wohnraum zwar als Appartement, aber Beißwanger bestand darauf, es Wohnung zu nennen - mit kleinem Bad und noch kleinerer Küchenzeile. Ihm reichte das vollauf. Seine zehn Teesorten fanden Platz und morgens holte er sich unweit vom Haus zwei Croissants und eine Tageszeitung. Als glückliche Fügung wertete Beißwanger außerdem die Tatsache, dieses zartblaue Haus sei zu Zeiten des Konzils gebaut worden.

Was wollte er mehr?

Er lehnte am offenen Fenster und betrachtete das ebenso alte grüne Haus auf der anderen Straßenseite. Die Luft war warm und er genoss in tiefen Zügen den lauen Abend - und seine Gedanken, die ihn heftig umtrieben. Er spürte den Hauch Feuchtigkeit vom See, die eine Brise von der Hafenmole herüber trug. Hin und wieder drang Musik aus vorbeifahrenden Autos nach oben, viel konstanter war allerdings das Gerede der Grüppchen, die an seinem Haus vorbeiliefen, irgendwoher kamen oder irgendwohin gingen. Es war halb zwölf am Abend und Ferdinand Beißwanger arbeitete sich noch immer durch seine Bücher.

So spät in den Gassen des späten Mittelalters zu wühlen war für Beißwanger ungewöhnlich. Er fühlte sich einem geregelten Tagesablauf verpflichtet, war Frühaufsteher und wusste sehr wohl die Pflicht von einem entspannten und verdienten Feierabend zu trennen. Schließlich hatte er noch drei Monate vor sich, um seine Recherchen zum Konzil in ein sachkundiges und pointenreiches Manuskript zu verpacken. Es war aber auch ein ungewöhnlicher Tag.

Er dachte über diesen Tag nach, ließ ihn Revue passieren, ebenso präzise, wie er sich vorstellen konnte, in welcher Enge und mit welchem Geschrei das Marktgeschehen zwischen Hofhalde und Oberem Münsterhof um 1414 ablief.

Beißwanger hatte von einem Konstanzer Verlag den Auftrag bekommen, zur 600-Jahr-Feier des Konstanzer Konzils 2014 eine Jubiläumsausgabe zu verfassen. Das ehrte ihn sehr, verschaffte ihm aber auch eine nicht vorauszusehende Menge an Arbeit. Richtig, er war im Mittelalter zuhause, aber von 1414 bis 1418 war eben eine lange Zeit und die mit plötzlich 70000 Bürgern aus allen Fugen platzende Stadt ein schier unerschöpflicher Brunnen.

Der Verlag hatte ihm erlaubt - Beißwanger fand es eher verpflichtend - drei Artikel bis zur Buchveröffentlichung zu verfassen, die in der regionalen Presse auf das Konzilsjubiläum hinweisen sollten. Natürlich würde es sich nicht vermeiden lassen, die zugehörige Jubiläumsausgabe des Verlags anzukündigen. Beißwanger war das unangenehm, das zu erwartende Zusatzhonorar schmälerte aber seinen Widerstand ebenso wie seinen Hang zur Bescheidenheit.

Die Prozession der stolzen Fürsten und unnahbaren Gottesmänner durch die Straßen, das Ehrfurcht einflößende Glockengeläut über allen Dächern verknüpfte er mit dem zugehörigen Glanz, beschrieb die prächtigen Gewänder und erläuterte die politischen Querelen unter den vielen weltlichen und kirchlichen Herrschern. Für das Treiben, die Vielfalt an den Markständen fand Beißwanger Worte, die den Leser fast den Gestank und den Lärm spüren ließen, die aus den Gassen zum Münsterplatz drängten. Die Stadt war berstend voll.

Nach den Lehr- und Wanderjahren als Koch hatte es Fred nach Bacharach am Rhein verschlagen, also wieder ans Wasser. Unterbrochen von diesem notwendigen Übel Wehrdienst, den er in einer Gegend verbrachte, die nicht gerade mit landschaftlichen Reizen glänzte. Grafenwöhr. Oberpfalz. Klang und war beides einfach nur schrecklich.

Wie anders war der Rhein. Er zog die Menschen an, und sie ließen sich gerne nach Bacharach ziehen. An einen Ort, den vom Frühjahr bis zum Herbst weit mehr Touristen durchpflügten, als Bewohner gezählt wurden. Schmale, kopfsteingepflasterte Gassen, die von manchmal zu pittoresk renovierten Fachwerkbauten gesäumt wurden. Rot bemalte Fassaden verputzter Steinhäuser, geschichtsträchtige Ruinen in Sichtweite, efeu- und weinlaubbedachte Terrassen. Dem folkloresüchtigen Besucher wurde Geschichte quer durch viele Jahrhunderte geboten - der alle paar Meter ausgeschenkte Wein würde sie schon verdaulich machen.

Freds guter Ruf - zumindest was die Küche seiner Gaststätte „Zur guten Mahlzeit“ anging - verbreitete sich wie die Nachricht vom Sieg über die Reblaus. Als er das Lokal übernommen hatte, sprachen zwei Gründe für den Erhalt des Namens, den er etwas abgegriffen fand: erstens tauchte der Name in allen überregionalen Internetauftritten des Gaststättenverbandes auf und zweitens thronte er unübersehbar über den vier Fenstern, die die komplette Hausbreite dominierten. Es muss vor langer Zeit gewesen sein, als die Fassade mit einem geschickt gewählten Ockerton gestrichen wurde. Mittlerweile war schwer festzustellen, was Farbe und was Alterspatina war.

 

Das Thema Namensänderung war also vom Tisch, bevor die erste Suppe serviert wurde.

Von heut auf morgen sollte ihm dies allerdings nicht gelingen.

„Wo find ich denn den neuen Besitzer dieses Dornröschenschlosses?“

Fred schaute von seiner leeren Bierflasche auf, in deren braunen Schimmer er sich vertieft hatte. Er saß an einem Gartentisch inmitten seines verwilderten Innenhofes, gab dem Störenfried innerlich Recht, wollte aber seine Ruhe haben.

„Warum?“ Wie der Chef sah er grad wirklich nicht aus. Neben seinen auffallend großen Händen lagen Block und Stift. Die dunkelbraunen Locken waren durchwirkt von Zementstaub und Holzwolle. Insgesamt also eher die Erscheinung eines relativ großen, relativ trainierten Bauarbeiters in abgewetzter Cordhose. Auffällige grüne Augen, ein klarer Blick - der Kerl konnte sicher eine Mauer ohne Lot hochziehen. Dachte der Fremde. Aber im Moment saß Fred eher da, als hoffte er darauf, dass ihn das Gestrüpp allmählich überwuchern würde.

„Weil ich ihm mein Beileid aussprechen möchte. Hast für mich auch ´ne Flasche? Ich zahl sie auch, keine Bange.“

Fred erhob sich tatsächlich, überlegte es sich anders, setzte sich wieder und machte mit der Hand eine fahrige Geste. „Selbstbedienung.“

Mit zwei Flaschen kam der Störenfried zurück an den Tisch. „Darf ich?“

„Heute ist Ruhetag“, entgegnete Fred nur. Der Fremde holte sich einen Stuhl und setzte sich in gebührendem Abstand zum Nörgler an den Nachbartisch. Er wollte nicht unhöflich sein - aber neugierig schon. Fred schaute ihn an, aber genauso gut hätte er den Ranken an den kaum mehr sichtbaren Mauern zusehen können, wie sie wuchsen.

„Ich will ja nicht wirklich stören. Aber vielleicht kann ich helfen.“ Mit einem ‚Plopp’ öffnete er die Bierflasche, trank sie halb leer und klemmte sie mit einem genießerischen „Aaaah“ zwischen die Beine.

Fred ließ den Fremden warten.

„Hier läuft alles bestens. Nur die Putzkolonne hat mich versetzt.“

Sein Gegenüber gab nicht auf. Freundlich streckte er dem Einsilbigen die Hand entgegen. „Paul Anker, Architekt. Ich habe Kontakte zu Handwerkern jedweder Couleur. Und das mein ich auch so.“ Dabei lachte er derb über seinen eigenen Witz.

Architekten duzen wohl jeden, dachte Fred, musterte den Typen skeptisch und drückte die angebotene Hand. „Fred Keller, Pächter. Ich habe Kontakte zu einer guten Brotzeit. Und das mein ich auch so.“

Während Paul sich über eine dicke Scheibe roten Pressack hermachte, schilderte Fred kurz seine Pläne. Das Lokal war in einem Zustand, der dem des Gartens ähnlich war. In den Fugen der Küchenfliesen klebte das Fett der letzten Jahre, die zwei Gasträume rochen nach Zeiten, als in Wirtschaften noch geraucht wurde und verlangten danach, behutsam aber gründlich modernisiert zu werden. Fred schilderte seine Pläne ziemlich detailliert, aus seinem Leben erzählte er aber nahezu nichts.

Trotzdem entwickelte sich hier in diesem Garten ihre Freundschaft und es war nicht Fred Keller, sondern Paul Anker, der von Anfang an eine Nähe ermöglichte, die in den folgenden Jahren immer intensiver wurde. Seine schnoddrige Art ließ sofort vergessen, dass Paul eher einem aalglatten Banker glich, der seine blonden Haare mit viel Gel in Form halten musste.

Zu guter Letzt hatte es doch geschlagene drei Wochen gedauert, bis die erste Suppe aus dem Topf geschöpft wurde. Eine Rundumsanierung wie Paul sie geraten hatte, konnte und wollte sich Fred nicht leisten. Der Besitzer war auch nicht gerade jemand, der zum damaligen Zeitpunkt großes Vertrauen in sein Gasthaus gesteckt hätte – geschweige denn Geld. Die Küche keimfrei und ansehnlich zu bekommen, war schwieriger als erwartet, aber Pauls Truppe war ihr Geld wert.

Die Wirtsstuben schmückten helle Vorhänge, die wenigen, rau verputzten Wandstücke schimmerten zwischen den Fenstern pastellgrün, der Rest war weiß. Auf einigen alten Bodenfliesen, die zwischen Braun und Grün changierten, hatten sie Überbleibsel von Jagdmotiven, Fährbetrieb und Weinlese frei geschrubbt. Diese Betriebsamkeit zu seinen Füßen betrachtete Fred als gutes Omen und war zuversichtlich, sein Lokal in ein fruchtbares Refugium verwandeln zu können.

Mit straffer Hand trieb Fred sein Personal durch die Saison. Die Löhne waren knapp bemessen, aber gerade zuviel, um sich zu beschweren. Der Umgangston war trocken, was aber keiner aus der Belegschaft persönlich nahm – bisher hatte niemand Fred Keller mit einem Bekannten oder gar einem Fremden in einer besonders freundlichen Gesprächssituation erlebt. Die Schlagzahl war hoch, das Personal hatte freundlich zu sein, auch wenn noch so viele Teller mit paniertem Saumagen und hausgemachtem Kartoffelsalat aus der Küche in den historischen Innenhof getragen werden mussten.

Fred liebte es, abwegige Gerichte anzubieten. Einerseits bescherte ihm die Einfältigkeit der touristischen Vorlieben eine unkomplizierte Essenskalkulation, andererseits nervte es ihn, ja, beleidigte seine Kochkünste, wenn nur etwa 20 Prozent der Gerichte seiner sowieso kleinen Speisekarte bestellt wurden.

Es war also schwer zu sagen, ob ihn Bosheit dazu trieb, seinen Gästen die üblichen Klassiker völlig verfremdet vorzusetzen. Eine Zeitlang servierte er zum Beispiel frittiertes Schnitzel - in schmale Streifen geschnitten - mit Stäbchen. Wurde unverhofft zum Renner bei Asiaten und weiblichen Kegelgruppen. Die waren verrückt nach Streifenschnitzel und besuchten ihn nur deswegen. Rheinischer Sauerbraten kam in Rouladenform auf den Teller, gefüllt mit Rosinen und Armagnacpflaumen. Die unentbehrliche Soße konnte der Gast unbegrenzt aus einem rechaudbeheizten Fässchen zapfen. Eine Idee, um die ihn einige Kollegen aus dem Gaststättenverband beneideten.

Irgendwann machte sich das Herz bemerkbar, nach Freds Meinung mehr als nötig. Sein Arzt hatte ihm einen unausweichlichen Herzinfarkt, „wenn nicht sogar einen Schlaganfall“ versprochen, wenn er nicht sofort damit aufhörte, literweise diesen stark gebrühten Kaffee in sich hineinzuschütten, als wäre es Leitungswasser. Er sah Doktor Günther förmlich vor sich stehen: leicht nach vorn gebeugt, die Hände - damit sie nicht ständig beschwörende Gesten vor Fred in die Luft malten - die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Doktor Günther meinte es ernst.

„Trinken Sie gefälligst Tee!“ Als ob das automatisch zu einer gemäßigten Lebenshaltung führte. „Teetrinker sind gemütlichere Menschen“.

Verdammt nochmal! Was denkt der eigentlich? Ich bin 35, mein Laden brummt und ich bin topfit.

Das war vor drei Monaten.

Okay, bin momentan etwas wackelig auf den Beinen, aber ist das ein Wunder? Es stirbt einem doch nicht alle Tage der Vater weg. Und dieses schreckliche Haus, dieses Haus will mich wohl unter die Erde bringen.

Mit dem schwelenden Kaffeedampf verteilten sich Freds Gedanken im Raum.

Die Muttererde. Hatte Vater immer gesagt. Soweit wird´s nicht kommen. Den Gefallen tu ich dir nicht, mein Lieber. Reicht schon, dass du Mutter auf dem Gewissen hast.

Fred musste seinem Arzt Recht geben. Ganz munter fühlte er sich wirklich nicht. Schlief fast jeden Tag bis mittags und gönnte sich lange Ausfahrten über den Bodensee, zumindest über den schmalen Ausläufer vor seiner Tür. Das reichte. Saß gerne im Garten, einfach so, geradeaus schauen – um sich leider oft zu ärgern, weil er sein Hirn einfach nicht ausschalten konnte.

Irgendwann wurde ihm langweilig, da fing er eben an, die Wirtsstube zu putzen, die hatte es wirklich nötig. Wischte Staub vom Mobiliar, das genauso gut im Lager eines Gebrauchtmöbelladens stehen könnte. Der Staub hing an den Tischen, er klebte nicht nur durch die Bier- und Weinspritzer an den welligen Oberflächen, er gehörte dazu, wie aus lieber Gewohnheit. Der Gewohnheit, seit mehr als langer Zeit wieder und wieder von den gleichen Leuten die immer gleichen Geschichten zu hören, gewollt oder nicht.

Wann fing es wohl an aufzuhören?

Dass keine Geschichten mehr zu hören waren, weil sich einfach niemand mehr finden wollte, der hinreichend abgestumpft oder dem Wirt freundschaftlich genug verbunden war, kostbare Feierabendzeit beim mürrischen Konrad zu verbringen. In den Ritzen der gescheuerten Tische versickerte kein Tropfen Selbstgebrannter mehr, kein raues Lachen drückte die Nikotinschwaden gegen die gekalkten Wände, keine abgegriffenen Schafkopfkarten, die gewinnsüchtig auf den Tisch geschmettert wurden, als könne schon allein die bessere Schlagkraft den gegnerischen Reizer beeindrucken.