Die Gabe des Erben der Zeit

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Samstagmittag

Nur von einer Wolldecke geschützt, hatte Fred den Rest der Nacht auf der Bank in der Wirtsstube verbracht, den Kopf ungepolstert auf dem rohen Holz. Es war aber nicht die unbequeme Lage, die ihm zu schaffen machte.

„...hinterlasse ich Dir als Allerwichtigstes ein moralisches Erbe...“,

Fred versuchte, sich bequemer zu legen. In seinem Hirn kreisten Satzfetzen.

„...vielleicht ist es Dir vergönnt, liegt in Deiner Bestimmung, was mir trotz aller Anstrengungen verwehrt geblieben ist...“

Er konnte es sich nicht erklären. Drei Wochen waren vergangen, drei Wochen, die ihm sein toter Vater aufgezwungen hatte. Er fühlte sich ausgelaugt, überfordert. Nicht, weil es zuviel zu tun gab an diesem Ort, den er vor Jahren fluchtartig verlassen hatte, sondern weil er kein Gefühl dafür bekam, was er überhaupt tun konnte. Was er tun konnte, um dieses Warten zu beschleunigen. Er hätte sich auch gar nicht beschäftigen müssen, nur verstanden hätte er gerne, warum diese drei Wochen bis zur Testamentseröffnung sein mussten.

Dabei hatte alles so einfach ausgesehen, als er vor der verschlossenen Tür seines Elternhauses stand.

Vorübergehend geschlossen!

So heruntergekommen, wie das Schild aussah, hing es nicht erst an der Tür zur Besenwirtschaft, seit der Vater tot war.

Nun stand er da. Für drei Wochen an den Bodensee genötigt.

Schönes Fleckchen Erde, ruhig, zugegeben. Sicher nicht billig. Trotzdem wär ich lieber dabei, wenn meine Küche renoviert wird.

Diese Aufgabe hatte er notgedrungen seinem Freund Paul übertragen. Wenn man schon mal einen Architekten zum Freund hatte. Fred verstand nicht, warum er drei Wochen im Haus seines Vaters bleiben sollte, bevor der Notar das Testament öffnen würde. Er hatte keine Erfahrung mit Sterbefällen, aber mehr als eine Woche konnte das doch nicht dauern.

Den Vater unter die Erde zu bringen, war noch einfach. Fred musste nur anreisen, am Grab stehen und sich von zwei Dutzend Dorfbewohnern die Hand schütteln lassen. Er hatte nun nicht gerade erwartet, bei der Beerdigung seines Vaters das ganze Dorf ums Grab versammelt zu sehen, aber es reichte nur zur Ortsgruppe des Fischereivereins und einigen nahen Nachbarn. Zu den wichtigen Honoratioren hatte er offensichtlich nicht mehr gehört.

Die Behördengänge hatte der ihn kontaktierende Notar Falkenstein – Gunnar von Falkenstein, genaugenommen – übernommen und so sah es anfangs nach einem zähen, aber schmerzlosen Aufenthalt aus. So schmerzlos wie in der Familie seit langem mit persönlichen Angelegenheiten umgegangen wurde.

Im Moment erinnerte er sich an die letzten drei Wochen nur ungern, gerade weil durch die gehörige Portion Restalkohol die rational kaum zu greifenden Ereignisse noch absurder erschienen.

Die zwei Stunden gestern bei Doktor Falkenstein ließen allerdings die Wartezeit in einem anderen Licht erscheinen. Der Notar zelebrierte die Testamentseröffnung. Fred sank gleich immer tiefer in den gepolsterten Sessel, aber nach und nach wurde er doch aufrechter und angespannter. Im Leben hätte er das seinem Vater nicht zugetraut. Nun war er tot – und forderte einiges mehr.

Fred lag also auf seines Vaters Bank und war nicht ganz bei sich. Sein Blick versickerte in der dunklen Zimmerdecke, wo es glücklicherweise nichts, aber auch gar nichts zu entdecken gab. Durchs offene Fenster drang Möwengeschrei, ansonsten das fortwährende Rauschen des Sees, das zu diesem Flecken Erde gehörte, wie das Knistern zum Kaminfeuer.

Könnte die Bank sprechen - die Gelegenheit so nah an Freds Ohr war günstig wie nie - sie würde einige der Vorurteile revidieren, die Fred gegen seinen Vater hegte. Ach was, das ganze Haus könnte ein Lied davon singen. Aber Fred pflegte sein Vorurteil: alles, was von seinem Vater ausging, war abzulehnen. Seit damals, zu der Zeit, als Konrad Keller versuchte, seinem Sohn ein guter Vater zu sein - und sich doch mehr und mehr in seiner Einsamkeit einrichtete.

Der frühe Tod seiner Frau hatte ihn mit einem Schlag vom Leben abgeschottet. Fred war neun, Vrenie Keller 35. Sie starb bei einem Unfall auf See, eine Geschichte, die lange nicht erzählt werden durfte. Als die Mutter noch lebte, sprach Vater Keller öfters von dem harmlosen Begriff Muttererde, der für ihn beschreiben sollte, wo man gefälligst zuhause war, wo man sich wohlfühlen durfte und die schönste Zeit seines Lebens verbrachte.

Doch mit der Zeit zerschliss das Wörtchen Mutererde mehr und mehr. Es fand sich als Ausrufezeichen hinter allen faden Begründungen. „Muttererde“ erklang, wenn es darum ging, geduldig und zäh die kargen Jahre zu ertragen, die über sie hereinbrachen, unerwartet wie ein Heuschreckenschwarm für das Maisfeld. War es wirklich so unerwartet? Fred lebte in den Tag hinein und konnte seinen Lerneifer gerade so lange auf Trab halten, bis er das Abitur hatte.

Die Tage häuften sich, an denen er sich so störend wie Verkehrslärm und so unnötig wie Bodennebel vorkam. Stundenlang am heimischen Steg sitzen und die Füße ins Wasser baumeln lassen mochte er am liebsten. Irgendwann ging ein Ruck durch Fred. Der bis zu diesem Zeitpunkt auf den Namen Alfred hörte.

Was diesen Ruck verursachte, war niemandem in seiner Nähe klar. Nicht den paar Freunden und schon gar nicht den Nachbarn, die ihn kaum mehr als vom Grüßen auf der Straße kannten. Fred war ab sofort sein Name. Auf nichts sonst würde er mehr hören. Alfred! Wie klingt das schon? Altmodisch. Schwerfällig. Unauffällig.

Es war August. Seit einigen Monaten stand ein generalüberholtes Moped im Geräteschuppen. Er war gerade 16 geworden und alles sollte anders werden.

Nach außen hin blieb er unauffällig und irgendwie träge. Auch als Fred. Aber irgendwann war er so gern gesehen wie die Myriaden Sommerfliegen an stumpf leuchtenden Straßenlaternen, die an den zahlreichen Sackgassen standen, an deren Enden sich hinter akkurat beschnittenen Ligusterhecken ordentliche Wohnhäuser duckten. Fred duckte sich nicht mehr. Nie mehr wollte er Rücksicht nehmen – das wurde sein Motto. Im gleichen Maß wie sich der Vater, vergrämt durch den Verlust seiner Frau, immer mehr aus dem in so einer kleinen Gemeinde lebenswichtigen Dorfgeschehen zurückzog, wandte sich der Sohn den Dorfbewohnern zu, allerdings nur den weiblichen.

Raste mit seiner Zündapp über die Felder, düngte die Dorfstraßen mit dem Gestank des Zweitakters und dem Lärm der getunten Auspuffanlage. Es fiel ihm leicht, jungen Mädchen nicht nur das Herz zu brechen, sondern sie auch noch mit allem Charme, den man ihm nicht absprechen konnte, von ihren Freunden loszureißen. Zumindest für kurze Zeit. Er war oberflächlich, gedankenlos, rücksichtslos. Er kümmerte sich nicht um die Konflikte, in die er die Mädchen stürzte, wenn sie ihre Freunde betrogen. Er war der Überzeugung, sie wollten es, sie wollten ihn.

Dunkel gelockt und grünäugig wie er war, zerstörte er rücksichtslos einige frische Beziehungen. Nur die Mädchen, die überhaupt nicht seinem Schönheitsideal entsprachen, hatten Glück – und blieben verschont.

Es schien, als hörte man weithin erlöstes Aufatmen, das wellenförmig durch Hemmingen schob: „Fred verschwindet!“ „Fred zieht weg.“ „Zum Bund!“

Die Welle hatte eine selbstreinigende Wirkung. Im Dorf kehrte Ruhe ein, zu lange hatte sich der flotte Fred auf einem Trampelpfad bewegt und Wut und Tränen rechts und links seines Weges hinterlassen.

Fred war weg. Es wurde aber auch Zeit.

Gut möglich, daß ihm die eine oder andere weibliche Person mehr als eine versteckte Träne nachweinte.

Fred weinte nicht, genauso wenig wie sein Vater. Die Wehrdienstzeit in Grafenwöhr hatte sich längst angekündigt. Bis zu diesem Tag waren sie sich nicht gerade aus dem Weg gegangen – sie gingen einfach weiterhin ihre eigenen. Hin und wieder half Fred seinem Vater, hängte die Netze zum Trocknen auf, wusch die Fischkästen, tankte das Boot. Die eigentliche Arbeit, morgens um vier auf dem See Netze einholen, Fische ausnehmen und gleich verkaufen, überließ er ihm. Damit wollte er nichts zu tun haben. Am Wochenende schlief er bis mittags, schraubte an seinem alten Moped rum, fuhr durch die Gegend oder machte sich an ein Mädchen aus dem städtischen Gymnasium ran. Samstags arbeitete er für sechs, sieben Stunden bei einer Abschleppwerkstatt, verdiente sich einen Fünfziger für sein Moped.

Konrad Keller schien jeden Tag beweisen zu wollen, daß er ohne seinen Sohn zurecht kam. Fred Keller ließ jeden Tag spüren, daß ihn nicht einmal das interessierte. Er bahnte sich also an, der kurze und schmerzlose Abschied. Ganze drei Koffer mit Kleidung und einen Sack voller Erinnerungen stopfte er in den Kofferraum. Immerhin fuhr ihn sein Vater zum Bahnhof. Der alte RO 80 war das einzige, worauf Konrad Keller stolz war. Allerdings hätte Fred wegen dieses Stolzes fast den Zug verpasst. Der verdammte Kofferraumdeckel klemmte mal wieder. Es war eine Flucht mit Hindernissen. Der Beginn einer Reise, einer Suche, die Fred nach der Bundeswehrzeit zur Kochlehre in ein elsässisches Lokal trieb, bis er nach mehreren Stationen in Bacharach endlich ein eigenes Restaurant übernahm, um es exakt seinen Vorstellungen anzupassen.

Fred arbeitete viel und „zielführend“, wie er gerne sagte. Nie bestand die Gefahr, zuviel Gefühl könnte seine Entscheidungen beeinflussen. Die traf er rational und stets auf seinen Vorteil bedacht. Im geschäftlichen Leben sorgte diese Haltung für stabile Verhältnisse, sein Lokal blieb ihm treu. Im privaten Leben gab es aus genau den gleichen Gründen kein stabiles Verhältnis, er war den Frauen nicht treu. Oder sie wollten zuviel Gefühl.

 

Und hier, zurückgekehrt an den Platz seiner Jugend, dachte er immer noch so. Dabei war er beileibe nicht gefühllos, gerade hier dominierten ihn verbitterte Erinnerungen und zynische Attacken. Die Zimmer, die Möbel hatten keine Chance, ihn zu besänftigen. Er war stur. Und das von seinem Vater geerbt zu haben, hätte er sicher abgestritten.

Es erwartete ihn, dem Alleinerben, einiges. Das große Haus, das er seit Tagen mühsam vom größten Dreck in den Ecken, von den klebrigsten Bier- und Weinresten auf Tischen und Bänken befreit hatte. Er arbeitete sich unfreiwillig durch die Zeitschichten eines Hauses, von dem er nicht einmal ahnen konnte, wie es mit seinem Vater umgegangen war und umgekehrt. Denn das Haus lebte. Das wiederum spürte er deutlich. Es gab Momente, da fühlte er Ecken auf sich zudrängen, glaubte hinter seinem Rücken stechende Blicke, als ob ihn die Wände beobachten würden. Erstaunlicherweise verhielt sich das riesige Seegrundstück scheinbar neutral. So neutral, es verbarg aufgrund des verwilderten Zustandes sogar den Wert, den es nach der gewinnverheißenden Stimme Falkensteins offensichtlich hatte. Ein Bootshaus, eine große Wiese, ein Stück See.

Nun erst recht. Er würde mit hartem Besen den alten, verlotterten Familiengeist wegfegen.

Fred hatte es geschafft, sich aufzusetzen, schaute aber noch sehr langsam vor sich hin.

Ein Kater fühlt sich anders an... aber irgendwas war mit Schnaps...

Wie spät war es, warum lag er die Nacht auf der Bank? Warum erinnerte er sich an vieles, an anderes aber nicht?

Er befahl seinen Beinen, Bodenkontakt aufzunehmen. Machte kleine Schritte, streckte seine müden Knochen dem Raum entgegen.

Die Fenster müssten geputzt werden. Wäre wichtiger gewesen als die alten Tische.

Schmierige, rauchverklebte Scheiben verwehrten jedem einzelnen Sonnenstrahl den Eintritt, ebenso konnte kein noch so angestrengter Blick nach draußen dringen. Nur langsam kehrte der gestrige Nachmittag, Falkensteins Worte in sein Bewusstsein zurück:

„Als Kronjuwel für dieses außergewöhnliche, anmutige Königreich erlauben Sie mir, Ihnen die abschließende Offenbarung unterbreiten zu dürfen.“

Fred erlaubte es dem Notar, konnte sich aber nicht vorstellen, was sein Vater dem geflohenen Sohn plötzlich hinterherwerfen wollte.

„Ihre tragisch früh verstorbene Mutter hinterließ eine Lebensversicherung, die Ihr unglücklicher Herr Vater Zeit seines arbeitsamen Lebens niemals anrührte, obwohl meiner geringen Kenntnis nach in einigen prekären Situationen der Bedarf bestand, flüssige Finanzmittel, wie man in der Immobilienbranche so gern sagt, zur Verfügung zu haben.“

Fred wagte nicht, jetzt in diesen hoffentlich letzten Minuten den Notar pietätlos zur Eile anzutreiben. Er bot seinem Gegenüber einen ebenso mitfühlenden wie wissenden Gesichtsausdruck.

„Aufaddiert ergibt sich aus der Bilanzierung der Konten folgendes Bild: Die Umrechnung der Summe aufgrund der Währungsumstellung zum 1. Januar 2002 auf vier Stellen hinter dem Komma genau, die kluge und von erstaunlichem Weitblick zeugende Anlage der Gelder ergibt mit Zins und Zinseszins nach siebenundzwanzig Jahren und fünf Monaten bis zum Ultimo diesen Monats einen Gesamterlös von 257 Tausend 468 Euro und 13 Eurocent. Es ist mir mehr als ein Bedürfnis lieber Herr Keller, Ihnen persönlich in dieser schweren Stunde eine doch so angenehme Mitteilung unterbreiten zu dürfen.“

Falkensteins Kamm schwoll zur Brunftreife, seine schmalen Finger zitterten aufgeregt, die Röte des Raumes war mit einem Mal bedeutungsschwanger. Fred war nicht mehr da. Kurz vorher war er geistig ausgestiegen, unfähig, diesen Ausführungen weiterhin folgen zu wollen. Kein klarer Blick war Doktor Falkenstein vergönnt, kein gewinnorientiertes Lächeln, kein entspanntes Zurücklehnen in den schützenden Sessel.

Falkenstein gehörte zu der Sorte Mensch, die gerne eine Laudatio über sich hören. Die ehrenden Worte, die er - in aller Bescheidenheit natürlich - geduldig, aber sehr aufmerksam in sich aufsaugen würde, hätten darüber zu berichten, wie absolut er sich in die Dienste seiner Klienten begäbe, wie nahezu selbstlos er als Honorarkonsul die Interessen der capverdischen Inseln repräsentiere, wie sensibel er seit Jahrzehnten die Bedürfnisse der umliegenden Gemeindeverwaltungen und ebenso jedes einzelnen Bürgers vertrete. Ein wahrer Kümmerer, natürlich. All das, obwohl – und das sähe man dem ehrenwerten Doktor Gunnar von Falkenstein nun wirklich nicht an – sein Alter längst jenseits der offiziellen Rentengrenze liege, wenn es erlaubt sei, dies so salopp anzumerken.

Ja, Falkenstein tat wirklich alles. Vor allem für sich. Seine welligen, zurückgekämmten Haare waren schwarz. Ob dies je die Originalfarbe war, wusste wahrscheinlich nur er selbst. Vielleicht noch seine Sekretärin Fräulein Serlbacher, die gute Seele der Kanzlei. Zu jeder Zeit zur Stelle, wann immer es dem Notar danach verlangte. Wann immer und womit immer. Ein feiner Herr, würde man sagen. Sein akkurat schmal gehaltener Schnauzer war ebenso schwarz und drohte stets, von der Oberlippe zu rollen, so filigran schmiegte er sich darüber.

In seiner Eigenschaft als Notar trug er stets dunkle Anzüge, die auch einfarbig rötlich oder violett sein durften, aber dunkel. Krawatte war selbstverständlich. Sein Benehmen wurde nur von seiner Ausdrucksweise übertroffen, „gewählt“ wäre ein fader Begriff. Falkensteins lebendige blaue Augen halfen ihm, jünger zu wirken, als er war. Sie halfen ihm auch, ergänzt von seiner unglaublichen Menschenkenntnis und seinem ausgeprägten Geschäftssinn, Situationen schnell einzuschätzen - was ihm stets einen Handlungsvorsprung verschaffte.

Erstaunlich spät bemerkte Falkenstein, daß Fred nicht mehr folgen konnte.

„Herr Keller, ich bitte Sie, Herr Keller. Ist Ihnen nicht wohl?“ Schnell griff Falkenstein nach seiner Glocke, nach zwei Klöppelschlägen beugte sich Fräulein Serlbacher in die so schnell wie leise geöffnete Tür. „Einen Cognac! Den Besten!“ Geräuschlos im Auftritt, schattenlos im Abgang: Fräulein Serlbacher, die gute Seele des Notariats.

Der protzig bauchige Schwenker war gebührend seriös gefüllt. Fred kehrte langsam zum Notar zurück. Es tat ihm gut, die hinunter gleitende Wärme zu spüren. Und auch wieder seinen Verstand. Schon öfters hatte er den Eindruck, Alkohol könne ab einer bestimmten Qualität und bis zu einer gewissen Quantität sein Gehirn zu Höchstleistungen anregen.

Habe ich meinen Vater einfach nur verkannt? Habe ich ihn überhaupt gekannt?

Eine unpassende Situation, in der sich Fred diese Fragen in den Weg stellten. Beantworten würde er sie nicht. Nicht hier jedenfalls.

Vater soll sich bloß nicht einbilden, im Nachhinein höhere Trümpfe als ich aus dem Ärmel ziehen zu können. Die Karten waren von jeher klar verteilt, es gibt kein neues Spiel, nicht mit mir, nicht in dieser Ecke des Landes.

Zornig schlurfte er zu einem Fenster, starrte auf das Glas, als versuchte er, mit seiner Wut den klebrigen Belag aus Rauch und Geschichten wegzuätzen.

Wo ist der Sinn? Verdammt noch mal, was soll dieser Zirkus? Ich bin nicht 36 Jahre alt geworden, um mir von einem Toten Vorschriften machen zu lassen. Ich werde dem Spuk ein Ende bereiten und so schnell es geht alles verkaufen.

Es war leider doch ein verkaterter Morgen.

In dieser verdammten Kneipe kann ich nicht mal klar sehen, geschweige denn, klar denken.

Am großen Spülbecken wollte Fred die Reste der vergangenen Nacht endlich aus dem Gesicht waschen. Ein Schwall Wasser schoss aus dem Bügelhahn, ohne zu zögern hielt er seinen Kopf darunter. Es war ihm ein Rätsel, wie und warum er sich letzte Nacht auf diese ungemütliche Bank legen musste, geschweige denn, wie er überhaupt mit dem Boot ans Ufer zurück fand. Blackout! Wo war die Zeit? War er dermaßen betrunken gewesen?

Mit seinen Händen fing er das Wasser, um sich den letzten Schlaf aus den Augen zu reiben. Hellrot verfärbte sich das Wasser, rann zügig in den Abguss.

Unbeteiligt, quasi von außen, schaute Fred einen Moment zu. Erschrak dann doch, fasste sich an den Kopf. War er verletzt? Spürte er wegen des Restalkohols keinen Schmerz? Ein dünner Rinnsal schlängelte sich am Handgelenk entlang, suchte seinen Weg zum Unterarm, Fred zuckte zusammen. Den Kopf hatte er untersucht, verletzt war aber die rechte Hand. Befreiend, endlich den stechenden Schmerz zu spüren. Eine tiefe Fleischwunde zeichnete in den Mittelfinger ein scheinbar viertes Gelenk. Das vordere Glied des Fingers war nahezu halbiert, am benachbarten Zeige- und Ringfinger waren nur kleinere Hautrisse.

Reflexartig schoss die Hand unter den Wasserstrahl. Das Edelstahlbecken überzog sich mit einem hässlichen Schleier. Chrom und Blut, das passte nun überhaupt nicht zusammen. Bräunlich schlierte die Flüssigkeit in den Abfluss, fast so, als berührte sie nicht einmal die polierte Oberfläche.

Fred bewegte äußerst vorsichtig das Stück Fleisch, Schmerzen zuckten durch die Hand, er sog spitz die Luft zwischen seinen Zähnen ein. Die Kuppe war noch dran.

Tut es so weh, weil ich es jetzt sehe?

Es tat höllisch weh. Er fragte sich nicht einmal, bei welcher Gelegenheit sich die Fingerspitze von ihm trennen wollte. Schnell wickelte er ein frisches Geschirrtuch um die Wunde und suchte ein Pflaster. Im Bad war nichts zu finden. Bevor er weitersuchte, wickelte er sein getränktes Tuch auf und ließ aus Brusthöhe Blutstropfen für Blutstropfen vom Waschbecken auffangen. Fächer, rote Pusteblumen gestalteten die weiße Oberfläche.

Na also, sieht doch gleich viel besser aus.

Erst in der unbenutzten Erste-Hilfe-Box seines Saabs wurde er fündig. Fred war Linkshänder, es war also nicht allzu schwierig, aus den plastikverschweißten Paketen ein langes Stück Mullbinde herauszuschneiden. Zusätzlich rollte er noch zwei Lagen Leukoplast um die verbundene Wunde.

Sicher ist sicher.

Er wollte den Brief noch einmal lesen, nein, er sollte lieber entspannen und nachdenken, wann und wo er sich in den Finger geschnitten hatte. Oder doch lesen? Auf dem Dielenboden der Stube lagen die Seiten, die der Notar Fred ausgehändigt hatte. Er schüttelte sie, als wollte er die Buchstaben in einen ihn verständlicheren Zusammenhang bringen. Wollige Staubflusen lösten sich vom Papier, das Konrad Keller am 21. Januar 2011 - lange vor seinem Tod - beschrieben hatte. Die Luftwirbel scheuchten winzige Staubpartikel auf, die im fahlen Tageslicht chaotisch tänzelten. Durcheinander fühlte sich auch Fred und beobachtete die Flusen. Den Boden schrubben, dazu konnte er sich nun wirklich nicht durchringen. Er würde sich doch nach einer tüchtigen Putzfrau umschauen. Raus hier!

Der Frühlingstag erschien umso freundlicher, je mehr das Erdgeschoß nervte. Er war matt und leer, und obwohl er ein rationaler Mensch war, blockierte tief drinnen irgendetwas jeden vernünftigen Gedanken. Wie umschmeichelte ihn dagegen das fast kniehohe Gras, das erklärte, wie jeder Schritt ein kleiner Fortschritt, eine Erkundung fremden Terrains sei. Das Schilf rechts vom morschen Steg wog sich mal nach links, mal nach rechts, als wäre es nicht sicher, ob es Fred die eine oder die andere Richtung einschlagen lassen sollte.

Unter dem Vordach des Schuppens lehnten drei rostige Klappstühle. Fred ertappte sich dabei, etwas zu lange im Schuppen nach der Zündapp geschaut zu haben. Natürlich war sie nicht mehr da. Er ärgerte sich maßlos. Nicht über die Zündapp, über sich. Wie konnte er nur so einfältig sein? Was glaubte, hoffte er zu finden? Achtzehn Jahre zu spät.

Er schnappte sich einen Klappstuhl, dessen ehemals farbenfrohe Stoffbespannung so gar nicht zu seinem Vater passen wollte und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen.

So morsch ist der Steg gar nicht, wie er aussieht. Ein paar Bretter austauschen, eine Handvoll Pfennigsnägel, ein Wetterschutzanstrich. Müsste reichen.

An der Spitze des Stegs klappte der Stuhl mit einem quietschenden Schwung auf, Fred ließ sich vorsichtig, sehr vorsichtig nieder, auch hier vertraute er den Hinterlassenschaften seines Vaters nicht. Und das Schilf bemühte sich weiter, keine eindeutige Richtung anzugeben.

 

Der Brief? Steckte zusammengefaltet in seiner Hemdtasche.

Da sollte er erst mal bleiben. Fred wollte sich wenigstens gelegentlich darüber informieren, was die eingesessenen Bürger am Untersee umtrieb, was sonst in der Gegend los war.

Wie er so auf dem Stuhl saß, den „Konstanzer Boten“ durchblätterte, machte er auf den See, die Möwen, die Schwäne einen völlig entspannten Eindruck. Urlaubsstimmung in Fred? Weit gefehlt. Flüchtig überflog er die Regionalpolitik, ignorierte verächtlich goldene Jubiläen und Ehrenmitgliedschaften in diversen Vereinsmitteilungen.

„Anmerkungen zum Konzilsjubiläum 2014“, las er laut dem See entgegen. Meine Güte, das ist doch noch eine ganze Weile hin, dachte er verwundert und begann zu lesen.

„Das Münster barst vor Menschen. Das war nicht immer so um 1414, aber für die nächste Zukunft würde das Interesse der Bürger wie der Adligen sicher ungebrochen bleiben. Der nächste Sonntag könnte völlig anders aussehen wie dieser Sonntag, die nächste Messe könnte ein anderer Papst wie dieser halten.

Die Messe hielt Papst Johannes XXIII. Demnächst würde er seinen Rücktritt anbieten, dann doch aus Konstanz fliehen, wenig später von König Sigismund festgesetzt. Aber alles zu seiner Zeit.

Kein einziger Mensch feindete die feierliche Handlung an oder störte sich daran, welcher der drei Päpste an diesem Tag der Glaubensgemeinschaft vorstand. Papst Johannes war sowieso der einzige in Konstanz anwesende Papst.

Im Augenblick weihte er die Kerzen mit Weihwasser. Der Papst beendete seine Zeremonie und reichte dem Erzbischof von Dänemark das Weihwasser. Am Altar des Leutpriesters stand ein Thron, ähnlich dem Thron am extra erbauten Altar neben dem Sakramentshäuschen. Der Papst saß also auf dem hohen Leutpriesterthron und jeder im Münster konnte ihn sehen. Vor dem Sankt Georgsaltar erhob sich eine Podest mit vier Sitzen für die Patriarchen und den Hochmeister von Rhodus.

Das Kirchenschiff quoll über vor Farben. Kardinäle, die in der Kirche ohne ihre breiten roten Hüte anzutreffen waren, Erzbischöfe und Bischöfe in violetten Talaren, Gelehrte in blauen und ockerfarbenen Gewändern drängten sich neben den Hausherrn, den gelähmten Dekan Albrecht von Büttelsbach. Von goldenen Streifen durchbrochene Blautöne, grüner Samt, weiße leuchtende Tücher, roter Wams und schwarze Kleider, goldene Leuchter und silberner Stahl, jede Farbe war würdig genug, um in der Kirche vertreten zu sein.

Auf der weltlichen Seite verfolgten Graf Rudolf von Montfort, Graf Berthold von Orsini, Markgrafen aus Deutschland, Herzöge aus Frankreich, der Bürgermeister Heinrich Ehinger und viele Magister, wie der Papst es sich nicht nehmen ließ, den Kardinälen zur Hand zu gehen. Demütig verteilten sie1500 unterarmlange Kerzen an die Gläubigen und sammelten sich zur Prozession.

Mit imponierendem Getöse verbreitete sich der Klang der Glocken weit über den Münsterplatz hinaus. Jede einzelne Glocke zeugte davon, wie wichtig die Zeremonie und wie einzigartig und tatsächlich in dieser Konstellation unwiederholbar war, von der sich Papst Johann eine positive Signalwirkung erhofft hatte.

Die drängenden Menschen draußen würden also bald den Papst und die hohen Würdenträger zu Gesicht bekommen. Das Geläut verstärkte aber nur die Unruhe, jeder wollte nahe am abgesperrten Weg stehen, einen Hauch vom Weihrauch spüren, den Blick eines Fürsten erhaschen. Kein Bürger dachte daran, wie sehr Konstanz in diesen Tagen im Blickpunkt der christlichen Welt stand. Wichtig war der Blick eines jeden Einzelnen.

Der Streit dreier Päpste um die Vormachtstellung mit allen dazu gehörigen Versammlungen und Diskussionen um die gerechte, weil christliche Sache schwemmte viele Wichtige und noch mehr Neugierige in die Stadt. Zeitweise schwoll sie zu einer Größe von vielleicht 70.000 Menschen an. Weit über die Stadtmauern hinaus, in den umliegenden Stadtteilen vom Paradies im Nordosten bis weit westlich vom Emmishofer Tor campierten die Reisenden sehr armselig unter Planen oder fürstlich in eigens mitgeführten pompös ausgestatteten Zelten.

Vor dem Münster wurde das Gedränge gefährlicher, die Bürger drängten aneinander und verklebten zu einem taumelnden Mob. Im Kirchenschiff dagegen fügte sich der prächtige Kirchenstaat unter Verbreitung einer gehörigen Menge Weihrauch zu einer geordneten Prozession. Die Obertöne des Geläuts schoben die Geistlichkeit in geordnete Bahnen, zumindest nach außen wollten die nach wie vor uneinigen weltlichen und kirchlichen Fürsten ihr Gesicht und vor allem ihre eigene Würde wahren.

Wie es sich für einen Kirchenumzug gehörte, ging der Machthaber hinter den zwei Patriarchen, die mit dem Monstranzenträger unter einem goldenen Baldachin schritten und das Volk segneten. Den König, der unter seiner goldenen Krone eine schlichte Chorkappe trug, geleiteten zwei Kardinäle.

„Wer ist der mit dem Schwert?“, fragte ein zugereister Handwerker eine neben ihn gedrängte Frau, deren braunes, unter der Brust mit einer langen hellen Schürze gebundenes Kleid noch eine Spur schlichter war, als all das stumpfe Braun und fade Grün um sie herum. „Herzog Ludwig von Brieg. Und der mit dem Zepter ist der Bayernherzog Heinrich. Und die Lilie trägt der Kürfürst von Brandenburg.“ Während die Frau erklärte, winkte sie ihnen weiter zu, den in farbenprächtige Gewänder gekleideten Kardinälen, Erzbischöfen, Bischöfen und Äbten.“

Fred schmunzelte.

Ganz schön clever, dieser Beißwanger. Füttert seinen Artikel mit direkten Reden, damit sich der Leser mittendrin fühlt.

Wie zum Beweis las er weiter:

„Ehrwürdig schritten sie am Volk vorbei, Herzöge, Grafen, Herren, Ritter, Gelehrte. Der Strom aus prächtigen Kleidern wollte nicht enden und demonstrierte eine Farbenpracht, die das schillernde Leben des flanierenden Zuges von dem der Winkenden unmissverständlich trennte.

Viele der Herrschaften hatten ihre Kerzen den neben oder hinter ihnen gehenden Dienern übergeben. Es war nötig, sich dem Volk zu zeigen, im besten Staat dem König, den Kardinälen in der Fronleichnamsprozession zu folgen. Die schwere Kerze deswegen ständig selbst zu tragen, war nicht angemessen.

Am Unteren Münsterhof ging der Zug vorbei mit Blick zu Sankt Johann. Es waren sicher mehrere Hundert Edle vorbeigezogen, als eine große Gruppe der Bettelorden folgte, denen wiederum unzählige Bürger anhingen.

Die Gassen wurden enger, der Zug kam zum Stillstand. Der König, die Regenten und Kardinäle wandelten nah wie selten mitten durch ihr Volk. Und das Volk tat wie von ihm erwartet: es jubelte den Würdenträgern zu und hoffte ungeduldig auf die Entscheidung, welchem einzigen Papst in absehbarer Zeit gehuldigt werden sollte. Doch das Volk sollte noch lange warten.

Auch der Stephansplatz war ein weiter Kirchhof. Mit der großzügigen Umbauung des Platzes durch die Franziskaner, die ihre Unterkünfte wie ein schützendes ‚U’ um Sankt Stephan bauten und links zur Brudergasse ihre Kirche platzierten. Die schönen Fassaden der Patrizierhäuser, oft drei bis vier Stockwerke hoch, bildeten einen ansprechenden Rahmen für das großartige Schauspiel. Auf stabilem Steinfundament gebaut fanden sich unten Werkstätten oder Geschäfte, während in den oberen Etagen, als Fachwerke ausgebaut, die Kammern der Wohnungen mit einer beheizbaren Stube lagen.

An diesem großzügigen Ort hatten sich Krämer, Kleinwarenhändler und Schreiber dem Schutz der Kirchen anempfohlen. Aber hier wurde auch gebacken. Die Franziskaner besaßen zwei große Backhäuser, die sie den zugereisten Bäckern zur Verfügung stellten. Außerdem wuchs Monat für Monat an der Begrenzung zum Bündrichhof, rechts vom Kirchplatz, Backhaus um Backhaus. Tagelöhner von weit her mauerten bauchige Höhlen, damit die täglich wachsende Einwohnerzahl mit frischem Brot versorgt werden konnte.