Die Gabe des Erben der Zeit

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Glücklicherweise verschlug es ihm nicht den Appetit, sondern nur die Sprache, als Mara mit den schlichten, aber nett angerichteten Porzellanschüsseln auf die Terrasse kam, ihm zuvorkommend auftrug und ihn so ganz nebenbei, als wäre es die normalste Angelegenheit der Welt, fragte: „Fährst eigentlich noch Motorrad, Fred?“

Fred kurvte mit quietschenden Reifen um einen ländlichen Kreisverkehr. Weg war die gemütliche Landpartie vom Nachmittag. Die gleiche Strecke, eine andere Stimmung, eine neue Zeit. Wenn er ehrlich war, hatte er sich kurz gefragt, ob diese unglaublich nette Bedienung Mara sein konnte. Schon bevor sie sich zu erkennen gab. Wenn er noch ehrlicher war, wollte er es gar nicht wissen. Sonst hätte er sie ja nicht vergessen gehabt...

Seine Mara. Es waren zu viele, um sich bei jeder daran erinnern zu können, warum es auseinander ging. Wenn er überhaupt je mit einer richtig zusammen war. Trotzdem erinnerte er sich. Sie war eine Ausnahmeerscheinung, zugegeben, eine schwarzlockige Schönheit mit südländischem Einschlag. Völlig fehl am Platze, hier auf der langweiligen Höri. Nur ihr völlig schüchternes Wesen wollte damals nicht dazu passen. Hatte sie mittlerweile komplett abgelegt. Überfahren hatte sie ihn. Nicht schlecht.

„Darf ich dir Gesellschaft leisten?“ Mara setzte sich einfach.

Fred aß und lobte, Mara erzählte und fragte. Er antwortete und staunte, sie nickte, schaute durchs Fenster. „Deine Chefin beobachtet uns“, entging auch ihm nicht.

„Meine Schwiegermutter“, sagte sie lakonisch. Die machte keinen Hehl daraus, noch während sie die Gäste in der Stube bediente, mit kalter Miene Fred zu mustern.

Wenn Blicke töten könnten.

Mara wollte reden. Sie brauchte jemanden, dem sie, frei von der Leber weg, erzählen konnte. Aber keine großen Geheimnisse. Nicht Fred. Dem nicht. Noch nicht. Jemals wieder? Aber nur ihr Leben. Was hieß schon nur? Die schöne Mara war mit den Jahren ein wenig füllig geworden, resolut und zupackend. Das stand ihr gut. Fand Fred.

Er hatte noch nicht die Hälfte seines Abendessens verdrückt, da wusste er schon viel: Mara hatte eine fast zwölfjährige Tochter, die noch mindestens zwei Wochen eine Brille mit einem blinden Glas tragen musste. Eine harmlose Augenentzündung. Dann gab es noch eine Schwiegermutter, mit der bewirtschaftete sie das Gasthaus. Mit wochenendlichen Küchenhilfen. Mara hatte eingeheiratet, eine Liebesheirat in einen florierenden Fischereibetrieb mit Räucherei und Gastwirtschaft. Zwei Brüder gab es, Zwillinge, aber nur eine Mara. Schwager Gabriel war vor zehn Jahren in den See gefallen, morgens um halb fünf, beim Netze hochziehen, und nicht mehr aufgetaucht. Fred erinnerte sich an das Unglück seiner Mutter. Er schluckte. War aber weit weg von der Stimmung, das anklingen zu lassen. Und Mara tat es auch nicht.

Vier Tage hatte es gedauert, bis sie Gabriel gefunden hatten. War kein schöner Anblick. Große Trauer und noch größere Last hatte dieses Leid in die Familie getragen. Die Arbeit, bisher auf fünf Menschen verteilt, blieb jetzt an vieren hängen. Und Mara hatte noch Lisa zu versorgen, ein kleines, süßes Mädchen. Richtig glücklich war Mara mit ihrem Johannes nur in den wenigen Stunden, die sie für sich allein hatten. Lisa wurde vom Großvater vergöttert, die Großmutter verhärmte zusehends. „Mir brauchet koin!“ Alle zwei Tage betete Hedwig Sieder diesen Satz ungefragt an die Familie.

„Vor drei Jahren war mein Schwiegervater mit den Kräften am Ende. Wir fanden ihn neben der Räucherei. Die besten Felchen weit und breit. Aus. Und vorbei.“ Fred blieb der Bissen im Hals stecken, so unbeteiligt erzählte Mara über den Tod des alten Sieder. Sie ließ es nicht zu, Fred sollte keine Fragen stellen, erzählte weiter, jeden Moment konnte die Schwiegermutter auf die Terrasse kommen und sie mit einer fadenscheinigen Begründung nach innen zerren, weg von Fred. „Da waren´s nur noch drei!“

Mara nippte an ihrem Apfelschorle, das sie vorsorglich mitgebracht hatte, nebst einem zweiten, unbestellten Radler für Fred, damit sie nicht zu schnell wieder aufstehen musste. „Aber auch nicht lange. Ein gutes Jahr später, es war eher ein schlechtes, verschwand Hannes von heute auf morgen. Ich seh es wie gestern, es war der 30. Juli 2010. Plünderte das Familienkonto und war weg. Einfach weg.“

Eine kurze Pause entstand, die sie etwas näher brachte.

Und wieder spürte sie, wie leer, wie verzweifelt sie damals war. Verzweifelt, weil sie es sich nicht erklären konnte. Warum war er gegangen? Sie hatte keinerlei Anzeichen gespürt. Fast unmerklich schüttelte sie den Kopf. Fred wollte sie nicht unterbrechen, auch nicht in ihrem Schweigen. Das einzige, was er gerade anbieten konnte, war zuzuhören. Es wunderte ihn nicht, daß das Verhältnis zwischen den zwei Frauen eisiger wurde, je weniger Männer in der Familie waren. Eine grausige Vorstellung für ihn, diese Zwangsgemeinschaft, zwei Menschen, die gegensätzlicher nicht sein konnten, führten gemeinsam, wenn dieses Wort dafür verschwendet werden durfte, eine Wirtschaft. Widerwillig versuchte er sich eine ähnliche Situation zwischen sich und seinem Vater vorzustellen.

An der Freien Tankstelle tankte er und suchte etwas zu lesen für den Sonntag. Neben dem „Konstanzer Boten“ lag „Die Zeit“ noch übrig im Regal. Heute war Samstag. Sicher das letzte Exemplar. Oder das Einzige. Nahm sich auch „Die Zeit“, schon wegen der auffälligen Titelunterschrift.

Fred war in Hemmingen angekommen. Die weit verteilten Straßenlaternen warfen ihr mattes Licht in seinen Wagen. Die Wochenzeitung schlug mit ihrem Deckblatt nach den grauen Schatten und verlangte Freds Aufmerksamkeit. Amüsiert registrierte er noch einmal die Überschrift: „DIE ZEIT“ und darunter „...ist relativ!“

Sonntagfrüh

Kein Kaffee der Welt konnte Freds Kräfte zurückholen.

Hatte er je einen Hauch von Lust verspürt, in diesem Haus zu bleiben, so war sie mittlerweile versickert. Wieder eine unruhige Nacht. Bockig saß er an einem der alten Gasttische, in die Eckbank gedrückt von seiner eigenen schlechten Laune. Rührte mit dem Löffel im Kaffee, obwohl weder Milch noch Zucker aufzulösen waren.

„Es reicht. Was mach ich eigentlich noch hier? Zusehen, wie mich dieses Haus ruiniert, an den Rand des Wahnsinns treibt? Oder darüber hinaus!“ Allein sprach man am besten mit sich selbst.

Ein schönes Haus. Aber jede Ecke erinnerte Fred an seinen Vater.

Hätte ruhig mal anrufen können. Hatte wahrscheinlich ein schlechtes Gewissen.

Fred war nicht nur ein guter Geschäftsmann, er war auch ein Verdrängungskünstler. Er rief nicht an, sein Vater rief nicht an. Und schon war sein Vater der familiäre Bremsklotz, der sich in diesem Nest eingeigelt hatte um seinen Weltschmerz zu pflegen. Sein Vater war für ihn schon längst gestorben. Unruhig ging er ein paar Schritte.

„Wenn ich nur eine winzige Idee hätte, was ich mit der Hütte anstellen soll. Fred, ich sag dir, das ist auf gar keinen Fall eine Alternative für Bacharach. Dort steht eine Goldgrube. Und hier? Ein Hexenhaus.“ Niemand in der Nähe, der ihm widersprechen konnte. Niemand, dessen Widerspruch er geduldet hätte. Er schaute sich um. Der Wirtsraum war leer, seine Sätze klangen trotzdem nicht hallig, die Bänke erinnerten sich an die müden Körper, die abends hier ihr letztes Glas tranken.

Träge schlurfte er zur Theke zurück, bedrängte sich selbst mit „Ich brauch ne Eingebung, sonst sag ich ab“ und warf den Löffel achtlos in die Spüle. Ein grässliches Scheppern. Ging nicht dieser Tage etwas zu Bruch, ein kleines, dünnes Glas vielleicht? Er hatte sich am Finger verletzt, geblutet. Das wusste er noch. Er durchsuchte die Schankregalen. Unruhig wanderte sein Blick in jede Ecke. Kein übersehener Splitter. Nichts fehlte. Kein Glas, kein Krug. Alles in Reih und Glied. Lückenlos. Was er von seiner Erinnerung nicht sagen konnte. Es war Sonntag. Das war klar.

Warum nehm ich nicht einfach die Zeitung, fahr mit dem Boot auf den See hinaus und lass den lieben Gott einen guten Mann sein?

Lass den lieben Gott einen guten Mann sein - Freds Vater sagte das oft.

Allerdings wäre dem nie in den Sinn gekommen, eine Zeitung mit auf den See zu nehmen, dafür hatte er zu viel zu tun.

Fred hatte hier nichts mehr zu tun, schnappte sich Handy und die Zeitungen und tuckerte wenig später Richtung Schweiz.

„Bitte nicht über die Reling lehnen!“ schimpfte der Kapitän durch die Bordsprechanlage. Das folgende „Saupreis´n, die Japanischen“ war nur für die Ohren seines Bootsmannes im Fahrstand des Schiffes bestimmt.

Der Kapitän war Bayer, das hörte Ferdinand Beißwanger unschwer aus den Ansagen heraus. Weit schwerer fiel ihm die geografische Zuordnung der Trachtengruppe, die mit 30 Personen auf die „Stein am Rhein“ eingefallen war. Japaner waren es keine. Die Auskunft hätte Beißwanger dem Kapitän zuverlässig geben können, falls er die bayrische Beschimpfung gehört hätte. Er als Historiker... Beißwanger wischte den Gedanken beiseite, er war heute nicht als Historiker unterwegs. Einmal einen entspannten Ausflug auf dem See genießen, ohne Recherche, ohne Auftrag. Er atmete tief ein, prüfte, ob sein Hut noch saß und stellte fest, daß auch ein Rentner dauernd beschäftigt sein konnte.

Ferdinand Beißwanger musterte Farben und Schnitte der Kleidung. Die Leute sprachen französisch, konnten aber sowohl aus der französischsprachigen Schweiz kommen wie aus dem Mutterland der Sprache. Er kam nicht weiter, das ärgerte ihn. Aber es amüsierte ihn, zuzuschauen, sie alberten und lachten, fotografierten um die Wette, Möwe mit See, Möwe mit Schiff, Gruppe mit Himmel, Gruppe mit Schweizer Flagge.

 

Eine füllige Schönheit kam auf ihn zu.

„Photo please?“ lächelte sie ihn an, hielt ihm sachdienlich übersetzend gleich ihren Apparat entgegen und winkte die Gruppe herbei. ‚Die halten mich also für einen Engländer’, dachte Beißwanger. Wundern musste er sich nicht. Beißwanger kleidete sich gerne praktisch und seriös. Also meist eine breit gerippte Cordhose, ein dünnes, frisch gebügeltes Hemd, darüber Strickjacke oder Anzugweste. Auch im Sommer, egal wie warm es war. Seine dünnen, zurückgekämmten Haare waren stets von einem Hut bedeckt, der möglichst klein, also unauffällig sein musste. Bescheidenheit war angesagt.

Beißwanger war dürr aber nicht magersüchtig. Er machte sich eben nichts aus Essen und betrachtete es höchstens als willkommene Störung seiner Studien. Beißwanger hatte eine Körperhaltung, die nach alter Schule, förmlicher Erziehung und vornehmer englischer Zurückhaltung aussah. Daß er stets ein frisch gebügeltes Taschentuch in seiner rechten Hosentasche trug, konnte natürlich niemand sehen.

Er nahm also den Apparat, schoss ein paar Aufnahmen von den sich ständig neu positionierenden Menschen, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, auf jedem Bild eine neue Grimasse zu schneiden. Er schmunzelte. Seinen Dresscode hatten sie erkannt. Er dagegen war mit ihnen nicht weiter gekommen. Würde er sich im Augenblick auf einer Bodenseefähre im Mittelalter einfinden, wüsste er sich besser zu helfen. Farbsymbolik und Kleiderordnung würden ihm geradeheraus berichten, daß eine Gruppe aus dem vorderasiatischen Raum anreiste und die Gruppe auf dem Vorschiff eine spanische Delegation des umstrittenen Papstes war. Das war sein Metier. Aber hier...

Etwas unzufrieden lehnte er sich zurück und ergab sich dem Fahrtwind. Auf der Bank lag sein Leitz-Ordner, den hatte er immer dabei, egal, wohin er ging. Es könnte ihm ja langweilig werden, es könnte ihm ja etwas einfallen.

Heute wollte Beißwanger entspannen und hoffte dennoch auf eine kleine Eingebung, gerne auch eine größere. Es war ihm sehr präsent, eine Chronik schreiben zu müssen, die sich an vielen anderen Druckerzeugnissen messen lassen müsste, die im Jubiläumsjahr den Markt überschwemmen würden. Er war auf der Suche nach einem „Alleinstellungsmerkmal“, wie sein Verleger etwas zu oft betonte.

Beißwanger spürte es, es lag in der Luft, ganz sicher zum Greifen nah. Er bewegte sich durch Konstanz, an Häusern vorbei, die schon vor 600 Jahren standen und versuchte den Geist einzuatmen, den sie neben vielen anderen Ausdünstungen absonderten. Dieser Heimvorteil musste doch zu irgend etwas nütze sein. Doch die Häuser und Gassen schwiegen.

Auch er konnte nur auf das gleiche Recherchematerial zugreifen wie andere Autoren auch. Er zählte auf seinen Stil, der wissenschaftlich fundiert und trotzdem lebendig das Geschehen in Konstanz nach 1414 für den Leser spürbar werden lassen sollte.

Trotzdem, er brauchte einen Knüller.

Trotzdem beunruhigte ihn dieser Druck im Moment nicht sonderlich. Der Ordner lag unbeobachtet neben ihm, noch drei Monate Zeit, das Manuskript abzugeben. Ein Gefühl, das er von sich nicht kannte: untätiges Genießen. Er hoffte, dieses Glücksgefühl möge nicht von kurzer Dauer sein. Es hatte eine Ursache.

Seine Recherchen hatten ihn auch letzten Freitag in die Konstanzer Universitäts-Bibliothek geführt. Über die zwei Faksimile-Ausgaben der gesuchten Bücher war er sehr erfreut, was ihn aber noch mehr entzückte, war die Tatsache, ein weiteres Kleinod entdeckt zu haben: Friederike Schmal, Teilzeitkraft der Bibliothek. Zwei Dinge wurden dadurch für Beißwanger wichtig: am nächsten Montag zur Schicht von Frau Schmal die gesuchte Richental-Chronik endlich in Händen zu halten – und sich vorzustellen, irgendwann mit ihr auf so einem Schiff eine kleine völlig ungeschäftsmäßige Kreuzfahrt einfach quer über den See zu erleben.

Der plötzliche Wunsch sich zu verabreden dürfte umso mehr verwundern, wenn man Ferdinand Beißwangers Leben kurz genauer betrachtete. Er war ein Single seit den Jahren, wo dieses Wort noch nicht einmal gängig war. Er lebte allein, zufrieden und extrem geordnet. Da war es nur logisch, in Mannheim, der Stadt der Quadrate und Zahlenstruktur zu leben und zu arbeiten.

Heute genoss er, sein Frühstück auf See einzunehmen. Kurz nach 9 Uhr hatte das Schiff in Konstanz abgelegt, die frühe Tour lockte mit einem „Schiffsfrühstück“, das er sich sicherheitshalber nicht wie ein „Käptn´s-Dinner“ vorzustellen wagte. So war es dann auch. Die Bedienung jonglierte warmen Kaffee durch die Reihen und verteilte harten Toast, der wohl an die rauen Zeiten erinnern sollte, als Schiffszwieback das Hauptnahrungsmittel für versoffene Matrosen war. Beißwanger nahm´s gelassen, heute konnte er jedem Umstand und jedem Klischee die passenden Zusammenhänge abgewinnen. Um dreiviertel eins würde das Schiff in Stein am Rhein ankommen, nicht ohne auf dem Weg dorthin an jedem deutschen und schweizerischen Uferdorf anzulegen. Ein wunderbar sinnloser Zickzack-Ausflug. Das Schiff hatte vor wenigen Minuten noch eine indische Großfamilie aufgenommen, die Steckborn verlassen wollte. Geradlinig steuerte der Kapitän Hemmingen auf deutscher Seite an, schaute kurz auf seine Schiffsuhr, prüfte, ob er im Zeitplan lag. Er befehligte zwar kein Schienenfahrzeug, aber auf Pünktlichkeit legte die Schweizerische Schifffahrtsgesellschaft großen Wert. Sie würden um 10 Uhr 45 anlegen. Er war zufrieden.

Beißwanger lauschte entspannt dem klingenden Chaos aus vielerlei Sprachen, ließ sich treiben in die Zeit weit vor seiner Zeit.

Ein Handy klingelte. Irgendwo draußen auf dem See.

Beißwanger entdeckte das Boot nicht gleich. Mokierte sich darüber, daß der Mensch an sich nicht mal auf dem Wasser ohne verflixtes Mobiltelefon auskäme.

„Keller.“

„Hallo Fred, also ich sag dir, aber erschrick nicht, diese Baufuzzis kosten mich Jahre meines Lebens. Wie die Kinder. Hab ja keine, aber ich sag dir, so stelle ich mir das vor. Jede Ecke muss man denen zweimal erklären. Aber ich sag dir, nicht wiederzuerkennen, wenn’s denn jemals fertig wird. Aber mal was ganz anderes. Kannst dich noch an diese scharfe Französin erinnern, die letzten Herbst bestimmt zweimal die Woche aufkreuzte und dich unbedingt heiraten wollte? Nicht nur, weil ihr das Lokal so gut gefiel... diese verrückte Schnepfe.“

Fred war grad überhaupt nicht nach Telefonplausch zumute, Verflossene gab es wirklich genug. Obwohl er sich wirklich freute, Pauls Stimme zu hören, hätte er ihn am liebsten angebellt, er möge ihn doch mit Banalitäten in Ruhe lassen. Beherrschte sich aber.

„War das die, die unbedingt mit mir in der Provence reiten wollte?“

„Ja gut, mein Lieber, sehr gut.“ Paul war hörbar stolz auf Freds Erinnerungsvermögen. „Und genau diese Tante ist mit einem knorrigen Typen auf unserer Baustelle aufgetaucht. Dachte zuerst, der ist ihr Vater. Schlich zwischen den Durchbrüchen rum wie ein gehfauler Alki. Aber nicht genug. Kannst dir vorstellen, der alte Elsässer war ihr Mann!?“

„Da hat sich der Geschmack der guten Blanche aber ganz schön verändert!“ Fred stierte gelangweilt auf die kleinen, ruhigen Wellen, die gegen die Bordwand schwappten.

„Egal. Jetzt kommt´s nämlich, halt dich fest. Sitzt du bequem? Dieser Typ, also natürlich Blanche, will das Lokal unbedingt, ich sage unbedingt! haben. Wenn´s sein muss, pachten. Für zunächst zwei oder drei Jahre. Was machst du eigentlich grade? Störe ich bei irgendwas? Mit diesen drahtlosen Dingern weiß man ja nie, wo man grad landet.“

„Nein, nein. Schon gut. Bin mit einer Zeitung auf dem See unterwegs.“

„Na ich hoffe, du hast sicherheitshalber auch ein Boot dabei. Dein Leben möchte ich haben.“ Paul lachte laut. Paul redete echt für zwei.

„Ich denk drüber nach.“

„Worüber denn? Ach so. Guter Witz. Du weißt ja, daß ich seit gefühlten 100 Jahren für ein halbes Jahr eine Segelauszeit nehmen möchte. Ganz ernst. Und schon kommt mir diesmal so ein Restaurantfuzzi mit seiner Küche dazwischen und ich Depp schick den auch noch für drei Wochen an den Bodensee und lass mich zumüllen. Bin ein echt guter Mensch, oder? Also, Spaß beiseite, ich mach´s kurz. Sie lässt alles so, wie es ist, also so, wie du es geplant hast, wofür ich hier gradstehe, schließlich bin ich Architekt, das kannst mir glauben! Er zahlt alles, komplett, sogar den ganzen Küchenumbau, Tutti! Verstehst du? Hallo! Fred? Sag piep.“

Fred schaffte ein langes Ausatmen, das wie eine Brise über den See fegte.

„Ah, gut. Du lebst. Merken. Küchenumbau plus zehnprozentige Gewinnbeteiligung, und zwar zusätzlich zur Pacht. Und, ganz nach deinem Gusto, Pachtverlängerung.“

Irgendwann musste Paul doch mal Luft holen. Fred schaukelte mitten auf dem See, ein Schiffbrüchiger, dem das rettende Treibholz nahte. Wenn überhaupt, dann fünfzehn Prozent.

„Da ist er doch, der Wink mit dem Zaunpfahl.“ Nachdenklich leise, eher für sich sagte er das, doch Paul merkte auf.

„Was ist? Welcher Zaunpfahl? Ich dachte, du bist im Wasser.“

„Auf dem Wasser, Paul. Auf dem Wasser. Eher schon über Wasser. Aber das ist eine lange Geschichte."

Paul druckste plötzlich rum. "Du Fred. Also das klingt ja echt unglaublich spannend, interessiert mich wirklich. Wollt dich aber nicht so lang aufhalten, auf deinem Überwasser. Nur kurz Bescheid sagen, weißt du. Überleg´s dir, hier läuft alles wie am Schnürchen, wie gesagt. Ruf bald mal rüber. So wie ich die, wie heißt sie? ja wie ich Blanche kenn, steht die in drei Tagen wieder auf der Matte.“

"Ich dank dir, Paul. Bist ein echter Kumpel."

Und das meinte Fred, bei allem unsensiblen Verhalten, das Paul oft überfiel, das meinte Fred ehrlich. Seit immerhin acht Jahren konnte keine Untiefe die Freundschaft zwischen den Beiden gefährden. Paul war - außer seiner Kochleidenschaft - die mittlerweile größte Konstante in Freds Leben. Sogar die Motorradbastelei hatte er frühzeitig an den berühmten Nagel gehängt.

"Machs gut, Paul. Bis bald."

"Machs besser, Freddy. Aber nicht so oft.“ Pauls anzügliches Lachen ging schon nicht mehr durch die Leitung. Fred kannte es eh, wie Pauls Lieblingssprüche.

Jetzt saß er also in der Klemme, konnte sich nicht mehr einfach raus winden aus dieser Heimatgeschichte, von wegen ‚ich muss mein Lokal weiterführen’ und so. Der Weg war frei, fragte sich nur, wohin. Freds unsteter Blick fiel auf die klamme „ZEIT", wieder las er "...ist relativ".

Und macht nur vor dem Teufel halt. Hat auch schon mal jemand gesungen. Er lächelte. Das stand ihm besonders gut. Darüber war sich der Schwarm Fische einig, der seit geraumer Zeit aufmerksam das Boot begleitete.

Anker setzen war sinnlos, der See hier viel zu tief. Ein bisschen Detailwissen hatte sich Fred mittlerweile also angeeignet. Flüchtig blätterte er den „Boten“ durch, ließ sich treiben, von der Strömung, von der spontanen Neugier, welche Zeilen und Bildunterschriften ihn wohl interessieren könnten. Er überflog nichts Aufregendes: die nächste Segelregatta wurde angekündigt, deren Organisationskomitee noch Helfer suchte, die Schweizer Einkaufspendler wurden kritisiert, die von der Butter bis zu Immobilienpreisen alles verteuerten, der Gemeinderat war darüber zerstritten, in welchem Umfang Konstanz das Konzilsjubiläum ausrichten sollte.

Interessant, nein, amüsant. Die Fraktion um Clemens Wackernagel bevorzugte die ganz große Lösung: vier Jahre Marktstände im Seepark, historisch fundiert, ein Frachtschiff im Hafen, natürlich originalgetreu, alle halbe Jahre eine Prozession, farbenprächtig und prunkvoll wie damals. Tausende Touristen sollten sich angezogen fühlen wie einst um 1414 die Tagelöhner, Adelige und Dirnen, die unaufhörlich in die Stadt drängten. Auf die Dirnen wollte Wackernagel diesmal gerne verzichten.

Herta Brot unterstellte Wackernagel nebst Gefolge Großmannsgebahren und fehlende Einsicht in die finanzielle Realität. Wollte sich die Stadt in den kommenden Jahren nicht ruinieren, war es völlig ausreichend und angemessen, zum Jubiläumsbeginn der Stadt sechs Wochen ein historisches Gewand überzustülpen. Ein üppiges Zeitfenster für Touristen, um an einem lebendigen Bild des spätmittelalterlichen Konstanz teilhaben zu können. Die Sache mit den Prozessionen könne man ja noch in Erwägung ziehen, aber wenn, dann nur jährlich.

Fred fragte sich, wie die Stadtväter und auch die -mütter so ein Jubiläum überhaupt organisieren wollten. Da waren die Querelen um Geld, Umfang und Historientreue fast nebensächlich. Der normale Konstanzer wollte und musste seinen Alltag bewältigen, war doch kein Komparse für japanische Fotoshootings.

 

Lächerlich. Soll wohl jeder Zweite im Sack rumlaufen und der glückliche Rest in Plusterhosen und Samtjacke?

Fred hatte keine Ahnung von mittelalterlicher Mode und keine Lust, auf die Annehmlichkeiten des 21. Jahrhunderts zu verzichten, geschweige denn von historientümelnden Menschenmassen umgeben zu sein. Da blieb er lieber hier in seiner Oase. Der See wäre dann sicher auch kein gesicherter Rückzugsort mehr.

Freds Nachen trieb zum Schweizer Ufer. Er nahm es als Fügung, wollte hier irgendwo ein Ufercafé aufsuchen, die „Zeit“ lesen. Kurz bevor er in Steckborn an einer geeigneten Anlegestelle sein flaches Fischerboot festmachen konnte, fiel ihm auf der Uferstraße ein rotes Cabrio auf. Nicht viel davon, der Winkel hoch zum Uferkai machte nur die obere Hälfe sichtbar. Aber die Frau, die drinsaß, sah er dafür umso besser. Blond, schön, irgendwie dynamisch. Ganz sein Geschmack.

Hatten ihm die wehenden Haare gewunken? Eine Sekunde später war sie vorbei.

Diese erste Begegnung zwischen Renie und Fred.

Nein. Die Zweite.

Sonntagmittag

Louis Armstrong fragte mit kratziger Stimme, ob es denn möglich sei, ohne „sie“ so angeturnt sein zu können, wie andere von „Champagne“, oder „Cocaine“. Das Klavier erzählte von einer swingenden Bar, einzelne Akkorde baten zärtlich zum Tanz nach dem zweiten Drink. Louis blickte lächelnd von den Tasten auf, strahlte Renie aus den Augenwinkeln an. Renies Hände tätschelten den Takt ins Lenkrad, sie liebte es, wenn sich ihrer Phantasie immer wieder die gleichen Bilder anboten. Irgendwie zuhause. Immer den gleichen Kuchen, die gleichen ersten Sätze zwischen Vater und Mutter, Neugier, „an welchem Objekt arbeitest du grade?“

Und kaum lief ihre Lieblings-CD, schnurrte der Mustang wie am Faden gezogen über die Straßen, tauchte Louis Armstrong vor ihr auf, nein, sie stand in der schummrigen Bar neben seinem Stutzflügel und klopfte mit den Fingern den Takt ins glänzende Holz.

Eindeutig der richtige Moment festzustellen, was für ein wirklich gelungenes Wochenende hinter ihr lag.

Die anderthalb Tage mit Marc zeichneten sich nicht gerade durch lange Schlafenszeiten aus - obwohl sie die Zeit hauptsächlich im Bett verbrachten. Meistens fielen sie gierig übereinander her, verloren keine Zeit mit unnötigem Blabla. Ein sauberes ungekünsteltes erotisches Verhältnis also.

„I get a kick out of you!“

Die letzte Zeile verklang, Anita O´Day setzte den Cole-Porter-Reigen fort. Renie glitt mit ihrem Mustang die Untersee-Uferstraße entlang. Nach Sankt Gallen hätte sie zwar auch die A1 nehmen können, aber „der Tag ist jung und schön, so wie ich“ - und schon schmunzelte sie über die eher männertypische Floskel. Die Sprache der Männer, die war ihr vertraut. Deren Gedanken und Wünsche ebenso. Manchmal kam frau eben besser ans Ziel, wenn ein kleiner Umweg in Betracht gezogen wurde. Der Mustang röchelte gerne gemütlich die Uferstraße entlang, er sog eben viel lieber die frische Seeluft in seine Vergaser. Von Fischingen über Frauenfeld nach Steckborn war es nicht gerade eine Weltreise.

Mit diesem Chef hatte sie das große Los gezogen und sie beabsichtigte nicht, sich diese Eroberung von irgendeiner aufstrebenden Newcomerin streitig machen zu lassen. Geschweige denn zu teilen.

Außer mit Marcs Frau und den zwei Kindern. Notgedrungen. Marc Lüti schien jedenfalls gelassen mit seiner Zweigleisigkeit umzugehen.

„Alles Routine“ antwortete er gestern Abend wie aus der Pistole geschossen, als Renie ihn darauf ansprach, wie er sich so problemlos regelmäßig in seine Berghütte absetzen könne. Schnell schob er noch ein versucht spitzbübisches Grinsen hinterher. Renie zuckte nicht zusammen. Illusion war nicht das Band, das sie zusammenhielt. Jammern auf hohem Niveau, das überließ sie den reichen Geizfamilien aus Deutschland, denen - interessanterweise mehr als den Schweizern - partout ein Seegrundstück in ihrer Vita fehlte, „...hatte sich mein Studienkollege doch kürzlich ein schlichtes Badehäuschen mit Seeblick erworben“. „Wir brauchen einfach einen kleinen Fluchtpunkt, verstehen Sie. Mein Mann hat ja soviel um die Ohren. Sie wissen, was ich meine?“

Ja, sie wusste. Ein Pfropf für Frau und Kind, Stein gewordenes Valium, Stillhalten mit Aussicht. Bis der viel beschäftigte Gatte nach den Wochenendbesprechungen oder Auslandstagungen mit Sekretärin in den gesellschaftsfähigen Schoß der Familie zurückfand.

Sie klagte diesen Geldklüngel mit seinen familiären Arrangements überhaupt nicht an. Erstens verdiente sie daran und zwar durchaus ausgezeichnet. Und zweitens? Naja, es gab einen nicht zu leugnenden Zusammenhang: sie lebte in ähnlichen Verstrickungen wie ein Teil ihrer Kunden.

Renie hatte die Absicht, das ganze Bodenseeufer zu erobern, zu vermarkten, zu versilbern. Ihre Strategien sollten einer Gelddruckmaschine für Lüti-Boden gleichkommen. Diese Maschine wollte mit Informationen, Ideen, Visionen gefüttert werden. Der Chef brauchte einen Jungbrunnen. Mit ihren 34 Jahren präsentierte sie ihm eine komfortable Mischung aus Profession und Phantasie. Als Projektleiterin und Geliebte fiel es ihr leicht, damit in beiden Bereichen zu glänzen.

Ihre Eltern - Renie war auf dem Weg zu Ihnen - waren vor Stolz nicht mehr zu bremsen. Wussten sie doch nur von der einen Hälfte des Engagements ihrer Tochter. Nicht jeden Tag schaffte es ein Mädchen aus Sankt Josefen, in einer der in der Wirtschaftswelt anerkanntesten Universitäten einen Studienplatz zu bekommen. Eine Menge Äcker hätte der Bauer verkaufen müssen, um die Uni zu bezahlen. Sie schaffte es irgendwie auch so.

Heute war ein guter Tag. Wie die meisten der gemeinsamen Wochenenden, an die sie gerne, aber ohne Sentimentalität dachte. Trockene Bässe verfingen sich in den straßensäumenden Kiefern des Wäldchens von Au bis Frauenfeld. Auch durch Fischingen dröhnte Nate Dogg. Verkündete seine Botschaft ungefragt in Sirnach, verfolgt von verständnislosen Blicken verschreckter Wanderer.

An der einzigen roten Ampel in Frauenfeld machten sie fünf Halbwüchsige an, die sicher täglich eine halbe Stunde vorm Spiegel standen, so akkurat waren die Bärtchen rasiert. Die Jungs groovten zu Nate Doggs Rhythmen brav über den Zebrastreifen, gierten aber zu Renie, als würden sie am liebsten zu ihr ins Cabrio springen. Das Paket hätte ihnen sicher gepasst: eine blonde Braut, ein roter Schlitten, schwarze Musik.

‚Und wovon träumt ihr nachts, Jungs?!’ dachte sie beim beschleunigen und ließ den Jungs nichts als ein kraftvolles Röhren des Motors zurück.

Sonntagnachmittag

Monoton brummte der Außenborder. Der hochgezogene Bug schnitt leicht durch die schäumenden Kronen. Unmerklich passierte Fred die Grenze zwischen der Schweiz und Deutschland. Ähnlich mühelos glitt seine Stimmung in gelassene Bahnen, sein Ärger verlor, verwirbelte sich in den Heckwellen.

Wie wohl das Wasser tat, wurde Fred erst nach vielen Tagen bewusst. In der Zwischenzeit ließ sich der See nicht beirren und arbeitete mit der ihm eigenen Wechselhaftigkeit weiterhin an Freds Wohlbefinden. Aufgewühlt, unstet, mindestens verärgert - so wäre Freds Verfassung zu beschreiben. Er musste sich regelrecht zwingen, zu entspannen. Zwei, drei Stunden in einem Schweizer Ufercafé zu sitzen, die eine „ZEIT“ lesen und die andere dabei verstreichen lassen war nicht gerade das, womit er sich meist beschäftigte.