Die Gabe des Erben der Zeit

Текст
Автор:
0
Отзывы
Читать фрагмент
Отметить прочитанной
Как читать книгу после покупки
Шрифт:Меньше АаБольше Аа

„Hallo! `tschuldigung!“

Erschrocken stellte Fred die Schale auf den Tisch.

Verdammt. Wer stört? Noch sechs Minuten, dachte er - und rief laut zum Fenster „Kann ich Ihnen... irgendwie helfen?“ Das Gegenlicht machte es ihm schwer, die Person im offenen Fenster zu erkennen, der Stimme und dem kurzen Pferdeschwanz nach war es jedenfalls eine Frau, eine jüngere, die sich an einem Fahrradlenker festhielt. Fred wischte sich die Hände an der Schürze ab, war in wenigen Schritten beim Fenster, wollte den Störenfried besichtigen.

„Haben Sie heute nicht geöffnet? Wissen Sie, ich hab die offenen Fenster gesehen und wollte hier einkehren.“ Hübsch war sie. Stellte er fest. Nur Geschmack hatte sie keinen.

Groben Strick tragen doch sonst nur Bergwanderer. „Wie geöffnet? Ach so, nein. Schon lang nicht mehr.“ Das Gebläse des Herdes forderte Freds Aufmerksamkeit.

Mein Fisch! Wie kommt die überhaupt aufs Grundstück?

„Schade. Zweimal im Jahr führt meine Tour hier vorbei, dann trink ich was und fahr wieder weiter, aber so eine kleine Verschnaufpause, wissen Sie, die brauch ich schon.“ Renie Tiez schob gefällig eine vorwitzige Strähne aus der Stirn und lächelte, zwischen hilflos und bestimmend.

„Soso. Sie machen also Radtouren. Ist ja interessant, aber ich...“ Freds Versuch, sie auf den wartenden Herd aufmerksam zu machen, scheiterte.

Sie unterbrach ihn. „Und da hab ich vorn am Weg einen wirklich außergewöhnlich grusligen Schrei gehört, ich traute mich einfach nicht, weiterzufahren. Man muss sich doch kümmern, wissen Sie. Oder denken Sie nicht? Ich stand lange an Ihrem Tor und hab mich nicht getraut, mich zu rühren. Dann war´s aber wieder mucksmäuschenstill. Am Ende ist der... ist der alte Herr vielleicht umgebracht worden. Sind... sind Sie...“ Renie Tiez versuchte mit einem Stottern Harmlosigkeit und Witz zu unterstreichen. „Sind Sie... sein Mörder? Oder gehören Sie zur Familie?“

Blöde Frage. Will die witzig sein?

Die Stoppuhr. Sie piepte. Unbarmherzig und erfolgreicher als Fred beendet sie den Redeschwall der Radlerin. Der Fisch war gar. Fred hatte eine Idee.

„Warten Sie“. Er sprang zum Backofen, schaltete ihn aus und öffnete die Tür. Kurz überschlug er die Reichhaltigkeit seiner kulinarischen Möglichkeiten und eilte zur Fensterguckerin zurück. „Wir haben... äh... aus innerfamiliären Gründen noch nicht wieder richtig geöffnet, also eigentlich grad richtig zu, aber als Gastronom verbietet es sich mir natürlich, sie unbewirtet weiterziehen zu lassen.“

„Das klingt aber reizend. Was bedeutet denn nicht richtig geöffnet?“

Renie lehnte ihr Rad ans Haus und kam ganz dicht ans Fenster, so daß ihr Lächeln, ein wirklich sehr nettes Lächeln, Fred gefährlich nahe kam. Unnötigerweise wischten seine längst sauberen Hände wiederholt über die Schürze.

„Es gäbe Fisch, frische Forelle und einen netten, kleinen Chicoree-Salat. Was trinken Sie? Zur Tour passend ein Radler?“ Fred fand sich total witzig.

„Klingt ja köstlich! Hätten Sie alternativ ein Glas Weißwein für mich?“

Die Forelle hatte Fred die Nachgarzeit nicht übel genommen. Er servierte souverän am Gartentisch mit Seeblick und reichte einen leichten Silvaner, der seiner Meinung nach hervorragend mit ihrem warm glänzenden Blond korrespondierte. Es war dieses Blond, das ihn überredet hatte.

Renie nahm das Glas, ließ den schimmernden Wein rotieren und roch ausgiebig. Dann hob sie Fred ihr Glas entgegen. „Ich weiß, es ist nicht üblich, daß sich Wirtschaftsgäste vorstellen. Aber jetzt, Sie sind so großzügig, bewirten mich so freundlich, obwohl Sie noch nicht richtig geöffnet haben. Ich heiße Ren... Renate.“ Renie beschloss spontan, ihren richtigen Namen zu verschweigen. Falls ihr noch unwissender Kunde mit Immobilienfirmen zu tun bekäme und irgendwo der Name Renie Tiez fiel. Das wäre sehr kontraproduktiv.

Ohne Strickjacke, mit Weinglas in der Hand wirkt ein Mensch doch gleich ganz anders, dachte Fred. Die beiden Gläser trafen sich mit zartem Klang, er fand den Wein wirklich gut gewählt. Sein Vater hatte einen Weinvorrat, der von großer Kenntnis zeugte.

„Fred, der Fastwiederwirt“, antwortete er.

„Was heißt Fastwiederwirt?“ fragte sie und löste ein schneeweißes Stück Fisch von der Gräte. „Mmmh“, war ihr einziger Kommentar.

Fred hatte Lust, mit dieser Renate einfach ein wenig zu plaudern, sie wirkte unkonventionell und offen. Das hieß aber noch lange nicht, seine ganze Lebensgeschichte einer weiteren Frau zu erzählen. Grundsätzlich nicht. Er zerdrückte sein Filetstück am Gaumen, machte eine weit ausladende Geste.

„Naja, das heißt einfach, die Wirtschaft ist noch nicht wieder geöffnet.“ Mit einem frechen Augenzwinkern prostete er ihr zu. „Auch wenn’s im Moment anders aussieht, liebe Renate.“

Wie sah es aus? Harmonisch sah es aus, wie sie entspannt am Gartentisch saßen, die zarten Stücke von den Gräten lösten und die Zeit genossen. Fred erzählte so beiläufig es ging von nötigen Renovierungsarbeiten, vielleicht würde er die Wirtschaft seines verstorbenen Vaters wieder beleben können. Kein Sterbenswörtchen vom überraschenden Tod des Vaters, keine Andeutungen über seinen Konflikt mit dem Haus und dem begründeten Misstrauen gegen den Notar. Fred genoss den Moment, schenkte aufmerksam Wein nach. Renie bedankte sich, schmückte ihre letzten Touren blumig aus, beteuerte, wie gerne sie immer wieder über die Höri radelte, wie neidisch sie auf die Besitzer dieses Paradieses am See sei, die doch bestimmt das ganze Jahr über glücklich leben könnten.

Währenddessen versäumte sie nicht, die Forelle zu sezieren. Kauend deutete sie mit der Gabel in die Salatschüssel. „Was ist denn da Raffiniertes drin?“

Fred schob sich etwas Salat in den Mund, als prüfte er, was er gemixt hatte. „Naja, dünne Apfelspalten, das haben Sie sicher bemerkt. Und dazu noch ein kleines Geheimnis. Direkt vom Rhein eingeflogenes Mangochutney.“ Er machte eine Pause und kreiste bedeutungsvoll mit der Gabel über seiner Schale. „Wobei das Besondere dran ist, es erst kurz vor der Verwendung klein zu hacken. Mit Liebe natürlich.“

„Sie wussten doch gar nicht, daß ich komme“, scherzte Renie und leckte sich die Lippen. Fred prustete fast seinen Schluck Wein zurück ins Glas. War das jetzt anzüglich oder unverschämt? „Sollte ein Scherz sein“, half sie ihm aus der Klemme und fürchtete eine Sekunde, einen kleinen Schritt zu weit gegangen zu sein. „Und warum so weitgereistes Chutney?“ wechselte sie das Thema.

Fred hob sein Glas, wollte mit ihr anstoßen. „Auf Ihren Witz!“ Das mit dem Rhein war ihm so rausgerutscht, er musste echt aufpassen, nicht zuviel zu erzählen, sich nicht um den Finger wickeln zu lassen.

Zu guter letzt baut diese forsche Dame ein Hauszelt auf meiner Wiese.

Die Butterbrote, die sie beisteuerte, passten wunderbar zum Fisch. Ihr dunkelgrünes T-Shirt passte auffällig gut zu den strohblonden Haaren.

Diese Fremde, die auf einmal neben ihm saß, die Hälfte seines Essens stahl und widerstandslos seine skeptische und mürrische Laune aufbrach hatte Augen, denen er sich schwer entziehen konnte. Eher gar nicht. Sein Blick wanderte regelmäßig - unauffällig, wie er glaubte - von der aufgeblätterten Alufolie über ihre Augen zum Haus, natürlich hatte er ihr den besten, den Kaiserblick zum See gegönnt. Dann wieder ein Blick zum Salat, zum Glas, „Möchten Sie noch Wein?“, ein harmloser Blick in ihre Augen, „ein Schluck Wasser vielleicht, wenn es Ihnen keine Mühe macht“, ihre Reaktion.

Genau, freute er sich, einen Vergleich gefunden zu haben. So würde ich sie beschreiben. Glasklare, transparentblaue, Augen. Wie ein erfrischender Schluck Wasser.

Selbst die zarten Bäckchen hatte Renie gekonnt ausgelöst, nachdem an den Gräten wirklich nichts mehr zu finden war. Ein ordentliches Schlachtfeld blieb zurück, mit dem letzten Stückchen Brot tunkte sie die Soße aus der Salatschale. Fred schob seinen Stuhl neben ihren, aber nicht zu nahe, wollte nur den gleichen schönen Seeblick genießen. Hielt es einfach nicht mehr aus, direkt in ihrem Blickfeld zu sitzen. Ohne Fahrrad sieht sie richtig toll aus.

„Kann man Sie buchen? So gut und nah am Produkt habe ich schon lang nicht mehr gegessen.“ Sie hielt ihr Weinglas in der Hand, lehnte gelassen wie zuhause im Gartenstuhl und hatte den Blick fest auf ihr fernes Ziel gerichtet.

„Kommen Sie doch irgendwann noch mal vorbei, vielleicht bin ich da schon weiter.“

Renie stellte ihr Glas ab und wurde unruhig. Sofort war ihm klar, was er gesagt hatte. „Renate, bleiben Sie bitte sitzen, um Gottes Willen! So hab ich das nicht gemeint.“ Er fasste spontan ihren Arm, wollte sie am aufstehen hindern.

Sie lachte ihr hellstes Lachen, sträubte sich nicht gegen die Berührung und griff sofort wieder ihr Glas. „Ach Fred, lassen Sie um Himmels Willen Gott aus dem Spiel!“

Verdammt! Jetzt find ich sie auch noch witzig.

Er wurde unruhig. War es das, was das Leben ausmachte? Am See sitzen, der Natur angenehm ausgesetzt zu sein, Wasser, Fische, Brot vorhanden. Ein Feuer in der Hütte. Was fehlte? Genau. Ein Weib für die Höhle.

Sein Verstand sagte NEIN!, seine Lust protestierte mit einem aggressiven JA! Wie lange kannte er Renie nun? Eine Woche? Einen Tag? Nein. Zwei Stunden. Zwei ganze Stunden und er würde mit ihr am liebsten sofort ins Bett steigen. Wo war das Problem? Es wäre nicht die erste spontane Begegnung, die unkomplizierte erotische Folgen gehabt hätte. Renie machte nicht gerade einen verklemmten Eindruck. Fred war in Wallung, er würde sie sogar auf ihrem Fahrrad vernaschen, wenn es keine Alternative gäbe - und er darin Übung hätte. Nein. Heute nicht. Noch war sein Blut, geschweigedenn sein Verstand nicht in die Hose gerutscht.

 

Renie schälte sich aus dem Gartenstuhl, als würde jede ihrer Bewegungen von einer Horde Papparazi begleitet und schlenderte zum Ufer. Wenige Schritte nur, für Fred ein Auftritt, den sie erst mitten auf dem schadhaften Bootssteg, den sie zum Laufsteg adelte, beendete. Ihre nackten Füße - die Turnschuhe lagen längst irgendwo in der Wiese - tasteten auf den teils losen Brettern nach festem Untergrund. Scheinbar gelangweilt stieß sie morsche, aufgeworfene Holzreste ins Wasser und drehte sich zu Fred.

Fünf Schwäne, ein schneeweißes Elternpaar mit drei halbwüchsigen, noch graubraunen Jungen, kamen neugierig angeschwommen, schauten ebenfalls zu Fred, als fragten sie ihn: „Tja mein Lieber. Und nun?“

Fred stand auf, rannte zum Haus. „Bin gleich wieder da!“

Renie tauschte einen fragenden Blick mit den Schwänen aus. Die Eltern scheuchten ihre Kleinen voran. Es war offen, ob sich hier demnächst etwas abspielte, was nicht für unschuldige Schwanenaugen bestimmt war.

Freds Vorsicht war zurückgekehrt. Trotzdem hatte er große Lust. Auf ein Spielchen. Das Schicksal oder irgendeine andere höhere Gewalt, die sich sowieso dauernd in sein Leben einmischte, sollte ihm gefälligst ein Zeichen geben. Er schaffte die Voraussetzungen dafür.

Renie hatte Fred ausgiebig beobachtet. Er war einigermaßen attraktiv und konnte ordentlich kochen, das machte es angenehmer. Ihr Plan war ausgearbeitet, es galt, ihn auszuführen. Manchmal spielte einem das Schicksal der Anderen in die Hände. Sie hatte gründlich recherchiert, der Vater tot, Haus und Grund hypothekenfrei, der Sohn in der Fremde, im Ort nicht gerade willkommen. Ihre Behauptung, den Vater durch ihre Radtouren zu kennen, konnte niemand widerlegen, auf der privaten Schiene kam sie immer an die Leute ran. Wo sie doch fast Stammgast war.

Sie fühlte sich sehr wohl. Das einzige Risiko, das sie einging, kam vom Boden unter ihren Füßen. Der Steg hatte auch schon bessere Tage erlebt, dachte sie lächelnd. Dieser Fred kümmerte sich wohl überhaupt nicht um das Anwesen. Ihr sollte es recht sein. Völlig belanglos, Stegzustände, Fassadenfarben. Möglicherweise ein schönes, wahrscheinlich ein leichtes Spiel.

Fred schlenderte auffällig unauffällig zum Tisch zurück, als wollte er beobachtet werden. Zwischen Zeige- und Mittelfinger pendelte eine schlanke Flasche, in der linken Hand hielt er zwei langstielige Schnapsgläser. Fred stellte sich am Tisch mit dem Rücken zum Steg.

Warum sollte sie nicht sehen, was er tat? Was würde er schon tun? Schnaps einschenken, zu ihr kommen, „ist es nicht ein schöner Nachmittag, können Sie denn überhaupt noch Radfahren“, oder sonst irgendein richtungweisendes Gesülze von sich geben, sie abfüllen und zu küssen versuchen. Sie war auf alles vorbereitet.

Bedeutungsschwanger hielt Fred in jeder Hand ein Glas hoch. Sie schaute an den Gläsern vorbei in seine Augen, schenkte ihm einen Blick, den er nur dank seiner guten Vorbereitung aushalten konnte. Er lächelte, fast kalt, auf jeden Fall wissend, wie es weitergehen sollte. Hielt ihrem schimmernden Blick stand, der einiges versprach, seine festen Vorsätze ins Wanken bringen wollte, wie er ahnte und hob die Gläser noch eine Spur höher.

„Wenn sie herausfinden, was da drin ist, dürfen Sie sich als herzlich eingeladen fühlen, in ein paar Tagen wiederzukommen.“

Wortlos nahm Renie ein Glas, lächelte. Fred konnte leicht daraus lesen, was er lesen sollte. So leicht würde sie sich nicht geschlagen geben. Sie strafte ihn mit ihrer Rückenansicht und konzentrierte sich auf das Glas, ließ sich von den Aromen umhüllen, die in winzigen Wolken aufstiegen. Ein sorgfältiger Schluck, prüfend gegen den Gaumen gepresst, Fred sollte warten. Es war nicht leicht, tatsächlich. Dieser Hund. Aber sie würde es schaffen, das war sie ihrem Vater schließlich schuldig. Welche Blamage, wenn er hören würde, seine Tochter konnte die Sorte eines ordentlichen Destillates nicht benennen. Sie ließ Fred zappeln. Strafe musste sein.

Sie hatte es. Ein außergewöhnlicher Likör. Ihr Vater hatte mit der Pflanze auch Versuche gemacht. Die regionalen Unterschiede schmeckte sie heraus. Aber sie war ganz sicher. Versunken ging sie noch ein paar Schritte von ihm weg, bis zum Ende des Stegs, der mit einem Sturz ins Wasser drohte. So nah am See, welch wunderbares Grundstück, das wollte sie haben, hinter ihr ein Mann, gerne vorübergehend dazu - nicht mehr und nicht weniger.

Fred nippte eher nervös als genießerisch an seinem Glas. Wäre ihm schon sehr angenehm, wenn sie auf den Geschmack käme. Erst auf den des Brandes, dann auf seinen.

Zögernd drehte sie sich um, peilte ihn durch die honiggelbe Flüssigkeit an wie durch ein Zielfernrohr, senkte langsam das Glas.

„Königskerze“ flüsterte sie.

Eine halbe Stunde später trat Renie in die Pedale und radelte zu ihrem Mustang, den sie am Ortsrand geparkt hatte. Wenn sie pfeifen könnte, hätte sie es getan, sie freute sich riesig über die gelungene erste Runde. Der Sieg schien ihr gewiss.

Mittwochnachmittag

Carola Serlbacher war weit, sehr weit, davon entfernt, eine alte Jungfer zu werden. Sie lebte zwei Leben und so fit wie sie sich fühlte, hätte es auch für zwei Liebhaber gereicht. Vor allem, weil der einzige, den sie hatte, 69 war. Gunnar von Falkenstein hätte diese Einschätzung sicher nicht geteilt. Aber es war Mittwoch Nachmittag und da interessierte sich Carola Serlbacher nicht weniger als gar nicht für die Meinung ihres Geliebten und Chefs. Sie saß in ihrem elf Jahre alten Golf Cabrio und ließ sich die kastanienbraunen Locken vom Fahrtwind zerzausen. Freute sich auf den Squashabend, sie wird sich die überschüssige Energie aus dem Leib schreien, ihren Spielpartner in die Ecken und zur Weißglut treiben, naß geschwitzt ihrem drahtigen Körper eine ausgiebige Dusche gönnen und...

Tja, was und?

Nicht viel mehr.

Doch bevor sie sich dem sportlichen Vergnügen hingeben konnte, musste sie sich um ihre Mutter kümmern. Zumindest Mittwochs. Gunnar wollte allein sein, musste irgendwelche uralten Kontakte pflegen. Sie schmunzelte. Immer wenn er „uralte Kontakte“ sagte, gab sie ihm stillschweigend recht. Aber sie wollte es nicht anders.

Carola saß auf der Terrasse des Pflegeheims und verfolgte gerührt, wie ihre Mutter Bissen für Bissen den gedeckten Apfelkuchen in sich hineinschlang. Ihre Mutter sah immer noch recht gut aus. War ja erst 62. Und hatte die gleichen grünen Augen. Reden konnte sie, wie ein Wasserfall. Mit Vorliebe, wenn sie etwas im Mund hatte. Sie hatte so viel vergessen und vergaß täglich neu. Warum konnte sie nicht vergessen, mit vollem Mund zu sprechen?

Das matte Rot ihrer Haare setzte sich gut ab vom Grün der Parkanlage, dieser gepflegten Abgeschobenheit. Ein Teich mit Seerosen, ein belebendes Wasserspiel mittendrin, wie zufällig verstreut hingeschmissene Bänke – alles sehr solide und barrierefrei.

Seit sieben Jahren erzählte Carola Serlbacher ihrer Mutter die gleiche Geschichte, sicher, andere Geschichten auch, aber diese eine Geschichte erzählte sie in regelmäßigen Abständen immer wieder. Es war ein Test, ein Laborversuch am lebenden Objekt Mutter. Um festzustellen, wie weit die Demenz fortgeschritten war.

Frieda schaffte es nicht, länger als zehn Minuten etwas von dem zu behalten, was Carola erzählte. Für Carola war das angenehm, ihre Geschichten könnte sie nie jemandem erzählen – und mit ihrer Mutter mussten sie nicht diskutiert werden.

Carola erzählte von der roten Perücke, der Kleidung, den schicken Kostümen, wie sie geschmeidig auftrat in der Kanzlei. Ihr Leben auf Abruf mit Gunnar. Eine Rolle, in die sie von ihrer Mutter quasi hineingezwungen wurde, weil es ihr so leichter fallen würde, in der neuen Umgebung Fuß zu fassen, schneller Falkensteins Vertrauen zu gewinnen. So behauptete die Mutter damals zumindest.

In den letzten Jahren erweiterte Carola den Test mit einer auch für sie unerwarteten Absichtserklärung: sie hatte sich in den Kopf gesetzt, Gunnar von Falkenstein zu heiraten. Noch vor vier Jahren hielt Friedas Entsetzen bis zu Carolas Abschied am frühen Abend an. Mittlerweile dauerte es keine zehn Minuten mehr, bis Friedas Fragen zum Bräutigam, den damit verbundenen Glückwünschen und der obligatorischen Frage, ob denn eine ungewollte Schwangerschaft der Grund sei, von ihrem anhaltenden Kopfnicken ins Vergessen geschaukelt wurde.

Dann saßen sie sich gegenüber, Frieda nippte an ihrem Gläschen Sekt, Carola trank vor dem Sport keinen Alkohol, sie schwiegen sich an. Wenn Carola ihre Mutter ansah, war sie manchmal unsicher, ob wirklich alles verloren gegangen war, was zwischen ihnen gesprochen wurde.

Kurz bevor sich die letzten Perlen aus dem Sekt verabschiedet hatten, griff Frieda Serlbacher ihrer Tochter in die Haare, knetete die kurzen Locken. Obwohl sie sich in die gleichen grünen Augen schauten und gewissermaßen ihr Spiegelbild spürten, war die Mutter weit weg. Carola kannte dieses Zeichen. Ihre Mutter war erschöpft, mehr Kontakt, mehr Gespräche, die irgendwohin verschwanden, konnte sie nicht verkraften. Das Kraulen im Haar war ein letzter Versuch, sich festzuhalten. Jedes mal, jeden Mittwoch klammerte sich Frieda an Carola, die sie früher liebevoll Caro gerufen hatte. Auch das hatte sie längst vergessen. Dann verabschiedete sich Carola, zog sich in ihre kleine Wohnung zurück und schrieb, was sie erlebt hatte, in ihre Liste.

Es war der eine Teil vom Leben, das auf diese Art etwas Abgeheftetes bekam und sich enorm von dem Leben mit Falkenstein unterschied – und sie wollte nicht wahrhaben, wie notwendig es war, sich von dem einen oder anderen zu verabschieden.

Donnerstagnachmittag

„Kann man Sie mieten?“

Seit geraumer Zeit hatte Renie Fred mit großem Vergnügen beobachtet. Der putzte das letzte Fenster zur Seeseite.

„Ist schon Drei?“ Fred trocknete sich am Geschirrtuch die feuchten Hände. „Die Zeit rast und ich bin immer noch nicht fertig.“

Fast wäre er auf dem Weg zu ihr über die Fäden gestolpert. Vorsichtig stieg er über die filigranen Hürden. Dicke rote Wollfäden schwebten wie farbige Kreidemarkierungen über dem Dielenboden. Ein Faden spannte sich vom Stammtisch zur Eckbank am Fenster neben der Tür, diagonal durch den ganzen Raum. Einige sprangen von Tischbein zu Tischbein, unter den Stühlen durch. Eine Linie versperrte den Weg zwischen Theke und Gang, eine weitere den zum Küchenflur neben der Treppe nach oben. Eine Stolperfalle kreuzte die andere. Die ganze Stube war durchwoben, selbst die umlaufende Eckbank durchschnitten rote Linien. Zwei Katzen hatten sich mit einem Wollknäuel die Langeweile vertrieben und Fred dabei mit viel Freude eingewickelt. So sah es aus, so stand er da. Mitten in der Stube, im eigenen Netz gefangen.

„Hat ja fast schon Tradition, daß wir uns am Fenster treffen, sie drüben, ich hüben.“

„Es muss ja nicht immer eine Mauer zwischen uns sein, wollen Sie mich nicht rein bitten?“

Renie hatte ihr Fahrrad an die Hauswand gelehnt. So konnte Fred gleich den Eindruck auffrischen, den er vor zwei Tagen bekommen hatte. Er hatte sie richtig eingeschätzt, sie war forsch und wartete seine Antwort nicht ab, verschwand vom Fenster und stand zwei Sekunden später in der offenen Tür. Er sollte seine Zeit gelegentlich eben nicht mit Einschätzungen vergeuden, sondern mit Taten füllen.

„Heut riechts aber eher nach Putzmittel, gar nicht nach Forelle. Oh, Entschuldigung...“, Renie spürte, daß sie irgendwo hängengeblieben war, schaute auf die Reste des durchtrennten Fadens und betrachtete die Fäden von der Treppe direkt neben ihr, die sich zur Stube spannten. Ein Mann mitten in einer rustikalen Wirtsstube. Soweit, so gut. Aber umsäumt von einem Dutzend roter Fäden, die scheinbar willkürlich den Raum aufteilten. Ratlos schaute sie Fred an.

„Was machen Sie denn da? So was Ähnliches hab ich schon mal gesehen.“

Fred fühlte sich ertappt. Genau das wollte er vermeiden, sie eben nicht hier reinkommen lassen, gleich raus, mit dem Boot auf den See und dann sehen, wie es weiterging. „So? Wo?“, war alles, was er lakonisch erwidern konnte. So nebensächlich wie möglich warf er sein Wischtuch auf den Tisch neben sich, stakste auf dem Weg zum Kühlschrank über einige Linien und holte den bereits entkorkten Weißwein, der ihr so gut geschmeckt hatte. Keine Experimente, zumindest nicht in dieser Richtung. Sachte, aber entschieden schob er sie über die Wiese zum Bootssteg.

 

„Kann ich genau sagen. War in „Entrapment“, ein sehr spannender aber auch witziger Film mit Sean Connery und Angelina Jolie. Die drehten ein Riesending, Diamantraub oder so in einem Museum.“

Fred verkeilte seinen Korb mit Wein, den Gläsern und Wasser im Boot, da hatte er Übung und half Renie galant beim Einstieg. „Und da kamen solche Fäden vor?“ Mit einem kleinen Scherz versuchte er, davon abzulenken, wie angespannt er gerade war. Der Filmtitel sagte ihm zwar nichts, aber das mit den Fäden konnte er sich in einem Film überhaupt nicht vorstellen. Außerdem wollte er so weit und so schnell wie möglich weg von seinen eigenen Gespinsten.

„Jetzt werden sie nicht albern. Wollen wir hier am Steg bleiben oder ist der Motor eine Attrappe?“

Fred zog kurz an der Leine, schon schnurrte der Außenborder brav.

Rückwärts tuckerte das Boot aus der schilfigen Einfahrt, Fred manövrierte geschickt um den Steg und schaltete mit Vollgas in den Vorwärtsgang. Die Spitze hob sich, nur leicht, aber Renie wäre fast auf ihn gepurzelt.

„Sehr dynamisch - ihr Boot. Aber die Geschichte fängt doch erst an.“ Und damit ihm nicht unklar blieb, welche sie meinte, erzählte sie weiter. „Es waren natürlich Laserstrahlen, der ganze Raum war voll davon. Die Strolche haben sie mit Nebel sichtbar gemacht und sich hübsch akrobatisch durchgeschlängelt.“

Fred erinnerte sich, der englische Originaltitel hatte ihm nur nichts gesagt. Außerdem hieß die Schauspielerin seiner Meinung nach anders.

Fred wollte etwas von Renie erfahren. Offensichtlich hatte sie seinen Vater in den letzten Jahren weit mehr gesehen und gesprochen wie er. So gesehen wüsste er schon gern, worüber sie geredet hatten, wie weit sich ein Gastwirt einer Radtouristin annäherte.

Immerhin schien Vater nicht zu negativ von mir erzählt zu haben - oder sie interessiert sich nicht sonderlich für Familienstreitigkeiten.

Trotzdem spürte er einen zweiten Blick auf sich lasten. Angenehm war das nicht. Es kribbelte gehörig in ihm, er ärgerte sich über sich selbst, musste ja nun wirklich nicht jedem Menschen automatisch misstrauen, nur weil eine oberflächliche oder unbewiesen tiefere Bekanntschaft zu seinem Vater angedeutet wurde.

Sie kann mir weiß Gott was auftischen. An einem Fahrrad ist ja nicht mal ein Nummernschild zu finden, kein Hinweis wo sie überhaupt herkommt.

Er sollte lieber seine Chance, Renie kennenzulernen, besser nutzen.

„Gehen Sie viel ins Kino?“

„Ja. Wieso?“

Renie genoss den Fahrtwind, wieder hatte sie einen Pferdeschwanz, den sie geschickt mit einem zweiten Haargummi zu einem kurzen, strahlenförmigen Strubbel gebändigt hatte.

„Ich glaub, ich kenn den Film, aber die Schauspielerin war Catherine Zeta-Jones, damals noch nicht Mrs. Douglas. Der arme Sean. Richtig falsch spielte das Luder am Anfang mit ihm. Wo haben Sie den Film denn im Original gesehen?“

„In der Schweiz“, antwortete Renie spontan.

Fred drosselte den Motor, damit es im Boot etwas ruhiger wurde, er musste, wollte nachdenken. „Sie war eine Versicherungsagentin und hatte sich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen, wie man so schön sagt, an ihn rangemacht.“

Renie wurde es nun doch etwas warm in ihrer schicken, dunkelgrauen Bluse.

„Aber im Gegensatz zu Ihnen...“

„Ich hab eine Idee...

Renie musste ihn bremsen. Hatte er ein Gespür für Täuschungen? Ahnte er, daß sie nicht nur an seiner zugegeben amüsanten Gesellschaft interessiert war?

Sie stand schnell auf, setzte sich aber genauso schnell wieder und hielt sich am Bootsrand fest. Das schmale Boot schaukelte bedenklich.

„...ich wollte nur den Vorschlag machen, ob Sie mir nicht das du anbieten wollen, bevor der Wein warm wird?“ Ihr Fuß stieß frech an den Korb, die Gläser klimperten und lockten.

Einmal mehr trieben sich Möwen in Bootsnähe herum, erhofften sich von einer stehenden Touristin (das waren sie von anderen Schiffen so gewohnt) Brotreste, die sie artistisch (das wurde von ihnen erwartet) aus der Luft pickten, nachdem sie von den Spendern hochgeworfen wurden.

Aber auch diesmal - Fehlanzeige. Das Leben auf dem See wurde für Möwen auch immer härter. Doch sie gaben nicht auf und kreisten vorsorglich in gebührender Höhe über dem Boot, das nun führerlos trieb, weil Fred aufstand, die Flasche entkorkte und Gläser füllte. Der Wind hielt die Möwen auf Kurs, nur sparsam mussten sie mit ihren Flügeln korrigieren, um das gefährliche Spiel zu beobachten, das ihnen vertraut war. Wer weiß, vielleicht bekamen sie ja heute, wenn schon nichts zu fressen, dann zumindest etwas geboten. Fred hielt geschickt die langstieligen Gläser in der rechten Hand und schenkte ein, dabei studierte er Renies Augen.

Ein gefährliches Weib. Schön. Endlich wieder eine andere Art von Spannung in meinem Leben. Dann mal los!

Er stellte die Flasche in den Korb und bewegte sich, als würde er seit Jahren nichts anderes tun, als wäre er nicht auf schwankenden Planken, sondern auf festem Boden.

Provozierend schaute er auf sie runter. „Das geht aber nur im Stehen, ist doch klar, oder?“ Schließlich wollte er seinen Spaß haben. Renie ließ das Boot los und stand langsam auf. Unmerklich verlagerte Fred im Rhythmus kräftiger Wellen sein Gewicht, brachte das Boot in leichte Schaukelbewegungen, fixierte sie genau. Und sah, was er erwartet hatte. Sie fühlte sich überhaupt nicht wohl in ihrer Haut. Unsicher stand sie da, auch die Möwen freute, was sie sahen.

Geschieht ihr recht, bis jetzt war sie doch ganz schön forsch.

Er gab ihr ein Glas.

„Ich bin Fred, der Fastseemann.“

„Renate, die Taumelnde. Wenn´s recht ist.“ Ein kurzer Klang der Gläser, übertönt vom Geschrei der Möwen. „Und jetzt?“, fragte sie nach einem großen Schluck.

„Das Übliche. Wenn´s recht ist.“ Es war recht, die Frage eher rhetorischer Natur und die Folgen absehbar. Erstaunlich mühelos glückte ein kurzer Kuss, ohne das Boot noch stärker ins Taumeln zu bringen, sie schienen aufeinander zuzutreiben.

Die Möwen krächzten umso mehr. Fred richtete sich wieder auf, Renie stand etwas weich in den Knien, deshalb wirkte sie wesentlich kleiner als Fred, obwohl sie Einssechsundsiebzig groß war.

Er holte Luft und mittels eines kurzen Blickes in wasserblaue Augen ihr Einverständnis. Fast gleichzeitig schlangen sie ihre Arme umeinander, vergaßen die Gläser und küssten sich unbeschwert, forschten mit zielstrebigen Händen - um nicht noch mehr Zeit zu vergeuden. Nur die Möwen sahen zu, sonst war auf nichts und niemand Rücksicht zu nehmen. Gierig tasteten sie sich ab, Fred küsste sich an ihrem Hals entlang, vergaß alles um sich herum. Leider auch, daß sie auf einem schmalen Nachen standen.

Sie spürten nicht die heftiger werdenden Schaukelbewegungen des Bootes und als sie davon mitbewegt wurden, war es zu spät. Synchron stolperten sie über die niedrige Bootswand und verschwanden mit einem kräftigen Klatschen im See. Prustend tauchten sie nach einer Sekunde wieder auf, klammerten sich ans Boot. Betrachteten sich und lachten über ihren jämmerlichen Anblick. Über ihnen verzog sich schreiend der Möwenschwarm.

Fred hatte das unbestimmte Gefühl, daß auch sie lachten.

Er konnte sich nicht erinnern, wie sie es ins Boot geschafft hatten. Es war ihm unerklärlich, wie sie die endlos lange Zeit bis in sein Bett überbrückt hatten. Er hatte jeden Begriff für Zeit, nein für alles, verloren. Renies offenes Haar verdeckte ihr Gesicht, leises Stöhnen drang durch den goldenen Vorhang ihrer Haare. Während sie mit sanften Bewegungen auf ihm kreiste, massierte er lustvoll ihre wippenden Brüste.

Бесплатный фрагмент закончился. Хотите читать дальше?