Die Gabe des Erben der Zeit

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Konrad Keller muss sich mit Einstein beschäftigt haben. Fred Keller blieb nicht nur das völlig verborgen. Schließlich hatten sie 18 Jahre Zeit, sich ihr Leben vorzuenthalten. Zumindest das war ihnen gleichermaßen gut gelungen.

An zwei Buchrücken erinnerte sich Fred, auf denen der Name Einstein auftauchte. Aber wo, fiel ihm nicht ein. Wie wenig er doch wusste. Wie wenig er wissen wollte von seinem Vater.

Absurd: ein Bodenseefischer beschäftigt sich mit Einstein... hätte sich besser um seine Zucht gekümmert. Was ihn da wieder geritten hatte?

Genug jetzt.

Fred drosselte den Motor, langsam neigte sich die Bootsspitze dem Wasser entgegen. Mehr verborgen als gut einsehbar schienen Fassaden zwischen der wild wuchernden Uferbepflanzung durch. Einige bescheidene Holzhäuser, gut und gerne mehr als hundertfünfzig Jahre alt, daneben ein futuristischer Betonkeil, getrieben in die wehrlose Natur. Weiter östlich ein Glasufo, weit über den See ragend. Alles gleichermaßen versteckt, kokett verborgener Reichtum hinter kupferbedampftem Glas.

Schlimm genug, daß die Bebauungsrichtlinien offensichtlich ähnlich unterspült werden wie die Uferbefestigungen vom Wellenschlag. Muss man unbedingt jede Geschmacklosigkeit, die sich bezahlen lässt, genehmigen?

Fred war nicht neidisch auf die Protzerei geschmacksresistenter Geldaristokraten. Das war ihm fremd. Zumindest mit diesem allzu menschlichen Attribut musste er sich nicht auch noch rumschlagen. Er hatte eine äußerst liberale Haltung zu Geld und Statussymbolen. Wenn sich jemand etwas erwirtschaftet hatte, sollte er es auch zeigen dürfen, ohne Rechenschaft ablegen zu müssen. Nur schön sollte der Erwerb schon sein.

So wie seiner.

Fred fabulierte vor sich hin. „Diskretes Anwesen. In exponierter Ortsrandlage, seit Generationen in Familienbesitz, direkt am See und mit natürlichem Schilfbestand“. So oder ähnlich könnte der gefällige Verkaufstext eines Maklers klingen, der sich auf Seegrundstücke spezialisiert hatte.

Würde mich schon mal interessieren, in welche Höhen die Gebote für meine Burg steigen könnte.

Verkaufen.

Falkenstein schien nicht abgeneigt, diesbezüglich tätig zu werden.

„Ihr Vater ist tot, das Leben geht weiter. Erlauben Sie mir, Ihnen meine Dienste anzubieten, egal, in welche Richtungen Ihre Gedanken über die Erbschaft gedeihen werden. Zeit heilt alle Wunden. Sagt man das nicht so schön?“

Verkaufen wäre womöglich das heilsamste Pflaster.

Sein Bauch verbot ihm, Falkenstein mit Verkauf oder Verpachtung zu betrauen. Der Mann war ihm nicht geheuer. Sicher äußerst professionell und geschickt, aber vielleicht zu geschickt. Er traute ihm nicht. Nach der Testamentseröffnung erkundigte sich Fred nach Verkaufschancen. Befürchtete mögliche Sperrfristen, Verkaufsauflagen, Stiftungsprioritäten.

Nichts von alledem. Einmal mehr verstand er seinen Vater nicht.

Könnte sich doch denken, daß mir Haus und Hof nichts bedeuten.

Und so schrie Fred den vom nahen Ufer anfliegenden Möwen die eine Frage entgegen, die ihn hier draußen umtrieb:

„Warum hast Du mich nicht einfach enterbt?“

Sonntagnachmittag

Lang hielt die beruhigende Wirkung der Bootsausflüge nicht an. Vom Außenborder trieb es Fred direkt ans Steuer des Cabrios, der milde Spätnachmittag wollte genutzt werden. Fred schaute zum Himmel, keine stabile Wetterlage. War das zu all seinen negativen Erlebnissen eine der wenigen positiven Erfahrungen, die Veränderungen des Bodenseewetters erkennen zu können? Ein Hoffnungsschimmer, trotzdem eine Fehleinschätzung.

Fahren, bewegen, nur kein Stillstand. Wie ein Magnet besaß dieses Haus zwei Pole. Obwohl Fred sich redlich bemühte, selbst Hand anlegte und der Gaststube mehr und mehr die erinnerungsträchtige Patina unter dem ganzen Dreck freilegte, spürte er meist nur den abstoßenden Pol.

Alles war besser als im Haus zu sitzen. Also fuhr er ziellos durch die Gegend. Und wieder war es nach wenigen Minuten soweit: die Landschaft berührte ihn. Jede noch so kurze, durch die Jahre verwilderte Allee mitten in den Feldwegen hatte einen Zweck, jede Obstbaumwiese fing den Blick auf dem Weg zum See. Vorbei ging es an weit im Feld liegenden Höfen, die nur durch einen überdimensionierten Briefkasten an der Wegmündung ein bescheidenes Zeichen setzten. Wenige hundert Meter später eine scheinbar willkürlich aus der Natur geschabte Parkbucht, eine Bushaltestelle für stets müde Pendlerkinder. Zeugen dünner Besiedlung.

Es trieb ihn weiter. Die Landschaft war zu schön. Wohltuend langgezogen schmiegten sich die Kurven an die sanften Hügel, die in der Nähe für Abwechslung sorgten, aber doch so bescheiden waren, die Versprechungen der Ferne nicht zu verdecken. Rechts lag der See.

Irgendwie kam ihm das bekannt vor.

Hier war ich schon mal. Unglaublich, wie der See nach jeder Kurve seinen Glanz ändert. Mal matt und bescheiden. Mal gleißender Diamant, dem die Fassung zu eng wird.

Und rechts oben der Gasthof Fernblick.

„Wusst ich’s doch! Aber danach ist mir heut nun wirklich nicht.“

Freds Hang zu Selbstgesprächen war ihm selbst nicht ganz geheuer. Es gab Momente, da kommentierte er jeden Schritt, jeden Handgriff, als wollte er einem Blinden die Welt erklären. Sich auf die Art allein nicht einsam zu fühlen, würde der Wahrheit näher kommen.

Auf keinen Fall wollte er da einkehren, nicht auf Mara treffen, nicht schon wieder an früher erinnert werden. Unschlüssig fuhr er weiter, der See versank langsam in sich selbst, verwischte seine Konturen im vollkommenen Einverständnis mit seiner Einfriedung. Im nächsten Kreisverkehr blieb Fred zwei Runden, drehte das Rad zurück.

Und hatte es sich wieder anders überlegt...

Er fühlte sich auf neutralem Gebiet, Maras Fernblick. Der richtige Ort, um bei Sauerbraten mit Ruländer die letzten Argumente für oder gegen seine Hausentscheidung zu sammeln.

Mara bemerkte seine Notizen, doch ihr Blick war zu kurz, um etwas zu erkennen. ‚Sicher eine Nachricht’, dachte sie und ‚bei dem Betrieb heut kann ich mich nicht mal für fünf Minuten zu ihm setzen.

Fred saß draußen und suchte derweil seine Argumente im untrennbaren Dunkel zwischen Birken und Horizont.

Was ist der Unterschied zwischen einem Lokal und dieser Wirtschaft? Bei einem Lokal wären die Bäume beleuchtet.

Er schmunzelte über seine alberne Ablenkungstaktik und kümmerte sich wieder um seine Spalten. Tatsächlich. Auf der FÜR-Hälfte standen mehr Argumente. Ein drittes Glas schaffte er nicht mehr, denn hier wurden noch richtige Viertele ausgeschenkt.

Auch anders wie in einem Lokal...

Er zahlte bei der flotten Kellnerin, winkte Mara, die gerade an der Theke zapfte, verlegen zu und steckte seinen Zettel in die Brusttasche.

Mara vergaß das Bier in der Hand.

Montagfrüh

So früh war Fred schon lange nicht mehr aufgewacht. Ausgeruht schlurfte er in den übrig gebliebenen Pantoffeln die Treppe runter, kochte Kaffee, zog mit seiner Tasse seelenruhig wieder nach oben und lümmelte sich in den Sessel neben dem Bücherregal. Seine Hände umfassten den bauchigen Becher, in aller Ruhe genoss er die Wärme.

An diesem Morgen war er in einer völlig unaufgeregten Stimmung. Es geschah nicht oft, beim Blick auf ein Möbelstück des Vaters kein beklemmendes Gefühl in der Magengegend zu spüren, keine störenden Erinnerungen aus der Vergangenheit verdrängen zu müssen. Vorsichtig nippte er am Kaffee, tastete einmal mehr die eng gestellten Buchrücken im Regal ab.

‚Wandern am See’, ‚Fischzucht und Tourismus im Wandel der Zeit’, ‚Astronomie im Alltag’, ‚Zeichen der Astrologie’. Kein System in dieser Bücherei. Neben einem Bildband über Hexenküchen Albert Einsteins ‚Über die Spezielle und die Allgemeine Relativitätstheorie’, ein Faksimile. Wie es aussah, eine fast schon wieder wertvolle Ausgabe. Daneben ein Almanach über Zeitmaschinen in Film und Literatur - Fred konnte sich nur wundern. Weder alphabetisch noch inhaltlich erkannte er einen Sinn. Im Band über Chemielabore und ihre Versuchsaufbauten ein Foto am andern, daneben bei Hegels „Phänomenologie des Geistes“ gar keine Bilder. Auch kein System.

Was hat er nur damit angestellt?

Den Einstein, die Hexenküchen, den Hegel griff er sich. Wenn er nicht mehr wusste, was er zu tun hatte, spürte er, was er tun sollte. Der See rief.

Den Rest Mohnkuchen vom Freitag in Folie, die Thermoskanne voll Milchkaffee. Mit dieser Minimalausstattung ging er zum Bootsschuppen. Gerümpel über Gerümpel, Fischereigerätschaften, Reste vom Außenborder, Gartenwerkzeuge. Ein absolutes Durcheinander. Und: die über alles gezogenen Spinnweben.

Also ich seh mich hier nicht aufräumen?

Gut verkeilt stand sein Korb mit Nahrung und Literatur, die ihn für drei Tage auf dem See halten könnte, im Boot. Fred öffnete routiniert den Benzinhahn und wollte gerade den Außenborder starten.

„Nimm mich mit.“ Es war keine Frage.

Fred drehte sich überrascht um. „Mara!“ Etwas hilflos stand sie da, vor ihm, über ihm, auf dem morschen Steg. Zu lange zögerte er, um seine Frage als spontan durchgehen zu lassen. „Wohin?"

„Egal.“ Damit war sie auch schon eingestiegen, setzte sich ihm gegenüber, als wäre es ihr vertrauter Platz. Fred umklammerte den Gasgriff, laut röhrte der Motor über den See voraus, schaffte Abstand zum Haus. So hatte er sich den Ausflug nicht vorgestellt.

 

„Ich hab mir doch tatsächlich eingebildet, du wolltest mir eine Nachricht schreiben. Dabei galt das Brieflein gar nicht mir.“ Mara versuchte gar nicht erst, ihre Neugier zu verbergen, wollte es aber auf gar keinen Fall nach Eifersucht aussehen lassen. Sie stützte sich entspannt auf das Sitzbrett, lehnte sich gegen den Fahrtwind, der auf ihrem Rücken dünne Gischtfetzen hinterließ und ihre Haare ungestüm nach vorne schlug.

Keine Möglichkeit für Fred, in Maras Gesichtsausdruck irgendeine Stimmung zu erkennen.

Der Wind war auf ihrer Seite. Die langen Locken züngelten Richtung Fred, als wollten sie ihm eine Antwort rauskitzeln.

„Nein, für dich war´s nicht.“ Nach Spielchen war ihm nicht zumute, es ging Mara nun wirklich nicht an, was ihn umtrieb, wovon er seine Entscheidung abhängig machen würde, hierzubleiben oder zu verkaufen.

„Ich hab Lara zur Schule gebracht und dachte, schau doch mal, was der alte Fred so treibt. Vielleicht fehlt ihm was.“ Längst hatte sie seinen Korb nebst Inhalt entdeckt und ergänzte mit einem kleinen spöttischen Unterton, den er ja nicht überhören durfte: „Wie ich sehe, bist du für eine lange, gefahrvolle See-Expedition gerüstet.“

Endlich. Fred grinste. Diese Mara.

„Mara.“

Das klang nach aufgeben, zumindest nach Waffenstillstand. Obwohl er sich nicht erinnern konnte, mit ihr im Clinch zu liegen. „Du, ich weiß grad überhaupt nicht, wo mir der Kopf steht. Aber vielleicht willst ihn mir ja verdrehen?“ Fred nahm das Gas weg, das Boot schob gemächlich Richtung Seemitte. Ruhig schnitt der Bug die Wellen. Er brauchte Ruhe, allein oder mit Mara, auf keinen Fall den nervigen Lärm des Außenborders. Fast hätte es Mara die Stimme versagt. Fast. Sie ignorierte die aufsteigende Röte, bändigte aber sicherheitshalber nicht die Strähnen vor ihrem Gesicht und antwortete so gelassen wie möglich.

„Ich wollt dir nur sagen, ich hab nachdacht. Über unsre Begegnung, weißt du. Ich hab dir ja ganz schön viel erzählt. Kannst dir wirklich was drauf einbilden.“

„Und jetzt? Jetzt bereust du´s, daß du mir gegenüber so ungezügelt warst.“

Fred hatte gute Laune. Und außerdem war ihm egal, wie Mara seine Stimmung finden würde. Sie wollte unbedingt ins Boot. Er wollte allein sein. Aber er blieb ruhig.

Lag es an Mara? Am See? Wenn er gewusst hätte, daß und warum er seit vielen Nächten schlafwandelte und er deshalb tagsüber unausgeschlafen und mürrisch war, wäre ihm spätestens jetzt klar geworden: letzte Nacht war er nicht durchs Haus gezogen, sondern hatte seelenruhig geschlafen.

Im Gegensatz zu Fred hatte Mara offensichtlich ein Ziel. Und davon wich sie nicht ab.

„Mir hat´s so gut getan, wenigstens mal ein bisschen was loszuwerden, weißt, einem Menschen gegenüberzusitzen, dem ich einfach mal vertrauen kann. Mir war einfach danach. Aber in dir muss es doch auch ganz schön brodeln. Wenn nur die Hälfte stimmt, von dem, was man so hört.“

Das ist nicht die Mara, die ich mal kannte.

Kannte er sie wirklich? Hatte er irgendein Mädchen erkannt, damals, oder hatte er Mara einfach mitgenommen, wie so viele? Aber womit sie gerade köderte, lockte ihn doch.

„So. Was hört man denn?“

Fred musterte Mara aufmerksam und entdeckte keinen Vorwurf in ihrer Stimme.

Womit sie das Boot versenken könnte.

Fred lächelte.

Warum fühl ich mich in ihrer Nähe so geborgen? Langsam glitt sein Lächeln nach innen.

War es ihre Gegenwart, die ihn seine Vergangenheit ertragen, die Zukunft gelassener betrachten ließ? Sie schaute ihn einfach an.

Und wartete.

„Ich muss mich heute entscheiden.“

Fred fixierte den Steuerarm und ließ das Boot im Standgas dahintuckern. Mara schob eine widerspenstige Locke aus dem Gesicht, als wolle sie Fred nun endlich den Blick auf sich freigeben. „Bleibe ich hier oder gebe ich dieses Unwesen auf.“

Sie lächelte über diese kleine Freudsche Fehlleistung. „Unwesen?“

Fred wischte den Fehler mit einer fahrigen Handbewegung aus dem Raum zwischen ihnen. „Das Haus. Diese Muttererde, wie mein Vater dauernd sagte. Wurde nicht müde, immer und immer drauf rumzureiten. Da, wo ich seiner Meinung nach hingehöre. Und jetzt weiß ich nicht, ob ich mir das Alles antun soll!“ Seine Hände klatschten auf die Schenkel, sein Ärger war auf dem Weg.

„Du kannst dir nicht vorstellen... dieses, dieses Haus nervt mich! Jede Nacht, jeden Morgen... ich wach auf... bin völlig gerädert... heut mal ausnahmsweise nicht. Irgendwas schikaniert mich oder kämpft gegen mich, wenn ich schlafe... hab Alpträume, an die ich mich nicht erinnern kann.“ Erschöpft ließ Fred die Schultern hängen.

Nachdenklich ließ Mara Freds Worte im Wind verklingen, sie war zu klug, um eine flüchtige Meinung wie ‚Was ich an deiner Stelle tun würde...’ nachzuschieben.

Für ein paar Sekunden, ein paar Wellenschläge schien es, als dächten sie gemeinsam über einen Ausweg nach.

„Entschuldige, wenn ich so direkt frage, aber... aber kannst du dir vorstellen... bist du eher dagegen, zu bleiben, weil dein Vater dich so energisch halten will?“ Für Mara lag die Frage auf der Hand.

Fred vertraute. Er bekannte. Erzählte. In notwendiger Kürze von seiner Zeit in Colmar, von seinem Restaurant in Bacharach, in epischer Breite von den letzten drei Wochen. Vom Notar, der ihn schleimig und zuvorkommend wie er war zu bestimmten Entscheidungen verführen möchte. Vom Haus, das ihm auf unerklärliche Weise schwer machte, sich wohlzufühlen. Vom See, auf dem er sich auf eigentümliche Weise beruhigt und klar fühlte. Der ihn, wie nach einem verschlüsselten Ritual, mal mit einem erfreulichen Telefongespräch, mal mit frischer Kraft versorgte.

„Wie jetzt mit dir...“

Nahe am Boot segelte eine Horde Möwen, in der Hoffnung, gefüttert zu werden oder Abfälle zu ergattern. So waren sie es gewohnt, so hatte es zu sein. Enttäuscht stiegen sie irgendwann höher, entfernten sich mit wenigen Flügelschlägen und betrachteten aus großer Höhe verwundert den Kreis, den das Boot in den See malte.

Mara begleitete die Möwen. Verschaffte sich in Gedanken den Überblick, den Fred als Betroffener nicht haben konnte. Er drehte sich störrisch im Kreis. Das ahnte sie, eher daraus, wie er erzählte, als, was er erzählte. Für sie war Notar Falkenstein ein zwielichtiger Zeitgenosse. „Der hat in jedem größeren Immobiliengeschäft seine Finger drin. Ein ganz gewiefter Erbschaftsabwickler ist das, kann ich dir sagen. Ständig werden Familienbesitze aufgekauft, Wohnrechte umgewandelt. Bei uns war er auch schon. Ein gutes Angebot hat er gemacht, verdammt gut. Aber was hätten wir dann gehabt? Ein Sack voll Geld ist kein zuhaus."

„Und wer kauft das alles? Privatleute? Firmen?“

„Weiß ich doch nicht! An seine Bürotür schlägt er’s jedenfalls nicht an! Vielleicht an irgendwelche Strohmänner auf seinen Verdischen Inseln.“ Mara versuchte, mit einem kleinen Witz die Stimmung aufzulockern, aber Fred war zu konzentriert, um sein eigenes Lächeln zu spüren.

Der Außenborder hielt die Bewegung, die Möwen stellten unschlüssig ihre Flügel gegen den Wind und schwebten über den Kreisenden.

„Unser Gasthaus liegt ja nicht gerade in deiner Nähe, aber vielleicht genieren sich grad deswegen die Leute nicht, sich das Maul über dich zu zerreißen.“ Bei dem Gedanken daran fröstelte es Mara.

„Die Menschen sind ungerecht. Haben keine Ahnung, mischen sich aber in alles rein, anstatt sich um ihren eigenen Dreck zu kümmern!“

Freds Blick war irgendwo da draußen, suchte die Wahrheit. Und wenn es nur die momentane wäre. Ein leerer Blick, der sich voller Erwartung auf den Weg machte, zu erkennen.

...anstatt sich um ihren eigenen Dreck zu kümmern, klang es in ihm nach.

„Denen wär´s sicher lieber, ich würde gehen. Besser heut als morgen. Vielleicht erinnere ich sie zu sehr an meinen Vater. Keine Ahnung.“ Fred öffnete die verkrampften Hände, seine Knöchel waren weiß von der Anspannung. Abwesend schaufelte er eine Hand voll Wasser in die Luft. „Tja. Bis gestern hat mir der See gut getan.“ Fast nachsichtig sagte er das, als befürchtete er, von diesem See belauscht zu werden, der sich daraufhin beleidigt zurückziehen könnte. Auch deshalb richtete er seine Einschätzung nicht nur an Mara, sondern irgendwohin, wo sie nicht stören konnte.

Schwungvoll verbannte Mara ihre Locken hinter die Schultern. Hielt den Kopf schräg und suchte eine Mimik, um sein Gefühl zu treffen.

„Vielleicht kann ich dir ja ein bisschen helfen? Und wenn’s hierbei ist.“ Dabei tippte sie mit der Fußspitze wippend an Freds Korb, bis die Bücher auf den Kuchen kippten.

Mara wusste in einigen Bereichen ihres Lebens auch nicht genau, was sie wollte, aber was sie sicher nicht wollte, war ein Verhältnis mit Fred. Sie fühlte sich von ihm angezogen, das lag an der unausgewogenen Mischung zwischen chaotischer Fahrigkeit und etwas zu überzeugend demonstriertem Selbstbewusstsein. ‚Da muss ja einiges im Argen liegen bei dem armen Kerl’.

Fred wiederum wollte auf keinen Fall mit Mara anbandeln, dümpelte wie ein Stück Treibholz im See, auf der Suche nach der richtigen Strömung. Mara litt an den Spätfolgen familiärer Verstrickungen. Das verband. Sie verstand Fred, sie mochte ihn. Fred mochte Mara auch, verstand sie aber nicht.

Fred ahnte nicht, welch unmittelbaren Einfluss sie auf sein Seelenleben hatte.Ein Einfluss, auf den der See eifersüchtig gewesen wäre, wenn er könnte.

„Lass mich mal.“

Die Möwen beobachteten erwartungsfroh ein allzu bekanntes Manöver, das bei anderen Gelegenheiten oft genug mit einem unfreiwilligen Bad im See endete. Mara und Fred wechselten die Plätze, gekonnt hielten sie die Balance. Klein und harmlos wie eine Nussschale war der Nachen von hier oben anzusehen. Fred biss in seinen Mohnkuchen, Mara löste die Arretierung und gab Vollgas, die Vögel drehten in den Wind und segelten enttäuscht davon.

Kapitel 2

Dienstagabend

Das Haus schien seinen Frieden mit Fred gemacht zu haben, die letzte Nacht war ruhig verlaufen, zumindest fühlte er sich den Tag über munter und ohne Druck. Drei Fenster hatte er geputzt, drei fehlten noch. Die waren so verschmiert, er hätte sie genauso gut aus den Rahmen schlagen können, wäre auch nicht aufwendiger gewesen.

Das Transistorradio aus dem Zimmer seines Vaters thronte auf der Resopalanrichte der kleinen Küche. Er hatte so lange am Frequenzregler gedreht, bis ihm die Musik für diesen Ort und seine Laune angemessen erschien. Schlager, nicht gerade hitparadenverdächtig, dröhnten blechern und laut bis zur Gaststube. Wo sich niemand drüber aufregen konnte.

Fred war in seinem Element, die Küche sein Schutzraum, er seit einiger Zeit sein liebster Gast. Heut Abend wollte er sich verwöhnen. Nach anfänglicher Skepsis war er überzeugt, mit dem gestrigen Montag einen gelungenen Start in die Woche erlebt zu haben. Der Besuch beim Notar endete für alle Beteiligten ganz anders als erwartet.

Falkenstein hatte offensichtlich mit Freds Verkaufsabsichten gerechnet. Er war nah dran, die Beherrschung zu verlieren.

In ausschweifenden Bögen hatte Fred erzählt, was er überlegt hatte, von der Verantwortung, die er mittlerweile, „das könne der Herr Notar doch sicher nachfühlen“, für sein Elternhaus spüren würde. Schweigsam nickte Falkenstein, seine wachsende Unruhe sollte Fred nicht spüren. Falkenstein orderte mit einem klaren Glockenschlag den üblichen Cognac in den wunderbar unüblichen Schwenkern. Ein Gedicht. Für Fred. Für den Notar entwickelte sich die Geschichte eher zum Horrorszenario.

Blumig und so übertrieben wie es Fred gerade noch verantworten konnte, schilderte er seine Pläne, die Reaktivierung des Fischhandels, die Renovierung der Wirtschaft, seine Lust aufs Schnapsbrennen, ja, er konnte es gar nicht mehr erwarten. Dazwischen streute er kleine Lobhudeleien Richtung Notar, der ihm doch so hilfreich mit allen nötigen Informationen und so, „...na, Sie wissen schon, was ich meine.“

Fred fand sich mit jedem Satz mehr in dieser absurden Rolle zurecht, glaubte mit jedem Satz mehr, was er dem Notar auftischte. Fast. Falkenstein sollte sich erstmal keine Hoffnungen auf das lukrative Objekt machen. Er würde sich nicht drängen lassen und in Ruhe die Verkaufsmöglichkeiten selbst sondieren. Oder das Haus zur Sommerresidenz ausbauen lassen.

 

In dem Maße wie Fred durch sein Schauspiel sicherer wurde, schrumpfte Falkenstein wie ein porös gewordener Luftballon in sich zusammen, in seinen Gesichtsfalten verloren sich die Hoffnungen auf ein profitables Geschäft. Mit einem trockenen Räuspern meldete er sich zurück.

„Ich darf Sie beglückwünschen, mein lieber Herr Keller. Menschen wie Sie, lassen Sie mich bitte etwas unbescheiden formulieren, sind selten geworden auf unserem Fleckchen Erde.“ Falkenstein wischte mit der Hand mechanisch über die grüne Schreibtischeinlage, als wollte er das Schmalz seiner Worte in das britische Leder reiben. „Bewusstsein für Verantwortung und Tradition, wie schön, daß Sie uns erhalten bleiben.“

Mitten in dieses gegenseitige Abtasten platzte ohne Klingelruf - zum ersten Mal übrigens - Fräulein Serlbacher, eingehüllt in einen grauen Hosenanzug, der ihren roten Pagenkopf noch mehr betonte. Eine durch und durch elegante Erscheinung, das war Fredschon bei der Cognaclieferung aufgefallen. Nach einem um Nachsicht bittenden Blick zu Fred beugte sie sich sehr nah an ihren Chef, legte ein unscheinbares Zettelchen neben seine Hände. Sie kam ihm so nahe, Fred hätte wetten können, Fräulein Serlbachers Haare spielten mit Falkensteins Ohr. Sie rührte sich nicht, als galt es den Rest vom dezenten Parfum des Chefs einzuatmen.

Die Szene wirkte albern, es sah aus, als transportierte sie auf dem Zettel einen Tropfen Nitroglyzerin, der auf keinen Fall auf den Schreibtisch tropfen durfte. Trotzdem reagierte der Notar erschüttert. Falkenstein implodierte, worauf sich die Sekretärin schleunigst aus der Gefahrenzone bewegte, nicht ohne Fred auf ihrem Rückzug ein „Herzlichen Glückwunsch, Herr Keller“ zuzuflöten. Eine Sekunde später schloss die Tür lautlos und Fräulein Serlbacher ließ sich an ihrem Schreibtisch nieder, um ihre Aufmerksamkeit wieder der Gegensprechanlage zu widmen.

War das gestern? Mir kommt´s grad vor, als hätt ich´s dreimal hintereinander erlebt.

Fred schmunzelte, schüttelte den Kopf, ratlos oder fassungslos, jedenfalls bedeutend wohlhabender als er es sich noch vor Tagen hätte vorstellen können. Es beschäftigte ihn im Augenblick trotzdem nicht besonders, er gab sich voll und ganz diesem trügerischen Gefühl hin, zufrieden und entspannt den Abend zu genießen.

Er halbierte den Chicoree, löste mit zwei keilförmigen Schnitten den bitteren Strunk heraus und lachte in sich hinein. Schreien könnte er. Warum eigentlich nicht? Schließlich war es eine göttliche Komödie. Er stand im Durchgang zwischen Küche und Stube, schaute sich um, ob denn wirklich niemand in seiner Nähe war der ihn beobachtete, oder heimlich in der Ecke saß, Marillenschnaps trank und auf die bestellte Forelle wartete.

Die inzwischen in akkurat gefalteten Päckchen garten, die sich im Backofen silbern blähten. Die Hitze presste die Aromen aus Butter, Zitronensaft und Petersilie sanft in das weiße Fleisch. Mit Kennerblick hatte Fred zwei knapp einpfündige Forellen direkt beim Fischer gekauft. Er bereitete sich auf einen ruhigen Abend vor und fühlte sich zwischen Luftsprung und Schreckensschrei.Natürlich war er allein, wer sollte schon hier sein? Trotzdem war ihm mulmig zumute, ungewohnt, in seinen eigenen vier Wänden einer wie auch immer gearteten Gefühlswallung nachzugeben.

Er legte das Messer neben das Brett und stützte die Hände auf die Arbeitsfläche, holte tief Luft. Ein Gemisch aus jodeln und grölen klang durch die altväterliche Stube, trieb durch die weit geöffneten Fenster hinaus. Dieses Gesicht würde er nie vergessen, als sie sich zum Abschied die Hand gaben und Fred noch unbedingt eins draufsetzen musste. „Sie machen sich ja keine Vorstellung, Herr Falkenstein, wie nützlich es sein kann, eine See-Immobilie zu besitzen. Auf Wiedersehen und Dankeschön.“

Mara hatte ihn rechtzeitig mit „wichtigen Insider-Informationen über diverse regionale Eigentümlichkeiten“ füttern können. Diese Notariatssprache musste er aber schleunigst wieder ablegen. Fürchterlich. Die eine Hälfte war gelogen, die andere verklausuliert. Keiner sagte hier, was er dachte. Kaum einer überlegte, was er sagte.

Fred, mein Lieber, in nächster Zeit wirst Du mit Sorgfalt die Menschen auswählen, mit denen Du über irgendetwas anderes als das Wetter und die schöne Gegend sprichst, versprach er sich.

Heute Mittag beim Einkauf hatte ihn fast jemand umgerannt, bei dem er sich gleich erproben konnte. Hatte er sich am Freitag also doch nicht getäuscht. Im Leben hätte er nicht damit gerechnet, Leon hier „in diesem verschlafenen Nest“, wie dieser sich zu Schulzeiten ausgedrückt hatte, wieder zu sehen.

„Mensch, Du hast Dich ja kein bisschen verändert!“

Leon musterte irritiert diesen großspurigen Städter, der ihn einfach mitten auf der Straße ansprach.

Fred half ihm schnell auf die Sprünge. „He, großer Künstler. Sag bloß, du kennst den alten Fred nicht mehr. Hat dir die Firnis schon das Hirn weggeätzt?“ Fred freute sich, mit Leon einen der wenigen verlässlichen Kumpel aus frühen Zeiten hier zu wissen. Immer noch der schlaksige Typ mit zerzausten, langen Locken.

„Wolltest du nicht Malerei studieren, in Düsseldorf oder so?“

„Ach du lieber mein Vater! Der scharfe Fred. Ich denk, mich tritt ein Pferd! Aber gut beobachtet, mein Alter. Alles erledigt, mit Brief und Siegel. Hab hier grade ein echt künstlerisch hochwertiges Projekt am Laufen. Vorübergehend. Kartographiere die ganzen Ausgrabungen der Konstanzer Güllegassen inklusive der ortsnahen Tauchgänge. Quadratmeter für Quadratmeter. Male schöne Bildchen auf Millimeterpapier - alles Originale natürlich. Mein Atelier ist die alte Schule von Gaienhofen. Komm doch mal rum, dann reden wir. Und selbst?“

Leon hatte in wenigen Minuten sein halbes Leben über Fred gegossen. Der setzte schon an und wollte es ihm gleichtun, besann sich aber auf seinen gestern gefassten Vorsatz.

„Das ist nun wirklich eine lange Geschichte. Ich schau gern mal bei dir vorbei. Wann bist du denn da?“ Fred überspielte seine Plauderunlust so lakonisch es ging und bemerkte weit hinten am Ende der Straße zwischen anderen Passanten eine Frau in einem Kleid. An sich nichts Besonderes. Aber das Kleid war von einem Grün, wie er es selbst mit tolerantestem Geschmack nicht in dieser Gegend erwartet hatte. Sicher Fräulein Serlbacher.

„So zwischen elf und fünf. Meistens. Würd mich freuen. Echt. Alter Schwede!“ Leon fuhr sich mit beiden Händen durch die Locken.

Auch wie früher, dachte Fred, klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter, verabschiedete sich mit einem nicht gerade originellen „Also, ich muss dann wieder“ und spazierte erst einmal die Straße lang. Spuren verwischen. Leon musste ja nicht gleich mitkriegen, daß er in ein etwas teureres Cabrio stieg. Das grüne Kleid hatte er schon wieder vergessen.

In zehn Minuten wäre der Fisch fertig. Das Wetter geeignet, um draußen zu essen. Blieben sechs Minuten für Apfelspalten und Joghurtdressing und vier Minuten für den Gartentisch. Fred prüfte sein Timing und häckselte flink einen Esslöffel Mangochutney in Würfelchen, gab es mit einer kräftigen Prise Curry zum Joghurt, schaufelte mit wedelnder Hand den Duft in die Nase – und stutzte. Riechen. Es roch gut. Natürlich. Aber... seltsam. Ein anderer, ein fremder Duft mischte sich dazu. Kein Essensgeruch, ein künstlicher Duft, den er selbst erschaffen hatte. Er hatte ein undeutliches Bild geschäftiger Hände vor sich, die an einem unbekannten Ort mit merkwürdigen Gegenständen hantierten.

Wie hier am Küchenbrett sah er nur seine Hände, die sich zögernd bewegten, er überlegte, woher... Aus welchem Grund hatte sich dieser Duft in ihm ausgebreitet? Ein schimmerndes Wölkchen im Dunkel des...