Die Gabe des Erben der Zeit

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Trotzdem war es nötig, mit Karren, Wagen, sogar mit Schiffen Brot herbeizubringen, damit es den Bürgern nicht mangelte und die Preise nicht zu sehr stiegen. Die Bäcker vom Oberen Markt unterhielten hier im Schutz der Mönche ihre Backhäuser...“

Die Zeitung sank auf den Steg. Fred fühlte sich mitgenommen.

„Gut gemacht, Herr Historiker“, sagte er vor sich hin, „aber trotzdem, ein grässliches Leben dieses Mittelalter. Nix für mich.“

Für Fred war das alles zu eingeengt, zu ärmlich, zu sehr von Kirche und Fürsten dominiert. Er war gerne sein eigener Fürst – und dominierte gerne andere Menschen. Mit einem letzten, die damaligen Bürger bemitleidenden Lächeln schloss er das Kapitel Konstanzer Konzil für sich ab.

Daß Fred hier irrte, konnte er nicht ahnen. Daß es mit dem Mittelalter zu tun hatte, lag tatsächlich nicht auf der Hand. Daß im Haus etwas nicht mit rechten Dingen zuging, hätte er allerdings merken können.

Der Puls pochte im Finger. Fred schreckte auf. Hatte er geschlafen? Wie lange? Am Stuhlbein flatterte die Zeitung. Alles noch so wie vorher. Die Wunde tat verdammt weh. Bewegungslos saß Fred, einem Sommerfrischler gleich, auf seinem schäbigen Stuhl und lauschte diesem Gefühl.

Um so angenehmer empfand Fred nun die kühlende Brise vom See. Die Zeitung raschelte immer noch. Entspannt lehnte er sich im Stuhl zurück, schaute dem Wind entgegen und fuhr sich mit den Händen durch die Haare. Obwohl es nichts zu korrigieren gab. Die Locken saßen. Ein Vorteil der Kürze. Er betrachtete seine Hände. Gut, die könnten kleiner sein. Seit er 13 war trainierte er mit Expandern und einem Trainingsgerät der NASA, das angeblich auch in der Schwerelosigkeit funktionierte. Hier auf der Erde hielt es seinen Körper in Schuss.

Der See war gut für Fred. Wellen, nur Wellen, Wasser, wohin er schaute. Er schaute aber nirgendwo hin. Trügerisch. Keinen Augenblick blieb eine Welle gleich, jeder Tropfen, der sich einmischte, veränderte alles.

Licht, mit etwas Glück die Sonne, verwandelte sich in Reflexe, die von Wellenkamm zu Wellenkamm hüpften. All dies und noch mehr sorgte dafür: es gab keine Wiederholung.

Auch die Erinnerungen an seine Jugend waren keine Wiederholung, es waren einfach nur Erinnerungen – auch wenn sie ungefragt auftauchten. Wie die Ereignisse der letzten Tage. Sie mit dem Blick zum See noch einmal gezielt abzufragen, hatte nicht einmal den Schmerz in seinem Finger gelindert. Er war keinen Schritt, keinen Gedanken weiter gekommen.

Der Horizont interessierte ihn immer noch nicht, seine Augen fixierten stur weiterhin einen Platz weit im See und entwarfen auf der Netzhaut das schlichte Bild einer Welle. Einer Welle. Einer Welle.

Sein Reiz für die Wiederkehr des immer Gleichen wiederholte sich sogar im Brief des Vaters.

Mein lieber Alfred,

Ich könnt das Kotzen kriegen, ignorierst einfach meinen Wunsch, Fred genannt zu werden.

Es tut mir aufrichtig leid, nicht zu früheren Zeiten den Weg zu Dir gefunden zu haben. Sicher denkst Du von mir, daß ich ein alter, sturer Bock bin. Sonst hätte ich mich ja bei dir gemeldet.

Da hast du allerdings Recht.

Das Ärgerliche war, Fred konnte genauso stur sein. Mindestens.

Du bist jetzt allein und doch hoffentlich nicht. Was weiß ich schon von Deinem Leben, Deinen Gefühlen? Bist Du verheiratet, hast Du eine Freundin, oder hält es mit Dir Keine aus?

Zornig las er weiter, ein gelegentlicher Blick aufs Wasser verbesserte seine Stimmung auch nicht. Der handgeschriebene Text schabte mit jeder Zeile mehr an seinem Befinden. Nach einigen Sätzen spürte Fred, wie seine Gefühlslage völlig entglitt, unfähig, sich dem Sog des Briefes zu entziehen. Seine Magengrube zog sich zusammen, obwohl er kein Bauchmensch war, sein Wille blieb auf der Strecke, er konnte sich wehren, soviel er wollte. Diesmal also nicht. Diesmal bestimmte nicht er die Regeln dieses Spiels. Er konnte nur hoffen, nicht als Bauernopfer vorgesehen zu sein.

Ach Mensch, nicht schon wieder!

Laß Dich nieder. Freunde Dich mit Deiner Muttererde an. Vielleicht kriegst Du ein Gefühl dafür, was Deine liebe Mutter, meine über alles geliebte Vrenie an diesem Fleckchen Erde hinterlassen hat. Für mich blieben nur Trauer und endlose Vorwürfe, für Dich hoffentlich eine glücklichere Zukunft als es meine Vergangenheit sein durfte.

Kein Mensch auf dieser gottverdammten Welt benutzt dieses Wort Muttererde, ausgerechnet mein Vater kommt bei jeder passenden und nun unpassenden Gelegenheit damit an. Hat echt Talent, meine eh nicht beste Stimmung gründlich zu versauen.

Im Brief ein Absatz.

Er ließ Fred einen Augenblick Zeit, genügend Zeit, um eine weitere Welle zu betrachten, Zeit, an seine Mutter zu denken.

„Meine Vrenie“, so hatte Konrad Keller sie immer genannt, liebevoll ihren Namen beseelt, nicht nur um sich von den spröden Schwiegereltern zu unterscheiden, die ihre Tochter Zeit ihres kurzen Lebens Veronika nannten.

„Die Vrenie“, so hieß sie auch im Dorf. Sie war derart beliebt, da hätte man gern geglaubt, sie sammelte alle Sympathien in der Nachbarschaft ein, um sie für ihre Familie zu horten.

Konrad Keller war von einer Art... ja, er konnte es einem richtig schwer machen. Vielen im Dorf. Hier geboren und trotzdem zurückhaltend, wenn es um die Geschicke des Ortes ging. Eingebunden im Fischereiverein aber zugleich wortkarger Eigenbrödler. Ein begnadeter Fischer und ein Schnapsbrenner mit dem richtigen Riecher. Das reichte, um die Stubenwirtschaft lebendig zu halten.

Eines Morgens fiel Vrenie aus dem Boot und ertrank.

Die polizeilichen Untersuchungen brachten keine Zweifel. Ein Unglück, tragisch zwar, vor allem unter erfahrenen Fischern, aber leider kein Einzelfall. Das Resümee war zynisch: Fischer müssen mit der Tatsache leben, je länger sie auf den See hinausfahren, umso größer wird das Risiko, über Bord zu gehen und zu ertrinken.

Mit seinen neun Jahren bot Fred einen Anblick sprachloser Traurigkeit. Er brauchte lange, bis er verstand, daß seine Mutter nicht mehr auftauchen würde. Nicht mehr in seinem Leben, nicht mehr aus dem See.

Als Fred älter wurde, hielt er es der Einfachheit halber wie ein Großteil der Hörianer – er gab seinem Vater die Schuld. Daran, daß seine Mutter nur kurze Zeit in dieser Welt glücklich sein durfte.

Konrad musste schuldig gesprochen werden. Er hatte dem Kind die Mutter geraubt. Dieses Stigma ertrug Konrad, jeder Blick auf der Straße, in der Wirtschaft, markierte ihn, schwächte sein angebrochenes Herz.

Fortan fuhr der alte Keller nur noch selten raus, zog aus dem See, was der an Fischen hergab und hielt sich mit seiner Schnapsbrennerei und der Wirtschaft über Wasser. Verließ selten das Grundstück und behielt seinen heranwachsenden Sohn im Auge. Konrad Keller wollte ein besserer Vater werden, wenn er dem Jungen schon nicht die Mutter ersetzen konnte. Doch der Männerhaushalt stand unter keinem guten Stern, Alfred war von dem, was sein Vater Erziehen nannte, nicht begeistert. Anfangs stritten sie wenigstens noch, nach ein, zwei Jahren schwiegen sie sich nur noch an, sogar auf dem See. Am Ende gingen sie sich aus dem Weg.

Der alte Keller war nicht mehr in der Lage, die Hände, die sich ihm entgegen streckten, zu erkennen. Er suchte keine Hilfe für seinen streunenden Sohn, der um die Dörfer zog wie ein räudiger Hund. Es kam nicht einmal zu einem nachbarschaftlichen Streit, weil sie sich aus dem Weg gingen. Er verkroch sich in sein Haus. Hin und wieder kam ein größeres Paket. Den einen oder andern hätte es schon interessiert, was der Konrad ständig bestellte. Die Wirtschaft blieb schon lange leer. Kein Fischer, kein Spaziergänger, der beim Keller saß, um sich alte Geschichten anzuhören. Und neue gab es nicht.

Bis er an Herzversagen starb.

So stand es im Befund des Arztes.

Der See half Fred mit unaufgeregten Wellen. Er entspannte sich, seine Gedanken machten sich unbemerkt auf die Reise.

In Freds Erinnerung schoben sich die besänftigenden Worte des Notars. „Glücklicherweise musste Ihr Herr Vater nicht mehr leiden. Nach gewissenhafter Einschätzung des ihn untersuchenden Arztes trat der Tod wohl sofort ein.“

Die Sätze hatten ihn aber nicht beruhigt. Im Nachhinein hatte er sich gewundert, weil er sofort über das Wörtchen mehr gestolpert war.

„Glücklicherweise musste Ihr Herr Vater nicht mehr leiden.“

Musste er denn vorher leiden? Worin bestand das Leid, das man ihm, das er sich zugefügt hatte? 18 Jahre, Freds halbes Leben, fehlten die Versatzstücke aus Konrads Leben. Was hatte ihn beschäftigt? Suchte er Ablenkung in der Literatur? Das Boot war erstaunlich in Schuss. Hatte er sich jemals gefragt, wie es Fred ging? Warum hatte Konrad Keller die Zeit um die Testamentseröffnung so aufwendig inszeniert?

„...vielleicht ist es Dir vergönnt, liegt es in Deiner Bestimmung, was mir trotz aller Anstrengungen verwehrt geblieben ist...“

Ein bisschen klarer hätte er sich schon ausdrücken dürfen, auch wenn er mit mir seinen Spaß haben will.

Er hätte seinem Vater an die Gurgel springen können. Noch hatte er zwei Tage Zeit, das Erbe anzunehmen. Zeit, sich zu entscheiden, welchen Weg er gehen wollte.

Der Tod des Vaters hatte Fred zur Rückkehr an diesen Ort gezwungen. Eine ungewollte Reise in die eigene Vergangenheit.

Aber Fred wird sich jeden Tag aufs Neue wundern. Die Rätsel, warum er ruhelos schlafwandelte, werden zu unglaublichen Entdeckungen und Aufgaben führen. Fred war auf dem Weg in eine Zeit, die jenseits seiner Vorstellungskraft lag. Und jeden Tag, den das Haus, besser sein Vater, wohldosiert Geheimnisse preisgab, tat er einen großen Schritt in eine ganz andere Vergangenheit.

 

Vier Häuser vor dem Ende der Sackgasse parkte ein roter Wagen.

Die Frau behielt die grünen Espandrilas an, die sie während der Autofahrt trug. Flach mussten sie sein, um den Widerstand des Bremspedals zu brechen, das sie ungern benutzte. Der 68-iger Mustang fuhr mit Automatic. Ersparte ihr immerhin zu kuppeln.

Fred bemerkte sie nicht. Er hörte nichts, registrierte nicht die Toncollage, die aus monotonem Wasserklatschen an seiner Hauswand, dem knarzigen Kieselsteinweg und den vereinzelt lachenden Möwen entstand.

Sie schlich sich nicht an, hatte keinen Grund, ihr Anliegen zu verbergen. Eine Objektvisite, ganz normal, so normal, sie hielt es nicht einmal für nötig, die zum Kostüm passenden Stilettos anzuziehen. Ihr grasgrüner Rock hatte genau die Länge, die ihre schlanken Beine gut zur Geltung brachte und doch mit einer Handbreit über dem Knie seriös genug war für einen Antrittsbesuch bei einem potentiellen Verkäufer. Gemeinsam mit der seidigen, senfgelben Bluse, die dezent ihre festen Brüste betonte, vermittelte Renie den Eindruck, den sie vermitteln wollte: zu diesem Ambiente zu passen, als gehörte sie seit ewigen Zeiten dazu.

Sie berührte den Griff der Gartentür. Da bemerkte sie den Mann, der am Steg saß. Ein schönes Bild irgendwie, dachte sie. Das Schilf, auf die Hilfe des Windes angewiesen, um dem Mann näher zu sein, um im nächsten Moment wieder fortgerissen zu werden. Die Wiese, deren Gras sich selbstbewusst gegen bestimmt ein Dutzend Blumensorten stellte, aufrecht und ohne Spuren, als hätte der Seesüchtige niemals einen Fuß auf diese Erde gesetzt, um seinen Weg zu gehen.

Minutenlang wartete sie so, aus einem unerfindlichen Grund nicht in der Lage, in diese Szene eindringen zu können. Diese andere Seite vom Zaun war anders. Als romantisches Klischee wollte sie es abkanzeln, ertappte sich aber dabei, wie ihr das Bild mehr und mehr gefiel. Dieser gewöhnliche private Kosmos eines Menschen, der ruhig und zeitlos verdammt weit weg von allen Turbulenzen des Alltags schien. Der Glückliche.

Mit ihrem Blick über den Zaun, ihrer Hand an der Tür war die Zeit irgendwie stehengeblieben. Es muss Minuten gedauert haben, bis sie eine Möwe im Tiefflug durch einen Flügelschlag zurück holte. Für den Bruchteil einer Sekunde deckte der Vogel die Sonne ab, der Schatten auf ihrem Gesicht veränderte die Wahrnehmung. Die Hand schmerzte. Sie hielt die ganze Zeit den Türgriff gedrückt, auf dem Sprung, den Moment der günstigsten Gelegenheit nicht zu verpassen.

Renie drehte sich weg, die Zuschauerin wurde wieder zur Strategin. Heute würde sie ihn nicht stören, wenn es denn für ihn überhaupt als eine Störung hätte empfunden werden dürfen, von ihr besucht zu werden. Irgendetwas sagte ihr, bei ihm müsse sie anders vorgehen als sonst. Und auf ihr Gespür konnte sie sich verlassen. Bloß, wie?

Minuten später blieb von dem Mustang nicht mehr, als ein paar Tropfen kondensierten Wassers aus dem Auspuff.

Und die Erinnerung eines Schattens.

Samstagabend

Gleichmäßig strömte der Fahrtwind über die Windschutzscheibe, verzettelte sich kurz in Freds Haaren und beruhigte sich hinter ihm wieder zu dem lauen Lüftchen, das sich nur gelangweilt hatte, bevor der Saab Unruhe stiftete. Gemächlich steuerte Fred sein Cabrio durch die Dörfer, wollte irgendwo einkehren. Einfach anhalten, wo es ihm gefiel. Er hatte Hunger. Es war Samstag und seine Lust zu kochen verschwunden. Geschmacklos renovierte Wirtshäuser versuchten ihn zu locken. Es trieb ihn weiter. Auch aus dem nächsten und ebenso aus dem übernächsten Dorf hinaus. Die Landschaft war zu schön, zu reizvoll. Wohltuend langgezogen fügten sich die Kurven in diese sanften Hügel, die in der Nähe Abwechslung erzeugten, aber doch bescheiden genug waren, die Versprechungen der Ferne nicht zu verdecken. Rechts lag der See, zumindest das Stückchen, das von der Höri aus zu sehen war. Ein schmales, silbriges Schwert, das die fernen Berge auf sichere Distanz hielt zu den Rundungen des Weide- und Obstlandes, deren zartes Grün jeden Blick weiter gleiten ließ, ohne ihn abrupt durch eine zu wuchtige Felskante stolpern zu lassen.

Eine Ansammlung stattlicher Bäume auf einem entfernten Hügel machte ihn neugierig. Störend im Gesamtbild, unverschämt selbstbewusst in den tiefblauen Samstagabendhimmel aufragend. Verbarg sich da vielleicht ein Gebäude? Einen Gedanken später hoffte Fred, es möge ein Gasthaus sein, das sich mit dieser exponierten Lage schmückte. Und dann auch noch Birken.

„Meine Lieblingsbäume“, verriet er dem zauselnden Wind, der nichts Besseres zu tun hatte, als das Geheimnis auf der zurückbleibenden Wiese für den zu erwartenden Morgentau zu verteilen.

Der Schotter der Auffahrt knirschte unter den Rädern. Wohlbehütet von vier riesigen Birkenstämmen fügte sich das Haus in den ihm zugewiesenen Platz. Der schöner nicht sein konnte. Schon der Parkplatz protzte mit einem Ausblick, der mancher Villa gut gestanden hätte. Und der Weg zur Terrasse, von deren Seite das Haus betreten werden wollte, ließ Fred staunen. Konnte der See innerhalb weniger Minuten sein Gesicht so verändern? Arg kitschig meinte es die Sonne, kratzte mutig ein loses Band schmaler Wolken, durchdrang mit starken Fingern die Fugen und warf ein enorm großzügiges Muster des Himmels auf die endlose Landschaft. Er hörte die Stille. Und seinen Magen.

GASTHAUS FERNBLICK

versprachen die dicken, roten Lettern über dem Eingang.

Wie sinnig.

Lebkuchenbuchstaben fielen ihm ein. Und Hexenhäuschen. Von einigen Buchstaben blätterte die Farbe, als wären sie unaufmerksame Minuten zu lange im Backofen geblieben.

„Hoffentlich sieht die Küche nicht genauso aus“, vertraute er seinem Schatten an.

Mit einem flüchtigen „Grüß Gott!“ hieß ihn die Frau hinterm Tresen willkommen, ohne von ihrem Weizenbierglas aufzuschauen, welches sie akribisch polierte. Fred stand zwischen Tür und Angel, er war nicht sicher, ob er sich einfach irgendwohin setzen oder besser fragen sollte.

Links neben der Tür beanspruchte der Schanktresen ein gehöriges Stück Raum. Ein Quader aus rotbraunem Holz mit einem Flachdach aus gebürstetem Blech und eingelassenem Spülbecken. Sofort spürte er die beruhigende Atmosphäre, die dieses wuchtige Möbel ausströmte.

Sicher einiges älter als ich.

Tische und Stühle waren aus dem gleichen Holz, auf den Tischen zu kleine, spitzengesäumte Decken. Ein Eindruck anständiger Bescheidenheit. Dann fielen ihm die Säulen auf.

Ungewöhnlich. Passen eher in eine Fabrikhalle.

Auf den verschnörkelten Gusseisensäulen ruhten dicke Balken. Der Raum erhielt dadurch eine angedeutete Gliederung in offene Parzellen.

Wahrscheinlich haben sie die Wände rausgerissen, damit´s größer wirkt.

Eine Menge kleiner Fenster in den zwei Eckwänden verstärkte den gemütlichen Eindruck und gaben Freds Beobachtungen Recht. Eine breite Doppeltür zur Terrasse, schmale, unnötige Vorhänge, weißer Kalkputz.

Neugierig ging er ein paar Schritte auf den Wandschmuck zu. Ein Sammelsurium von Fotografien, aufgehängt wie eine Ahnengalerie, die meisten offensichtlich aus dem gleichen Jahrzehnt. Unterwasseraufnahmen von Fischen in tollem Licht, daneben Schiffswracks, grafisch gut aufgebaute Bilder, Silhouetten von gegen den überbelichteten Himmel fotografierten Fischerbooten. Alles aus der Taucherperspektive. Ein eigenartiger Ort dafür.

Das sieht nach mehr als einem Hobby aus. Da hat jemand eine Passion.

„Setzen´s sich hin, wo´s woll´n. Is überall schee. Vielleicht do, grod links am Fenster, hams an schöna Ausblick.“ Die Wirtin riss Fred unsanft aus seinen Beobachtungen – die sie als Unschlüssigkeit deutete - und trocknete das nächste Glas.

„Sie haben so eine wunderschöne Terrasse, da würd ich gerne sitzen.“ Mit erfolgsgewohnter Klarheit trug er seinen Wunsch vor. Auf dem Weg zur Glastür bremste ihn die Wirtin.

„Geh hörn´s, wir habn noch gar net g´wischt draußn, und keine Deck´n sind gebügelt.“

Schmal und abgearbeitet war die Alte, aber ihre Worte versperrten Freds Weg wie eine Mauer. Er zögerte kurz, Widerspruch war er nicht gewöhnt, kramte aber schnell zusammen, was er für diesen Fall für nötig hielt.

„Ich bin net aus der Gegend, wollt halt die Aussicht und die gute Luft genießen. Etz tun´s mer halt den G´fallen.“ Als nächstes würde der Gast womöglich ein Bierglas greifen und um sein Leben polieren. So weit wollte es die Wirtin nicht kommen lassen.

Mit einem stimmlosen „In Gott´s Namen“ entließ sie ihn.

Die Stühle waren nicht angekettet.

Das gibt´s auch nur noch auf der Höri.

Fred war schnell eingenommen von dieser Oase - er spürte nicht mal, wie entspannt er tatsächlich schon war, wie die Gedanken durcheinander sprangen, von einem unwichtigen Thema zum nächsten. Es war ihm leicht gefallen, die Sprache der Wirtin aufzugreifen, obwohl er sehr bewusst damit umgegangen war. Hätte auch schiefgehen können.

Hier war die Welt noch in Ordnung - abgesehen von, vielleicht auch wegen ein paar Menschlichkeiten.

Ungeduldig wartete er auf die Bedienung und beobachtete die ziehenden Wolken. Bis ihn eine Engelsstimme auf die Erde zurückholte.

„Grüß Gott! Möchten Sie schon was zum Trinken?“ Es war die Bedienung, kein Engel. Mit einem unaufdringlichen Lächeln legte sie die offene Speisekarte auf den Holztisch.

„Äh, ja, doch.“ Und als ob die Speisekarte helfen könnte, sich zu sortieren, schaute er hin und her und wieder hoch zu ihr. „Ein Radler bitte.“

„Gerne.“ Damit ließ sie ihn allein.

Unterschiedlicher kann Personal ja nun wirklich nicht zusammengestellt sein.

Sein geschultes Auge konnte er nicht in Urlaub schicken. Und schon war die Unruhe zurück. Ein flottes Wesen, das ihn da bediente. Und Engel, Engel waren ab sofort dunkelhaarig, mit Locken, die sich kräuseln wie die Bodenseewellen bei Sturmwarnung. Ein guter Tag zum Balzen.

Mara hatte ihn erkannt. Nachdenklich mischte sie das Radler. Was wollte er hier? Nach all den Jahren. Sie hatte ihn vergessen, irgendwann, endlich. Nach langer Zeit und vielen versteckten Tränen.

Auf dem Bootssteg waren es Freudentränen. Fred konnte echt komisch sein. Fast wäre sie ins Wasser gefallen, aber er wollte und wollte nicht aufhören. Sie war extrem kitzlig, das wusste er doch und sie wusste nicht, ob sie weinen oder lachen sollte. Er war wieder zu ihr zurückgekommen. War es das zweite Mal, oder das dritte Mal? War sie ihm zu jung mit ihren 16? Immerhin war er zwei Jahre älter. Angeblich hatte er grade was mit einer verheirateten Frau aus dem Nachbarort, genau wusste das natürlich niemand, aber das Maul haben sich einige aus ihrer Clique trotzdem darüber zerrissen. Sollen sie doch. Sie wollte es gar nicht so genau wissen. Heut Nacht war er bei ihr.

Sie saßen am Bootssteg beim Haus seines Vaters, erfanden die Welt neu und spuckten um die Wette Kirschkerne in den See. Der Mond hatte ein Einsehen, beleuchtete den romantischen Flecken und die Kreise, die die Kirschkerne hinterließen. Es war seelenruhig, das Schilf raschelte vertraut, Fred wühlte in ihren Haaren, langsam kippten sie auf den Steg und küssten sich. So konnte es ewig weiter gehen.

Plötzlich hörte er auf und suchte aus dem Korb ein besonders schönes Kirschpaar. Frech hielt er es vor ihren Mund, ließ sie aber nicht zuschnappen, sondern hängte es an ihr Ohr. Sie lachten, genossen die Situation, kicherten wie kleine Kinder, boxten sich sachte, als wollten sie sich gegenseitig vom Steg stoßen. Fred näherte sich knurrend wie ein Raubtier und knabberte das Kirschpaar vom Ohr, was Mara mit kleinen „Hilfe, Hilfe“ -Schreien begleitete.

„Ich hab endlich ne Sitzbank gefunden. Kann ich morgen abholen. Originalrot. Kommst mit?“ Fred legte seinen Arm um Mara, sie spürte seine Kraft – und seine Leidenschaft für sein Moped. Er sprach ja nicht viel, aber darüber gern. Es war ein Glückskauf, 750 Mark musste er hinlegen für die KS 80. Der Typ wollte mehr rausschinden, „ist schließlich garantiert eine der Letzten“, meinte er.

 

„Das war aber vor acht Jahren“, antwortete Fred. Damit war das Verhandlungsgespräch beendet. Dessen Mutter wollte ihn nicht weglassen, noch ein Stück Kuchen, noch eine Cola und wie nett er doch sei und überhaupt ist das Motorrad ja jetzt in guten Händen. Ja, das war sie, die Zündapp. Er hatte noch keinen Führerschein, dafür eine KS 80 Super. War aber noch nicht ganz das, was er wollte.

Sein Traum - wenn er zurückdachte, war das zu der Zeit tatsächlich einer seiner wenigen Träume, den er hatte und stur verfolgte. Bis er erfüllt war. Er wollte eine KS 80 Sport. Davon wurden aber nur 500 Stück gebaut. Bis die Japaner den deutschen Mopedherstellern vollends die Luft abdrehten und auch die Marke Zündapp die Fabriktore schließen musste. Fred fand keine ‚Sport’, nicht zu dem Preis, den er hätte bezahlen können. Also beschloss er, einfach eine der weitaus gängigeren ‚Super’ umzubauen.

Zwanzig Wochenenden beim Abschleppdienst steckten da drin, selbst verdientes Geld. Das wenige Taschengeld vom Vater reichte grad so für Zigaretten und einmal im Monat eine Flasche Bacardi. Die dazugehörige Cola ging nebenher. Bis zum Sommer hatte er die Maschine zweimal zerlegt, die von einigen Stürzen verschrammten Blechteile wieder ausgebeult und lackiert. Er musste sowieso alles neu lackieren. Die Bauteile der Modelle waren zwar gleich, aber Verkleidungen, Schutzbleche und Tank waren Blau, die Alugussfelgen Silber. Die weiß zu spritzen, ohne daß es nach Pfusch aussah machte ihn fast wahnsinnig. Noch schwieriger würde der Tank werden, das ahnte er. Zweifarbig rotschwarz, mit einem dünnen weißen Streifen dazwischen. Der Streifen musste auf der Höhe der Sitzbank ansetzen und schräg nach vorn bis zum Wasserkühler laufen. Er hatte es hinbekommen, sah richtig gut aus.

Das waren Wochen, da hatte Fred keine Fingernägel mehr, sondern schwarze Krallen und Schmiere in den Fingerfalten, die es nicht lohnte, nur für die Schule ständig zu schrubben.

„Sehen doch morgen eh wieder so aus“, war sein einziger Kommentar, wenn der Vater zufälligerweise auf sein Äußeres einging. Fred vermisste nicht einmal ein Lob seines Vaters, immerhin hatte er in monatelanger Arbeit einen Modellumbau geschaffen, der nun glänzend vor ihm stand. Er war dermaßen stolz auf sich.

Über 200 Mark musste er noch für Sprühlack, einen schärferen Vergaser und die Sitzbank hinlegen. Der Vorbesitzer hatte sich glücklicherweise schon die originale Sebring-Auspuffanlage der ‚Sport’ an seine ‚Super’ gegönnt. Diese Investition konnte er sich also sparen.

Eigenartigerweise gab er mit dem Sport-Auspuff bei den Mädchen mehr an als bei den Jungs. Als ob er bei ihnen mehr Sachverstand voraussetzte und glaubhaft machen konnte, mit der Anlage und den 10 PS 115 Sachen drauf zu haben. „Normal läuft die 80, aber was ist schon normal?“

Träumend fuhren sie dem frühen Morgen entgegen. Die kalte Nacht hielt sie wach. Es gab so eine Stunde auf der Höri, da schienen sich die Geräusche aus dem Weg zu gehen. Kein bellender Hund, keine krächzenden Vögel, noch kein wichtigtuerischer Hahn. Der einzige Wind, der zu spüren war, war der Fahrtwind. Mara klebte an Freds Rücken, die Arme fest um ihn geschlungen. Mit Fred verstand sie sich sprachlos, ihr Körper war sein Körper, der das Moped in die Kurven drückte, bis die Fußrasten auf der Straße schleiften.

Fred hatte ihr von einem Kumpel mit großer Klappe erzählt, ganz cooler Typ und so. Saß hinten drauf und hätte fast einen Unfall provoziert.

„Der Typ hatte Angst, daß wir umkippen und hat sein Gewicht immer auf die andere Seite wie ich gelegt. Ich kam schier nicht durch die schnellen Kurven. So ein Idiot.“ Er musste lachen, als er dran dachte. „Der hat´s bis in die Steinzeit verschissen, das sag ich dir.“

Mara lachte ihn aus. „Die Steinzeit liegt aber in der Vergangenheit und nicht in der Zukunft“.

Fred schaute sie an, wie nur er es konnte. Kein ausbüchsen möglich. Und antwortete mit einem geheimnisvollen Unterton:

„Wer weiß?“

Mara haderte. Das Bier schäumte. Zu groß war der Druck, den sie ins Glas leitete. Langsam setzte sich der Schaum. Wenn sie jemand heut früh gefragt hätte, ob sie sich aus dem Stand an ihren untreuen Fred erinnern könnte, ins Gesicht hätte sie dem gelacht und den Vogel gezeigt. Nun stand sie da und wunderte sich über sich selbst. Als ob über all die Jahre ein Bodensatz Fred in ihr erhalten geblieben war, auf dem sie ihr Leben aufbaute. Dabei war es definitiv nicht so. Was sollte sie tun? Sollte sie sich zu erkennen geben, möglicherweise erinnerte er sich ja von selbst, wenn er sein Essen bestellte? Auf dem Weg nach draußen fiel ihr eine dritte Möglichkeit ein.

„Der Wurstsalat auf Ihrer Karte, machen Sie den selbst?“ Fred wollte auf Teufel komm raus ein Gespräch anzetteln, mehr als nur seine Bestellung abgeben, mehr als zehn Sekunden dieser Frau ergattern.

„Der ist nicht nur frisch, den macht meine – äh - den macht die Chefin höchstpersönlich.“ Freundlich wie immer, aber unsicher wie selten, was Fred nicht beurteilen konnte, antwortete sie. Mara konnte mit Gästen umgehen, die öfters aufdringlich auf sie einredeten, wenn mehrere Seidel Bier in den durstigen Kehlen verschwunden waren.

„Dann nehme ich eine große Portion. Aber nur, wenn ich Bratkartoffeln dazu bekomme.“ Wenn Fred jetzt neben sich sitzen könnte. Würde sich wundern, über diesen Ton, der hinter dieser Forderung steckte. Ein Ton, den er normalerweise nur anschlug, wenn das Gegenüber nicht mehr zu fremd war – oder er mehr wollte.

‚Er hat keine Ahnung’, dachte Mara und bevor sie antworten konnte, plapperte Fred weiter.

„Und wenn ich fragen darf, ist auf diesem wunderschönen Fleckchen Erde immer so wenig los?“ Fred verwies mit großer Geste auf diese, seine Oase, stoppte seine Hand direkt vor Mara und beendete die ausladende Bewegung in der Form eines Regenbogens.

„Sie sind zu früh.“ Längere Sätze wollten aus Maras Mund nicht raus. Sie schluckte runter, daß er eigentlich zu spät dran war, viel zu spät. ‚Und auf dein anbaggerndes Gesülze steh ich auch nicht mehr’, dachte sie schnippisch, aber auch: ‚was Du kannst, kann ich schon lange’.

„Möchten Sie die Bratkartoffeln mit oder ohne Speck?“

„Am liebsten mit allem.“ Fred bot einen ganz und gar wertfreien Blick dazu, damit die Empfängerin nicht gleich auf die Idee kam, dem unverschämten Gast mit einer Ohrfeige zu antworten.

Sollte er sein Spielchen haben. „Das dauert aber ein Weilchen.“

„Macht nix. Ich hab Zeit.“ Zum Beweis, den er niemandem schuldig war, streckte er seine Beine noch weiter unter den Tisch und lehnte sich demonstrativ an die Wärme abstrahlende Hauswand. Ja, man könnte sagen, er genoss die Situation.

„Was schwätzt denn so lang mit dem Kerl da drauß´n, der so tut, als möcht er aus der Gegend sei?“Hedwigs bissige Worte begleiteten Mara auf dem Weg zum Tresen, wo sie außer dem Essenswunsch des Gastes nichts zurücklassen wollte.

„Ach nix weiter. Ich dacht, es hätt ein früherer Klassenkamerad sein können.“ Sie legte den kleinen Bestellzettel auf eine trockene Stelle vom Tresen und fuhr sich so beiläufig wie möglich durchs volle Haar. „Aber ich hab mich getäuscht.“ Das „schon wieder“ behielt sie lieber für sich.

Fred brauste durch die Dunkelheit. Er war wütend. An den Bratkartoffeln lag es nicht, da hätte er sich reinlegen können, so aromatisch war die Balance zwischen Kümmel, einem Hauch Majoran und dem frischen, nicht hart gerösteten Speck. Und erst der Wurstsalat. Zum Teufel! Er kam nicht drauf, welchen milden, fruchtigen Essig Maras Chefin benutzte, der so eine dominante, aber leichte Säure hatte. Da war bestimmt kein Gramm Zucker nötig, um ausgewogen und bekömmlich zu schmecken. Das Öl schien vorgewärmt, gab einen zarten Glanz auf die Schwarzwurst und zog nussig in seine Nase. Raffiniert. Hätte er dieser Gegend doch eher ranziges Öl und dreimal aufgewärmte Bratkartoffeln zugetraut.