Die Gabe des Erben der Zeit

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Das Einschreiben hatte Fred in der Küche seines Lokals „Zur guten Mahlzeit“ erreicht. Er war beschäftigt, wie immer, als der Bote mit dem Brief kam. Er las den Brief. Er las ihn ein zweites Mal. Dann erst war es soweit. Er brüllte durch die volle Küche – es war ein Wunder, daß nicht jeder, der etwas in der Hand hielt, es einfach vor Schreck fallen ließ.

Kurz und bündig wurde er aufgefordert, sein bisheriges Leben so ganz ohne Vorwarnung zu unterbrechen und eine Reise anzutreten, die ganz und gar nicht, wie man glauben könnte, ins Ungewisse ging. Im Gegenteil.

Fred war sich sehr sicher, daß keine Freude in ihm aufkommen würde, wenn er nach all den Jahren Höriboden unter seinen Füßen spüren würde. Er hatte einfach keine guten Erinnerungen zurückgelassen, auch keine guten mitgenommen. Kontaktlos, gedankenlos, lieblos, so könnte man die familiäre Bindung in den Jahren zwischen Rhein und Bodensee benennen. Das Wasser, war nicht das Wasser das einzige Bindeglied zwischen Vater und Sohn? Die Richtung des Flusslaufs der einzige Hinweis, wer sich anzunähern hatte? Fred hatte bisher keinen Gedanken daran verschwendet, aber wenn überhaupt, hatte sein Vater Kontakt aufzunehmen.

Und wenn es um den Preis des Lebens wäre...

Freitagfrüh

Freds Freitag begann mit einer Galileischen Erkenntnis. Er konnte sich wegen heftiger Nackenschmerzen kaum bewegen, beobachtete also hilflos das Treiben um sich herum. Die Erde, zumindest ein winziger Teil in Gestalt seines momentanen Schlafraumes, drehte sich. Bewegte auf elliptischen Bahnen Regale und Deckenlampe, die willkürlich die Richtung wechselten, um ein imaginäres Zentrum, das offensichtlich er bildete. Sein Schwindel wurde dadurch nur stärker, die Frage nach dem ‚warum’ nur größer, obwohl sie sofort beantwortet wäre, wenn er nur leicht nach rechts zur Vitrine mit dem Plattenspieler geschaut hätte.

Eine Schnapsflasche fiel ihm auf - sicher selbst gebrannter - als er trotz großer Müdigkeit, neugierig, wie mit Fingerspitzen tastend, seinen Blick an der Bücherwand entlang streifen ließ. In einer Reihe häuften sich Buchrücken mit Titeln, die Fred an diesem Ort ungewöhnlich fand. Fachbücher über Neurologie, Psychometrie, Konservierung von Düften, Botenstoffe im Gehirn wechselten sich ab mit Jules Verne, Einstein und Hegel.

Er wünschte sich nicht noch so eine Nacht, oder war es schon die dritte? Eine Nacht entspannt schlafen, ohne von Träumen geplagt zu werden, an die er sich am nächsten Morgen sowieso nur schemenhaft oder gar nicht erinnern konnte. Einmal morgens aufwachen und im Laufe des gemütlich vorbeiziehenden Tages am Abend verdiente Müdigkeit spüren. Er sehnte sich nach seinen Dachfenstern in Bacharach, die ihm in sternenklarer Nacht Ausblick gönnten, ohne Einblick zu gewähren. Wie er glaubte.

Auf seinem Bauch drückte der schwere Bildband mit populärwissenschaftlichen Erläuterungen der Relativitätstheorie im Allgemeinen wie im Speziellen. Auf hochwertigem Glanzpapier gedruckt, ruhte das Buch auf Fred wie die exklusive Zeitung eines Obdachlosen unter der Rheinbrücke. Als versuchte es notgedrungen, ihn vor der kühlen Nacht zu schützen. Vorsichtig, ganz vorsichtig bewegte er ein Bein dem fugenreichen Dielenboden entgegen. Von der niedrigen Holzdecke berichteten tanzende Lichtflecke, der Tag müsse an anderer Stelle schon reichlich Fortschritte gemacht haben.

Sind zwar keine Sterne wie am rheinischen Nachthimmel, aber so gesehen genieße ich grade einen unglaublichen Service der Natur.

Der See reflektierte flirrende Muster an die zeitgebeugte Decke. Fred starrte auf die tanzenden Lichtspiele, als versuchte er die ständig wechselnden, sich nicht nur in seinem Leben nicht wiederholenden Zeichen zu lesen. Schwer zu sagen, wie lange er so krumm dalag und die Botschaft zu dechiffrieren versuchte. Jedenfalls konnte er sich mit einem Mal schmerzfrei bewegen, das Buch fiel zu Boden, aber er stand aufrecht, ohne zu schwanken mitten im Zimmer und starrte auf das Fensterkreuz.

Oder irgend woanders hin da draußen.

Es dämmerte, nicht der Tag - dem Sonnenstand nach hätte ein Hörianer leicht damit glänzen können, von der Mittagszeit zu reden. Es war Fred, in dem die Klarheit hochzog, wie an einem Wasserstandsanzeiger bei Pegel Konstanz.

Freitag. Heute. Endlich!

Die Blase drückte fürchterlich. Nachdem er sich zumindest diese Erleichterung verschafft hatte, was er wie immer im Stehen tat, machte er sich, schneller denkend als sich bewegend, auf den Weg zur Kaffeemaschine.

Praktischerweise war er ja schon oder noch angezogen, die abendliche Einschlafhilfe muss überraschend gewirkt haben. Nach der ersten Tasse Kaffee – ja, immer noch Kaffee, obwohl sein Arzt es verboten hatte – machte er sich landfein, zumindest nach außen wollte er respektvoll den notariellen Termin wahrnehmen. Nicht, daß er auf die Erbschaft scharf gewesen wäre.

Komisch. Was denn hier los?

Fred betrachtete unter dem sprudelnden Wasser seine Hände. Das Wasser perlte ab, hüllte sie aber wie ein transparenter Handschuh ein. Erschrocken zog er die Hände zurück, als fürchtete er, sich zu verbrühen. Die Feuchtigkeit wich, tropfte ins Becken und verschwand. Das Rätsel blieb. Ungläubig starrte er seine Hände an.

Ich hab doch gestern überhaupt nix mit Schmiere oder Öl gearbeitet, wie...?

Im Gegenteil. Fred hatte wie ein Besessener mit Viss, Akupads und Schmierseife die Tische geschrubbt. Die Wurzelbürste flog nur so über die an die Wände montierte Eckbank. Was hätte er schließlich in den drei Wochen tun sollen? Gammeln war nicht sein Ding. Das Haus hatte eine ordentliche Substanz, sein spätestens seit Bacharach geschulter Blick verriet ihm das in jeder Ecke. Das Lokal dämmerte unter einer verfetteten Staubschicht, der Charme musste nur wieder ans Tageslicht erputzt werden. Nur? Nun gut, am Anfang hatte er keine Ahnung, wie viel Dreck, wie viel Erinnerung sich in den Winkeln verkriechen konnte. Aber das hier. Wie kam um alles in der Welt dunkle Schmiere unter seine Fingernägel?

Die Wirtsstube behielt die Antwort für sich.

‚Im großen Stil’

könnte im Milchglasfeld der Bürotür von Renie Tiez unter dem eingeätzten Namen als Charakterstudie stehen. Schlicht und transparent glänzte der Name je nach einfallendem Sonnenlicht dem Besucher entgegen, schwebte in der edlen Tür, deren Mahagonizarge, zusammen mit dem polierten Messingrohrgriff ebenso den Weg in die Offiziersmesse eines nicht allzu kleinen, nicht allzu billigen Kreuzers freigeben könnte. Ansonsten tauchte das Wörtchen schlicht nur noch auf, wenn Renie Tiez Oskar Wilde heranzog und sich selbst charakterisieren sollte: schlicht von allem das Beste.

Ihr 68er Mustang röchelte gelassen durch Sankt Gallen. Seine exotische Erscheinung provozierte die angestaubten Häuserzeilen. Die Schweizer hatten seit jeher ein Faible für amerikanische Schlitten, als könnten sie damit die ihnen womöglich peinliche Unfähigkeit kaschieren, ein ordentliches, auf dem mobilen Weltmarkt akzeptiertes Automobil zu kreieren. Renie Tiez war nichts peinlich, hatte nichts zu kaschieren. Sie war weit jünger als ihr Statussymbol und dachte darüber nach, wie sich die Uferbereiche - und natürlich nicht nur die anteiligen Schweizer Gestade - im großen Stil umgestalten ließen. Sie meinte es tatsächlich so, eine Neugestaltung, eine Funktionserweiterung schwebte ihr vor. Öffentliches Bodenseeufer durfte nicht krämerischen Einzelinteressen kleinmütiger Gemeindeverwalter oder statussymbolanhäufendem Geldadel überlassen bleiben. Global und verantwortungsvoll musste an die Zukunft gedacht werden. Zumindest an die ihrer Investoren.

Unterdessen schlürfte ihr Mustang fleißig Superbenzin, in seinem typischen Rot kam er daher, als wäre die Zeit spurlos an ihm vorübergegangen und jeder, der sich ans Steuer setzen durfte, fühlte sich sofort in die Ära zurückversetzt, in der sowieso alles besser war. Vor allem der Sprit billiger. Der Mustang schlürfte also reichlich, weil er den allzu laut umjubelten technologischen Fortschritt verschlafen hatte. Was ihn ja fast schon wieder sympathisch machte.

Wer Renies Charakter an ihrer Fahrzeugwahl festmachen wollte, konnte nur irren. Egal welche Schublade er aufmachte, es war die falsche. Sie war nicht naiv, nicht oberflächlich, nicht aufdringlich. Schwierig war nur: im nächsten Moment konnte alles wieder anders sein. Ein gutes Beispiel war die Arbeit mit oder besser an Doktor Ernst Tafler, seines Zeichens für die westlichen Bodenseeufer zeichnungsberechtigter Gemeindeamtmann. Der dachte immer noch, mit Lüti-Boden den für Schweizer Behörden wasserdichten Kontrakt ausgehandelt zu haben.

Renie Tiez war auf dem Weg zu ihm. Füttern nannte sie das. Damit ihre Vertragspartner nicht in Verlegenheit gerieten, selbstständig recherchieren zu müssen, um über Sinn und Richtigkeit ihrer Unterschriften im Bilde zu sein. Renie hatte neue Informationen - natürlich nur gute - für Dr. Tafler.

Einmal mehr konnte sie ihren Chef davon überzeugen, mit ihr die beste Wahl für das Gelingen des epochalen Bodensee-Resorts getroffen zu haben. Marc Lüti war Besitzer von Lüti-Boden, der Schweizer Immobilienagentur für innovative Projekte, die weit über das Vorstellungsvermögen eines Normalbürgers hinausgingen. Renie Tiez wurde schnell seine Geliebte. Das ging anfangs auch über ihr Vorstellungsvermögen hinaus. Von dem seiner Frau ganz zu schweigen.

Renie war gut vorbereitet, das Gespräch mit Tafler würde eine Kür. Weitere Grundstücke waren gekauft, die Präsentationen für Projektierung und Inbetriebnahme der verschiedenen Bauphasen hatte sie fast fertig. Sie hing ihren Gedanken nach, spürte den Fahrtwind in den Haaren und hätte am liebsten die Augen geschlossen, um tief entspannt durchzuatmen. Es war ihr bewusst, wie außergewöhnlich es war, in diesem Mustang zu sitzen, es bis dahin geschafft zu haben, wo sie nun war. Sie war dankbar, sich selbst. Wie zielstrebig sie doch war. Wo ihr dieses Leben überhaupt nicht in die Wiege gelegt worden war.

 

Heulend, fast kreischend stolperte Renie damals durch den Bauerngarten, der nicht ganz schlüssig war, ob er zu den wilden oder den künstlich robust gehaltenen Gärten gehören wollte, so gelungen wuchsen Blumen, Gemüse und Früchte nebeneinander her.

„Mama, du wirst es nicht glauben“, sprang sie ihrer Mutter an den Hals. Jeanne Tiez war überrascht. Renie hatte sich nicht angekündigt, Renie überfiel sie nie so übermütig, Renie landete mit ihr lachend im Hagebuttenstrauch. „Ich krieg ein Stipendium, ich krieg ein Stipendium und einen Freiplatz an der Uni dazu!“

Urs, der Bernhardiner, bellte heiser und sprang schnell wie selten durchs Holzgatter. Sofort wühlte er sich mit nasser Schnauze zwischen die beiden Frauen und plättete den Hagebuttenstrauch noch mehr. Als hätte er nur darauf gewartet, eine straffreie Gelegenheit zu finden, dem Busch den Garaus zu machen.

Die drei gaben ein merkwürdiges Bild ab, als der Vater, vom Geschrei und Gebell aufmerksam geworden, den Kopf aus dem Stallfenster streckte.

„Seid ihr noch gesund? Wollt mir wohl meine Ernte ruinieren?“

Vater Tiez war begabt, er hatte es sich in den Kopf gesetzt, aus nahezu allem, was Früchte trug, ein feines Destillat zu brennen, und würden es nur ein paar Fläschchen Hagebuttenlikör – im Moment war das allerdings fraglich.

So einen wie Renies Vater hätten sie im Mittelalter ans Wagenrad gebunden. So eine wie Renie, so eine hätte es bis ins Gemach des Königs geschafft.

Heutzutage musste es eben das älteste private Bankhaus der Schweiz sein. Wegelin & Co - unter dieser Adresse machte es die zielorientierte Praktikantin nicht. Folgerichtig musste der nächste Sprung auf der Karriereleiter großzügig ausfallen. Lüti-Boden wurde auserkoren. War Marc Lüti nicht ein moderner König? Beherrscher einer international verzweigten Immobilien-Agentur mit neun Niederlassungen in sechs Ländern...

Renie brauchte Zeit. Die bescheiden ausgebaute Uferstraße, die ständigen Ortsdurchfahrten erlaubten kein gedankenloses Kilometerfressen von A nach B. Das war ganz nach ihrem Geschmack. Für sie unvorstellbar, zwischen zwei Punkten, zwischen zwei Meinungen nicht irgendetwas zu finden, was nicht als Anknüpfungspunkt dienen könnte. In der gefälligen Bodenseelandschaft war das kein Problem, da konnte sie sich einfach nicht satt sehen.

Ihre Geschäftspartner betrachtete sie ebenso. Ein Skrupel hier, eine Perspektive des Gegenübers da, sie sezierte alles. Sie entfachte geschickt das zarte Flämmchen Hoffnung für den Kunden, schürte Zweifel beim Kontrahenten, wechselte bis zum Geschäftsabschluss die Perspektive, drängte zum Kauf, verzögerte Verhandlungen. Nachdem sich alle Beteiligten beim Notar die Hände geschüttelt hatten, trennten sie sich mit dem sicheren Gefühl, zum einzig richtigen Zeitpunkt instinktiv die beste Entscheidung getroffen zu haben.

Das war ihre Stärke, Argumentation im Paradoxen.

Freitag, 15 Uhr

Fred hatte sich für das Fahrrad entschieden. Die Kontakte mit den Dorfbewohnern waren sowieso auf das Nötigste reduziert.

Jedes Mal wenn er mit seinem Auto durch den Ort fuhr, spürte er schnell ein beklemmendes Gefühl. Egal, ob er sich morgens nur frische Brötchen holte oder in der Gemeindeverwaltung Einsicht in die Grundbucheintragungen wollte. Sobald er sich jemandem näherte, der am Gehsteig stand oder die Straße kreuzte, spürte er die Enge. Er kannte die Leute, zumindest viele, die da konspirativ ihre Köpfe zusammensteckten und wie eh und je ihrer Lieblingsbeschäftigung nachgingen - über Dinge zu tratschen, die sie nichts angingen.

Den da drüben kenn ich doch, ist das nicht der alte Leon? Genau, Leon Tomhart. Wollte der nicht Maler werden und als Künstler New York aufmischen? Roy Liechtenstein und Andy Warhol den Rang ablaufen. Naja, vielleicht war er´s auch nicht. Auf jeden Fall, die Sache mit dem Fahrrad war zur Abwechslung mal die richtige Entscheidung.

Der feuchte Sommerwind stemmte sich gegen seinen maladen Kopf und brachte ihn allmählich wieder auf Vordermann. Nur die Beinarbeit ließ zu wünschen übrig. Der alte Drahtesel verbarg seine Defizite nicht. Das Gewicht hätte Fred beim Alteisenhändler einige Euros eingebracht. Die vertrocknete Kette wäre bei einem Gangwechsel hundertprozentig vom Ritzel gesprungen, so spröde klang das Eisen. Es gab aber eh keine Schaltung. Weit war es nicht mehr zum Notar.

Einige freundlich gemeinte Nicker registrierte er heute tatsächlich, als er den Marktplatz querte. Es war, als säße er in einem offenen Zweispänner, die Frackschöße faltenschützend über die Knie gelegt, den Zylinder nicht nur zur Sicherung der kurz geschnittenen Haare auf dem Kopf. Aufrecht radelte er weiter zum Notar.

Unsanft knallte er mit dem Vorderrad gegen den Bordstein, was ihn innerhalb eines Lidschlags auf den steinigen Boden der Tatsachen zurückholte.

Vereidigter staatlich anerkannter Buchprüfer und Nachlaßverwalter Doktor in jure Gunnar Falkenstein

Und drunter in ebenso schwungvoll ausladenden Lettern

Consul Honoreire de Cap Verde

Na, das kann ja heiter werden. Fred wagte kaum, das heruntergekommene Familienrad an die ehrwürdige Fassade des messingtafelgeschmückten Hauses zu lehnen.

Mit ebenso glänzenden Phrasen erläuterte Doktor Falkenstein Fred Keller, warum es notwendig war, so lange in dieser doch so wunderschönen Gegend bleiben zu müssen.

„Haben Sie sich denn niemals in dieses Biotop harmonischen Einklangs zwischen Mensch und Natur zurückgesehnt, werter Herr Keller?“

„Ehrlich gesagt nein, Doktor Falkenstein.“ Fred verspürte nicht den kleinsten Drang, mehr als unbedingt nötige Konversation mit dem Herrn Notar zu betreiben. Und die Floskel „ehrlich gesagt“ war ihm auch nur so rausgerutscht. Lieber zurückhaltend sein, niemand konnte von ihm erwarten, ehrlich zu sein, in einer Situation, die für ihn ungünstig schien. Und obwohl es ihn brennend interessierte, wie dieser Gunnar zu einem Honorarkonsul irgendeiner winzigen und weit entfernten Inselgruppe werden konnte, verkniff er sich die Frage.

„Nehmen Sie doch Platz. Bitteschön. Entschuldigen Sie bitte meine Unhöflichkeit. Sie wird nur übertroffen von meiner Neugier, Sie endlich kennenzulernen.“ Während Falkenstein Fred freundlich zu einem schweren Sessel führte, redete er weiter. „Und verzichten wir doch bitte auf den Doktortitel. Ich bin auch nur ein nahezu gewöhnlicher Mensch.“

Der Raum war glücklicherweise groß genug für die ausladenden Gesten, mit denen Jure-Gunnar, wie Fred ihn nach wenigen Minuten für sich nannte, seine gewählten Worte einrahmte. Und die Tapete war dick und weich genug, Wort für Wort mühelos zwischen den goldenen Ornamenten auf samtigem Rot versickern zu lassen.

Aufmerksam musterte Fred die vielen Bilder, die die sehr hohen Wände füllten. Bis ihn Falkensteins gleichbleibende Freundlichkeit zurückholte - von wo auch immer.

„Ich möchte Ihrem berechtigten Interesse, unverzüglich die Formalitäten ordnungs- und wunschgemäß abgewickelt zu wissen, mit all meiner fachlichen Kompetenz entgegenkommen. Lange genug hat Sie Ihr werter Herr Vater, den ja leider viel zu früh der Tod aus unserer Mitte gerissen hat, auf die Folter gespannt.“ Fast hätte er gelacht, der Herr Doktor, über dieses müde Witzchen, seine kleine anzügliche, wohldosierte Entgleisung. Aber als Testamentsvollstrecker geziemte sich das sicher nicht.

„Herr Falkenstein. Natürlich möchte ich nicht nur etwas über die Erbschaft erfahren. Mein Vater wird sicher Gründe gehabt haben, mich hier drei Wochen warten zu lassen. Aber.... zwischen uns war...,“ Fred suchte eine unverfängliche Floskel, „...wir hatten ein etwas gespanntes Verhältnis. Wenn wir überhaupt eines hatten. Ich hoffe, mir erschließen sich mit Ihrer Unterstützung ein paar Zusammenhänge.“

Der Notar räusperte sich hinter seinem ausladenden Mahagonischreibtisch, in dessen polierter Platte ein goldgerändertes Lederpolster eingelassen war, dessen einziger Verwendungszweck zu sein schien, den feingliedrigen Händen, die in dürerscher Bildhaftigkeit auf dem Tisch lagen, sanftes Kissen zu sein. Zu seiner Rechten lag parallel zur Goldkante ein Brieföffner. Ein Brieföffner, der in einem anderen Leben ein mörderisches, kaum eine Einstichstelle hinterlassendes Stilett gewesen sein könnte. Auf der anderen Seite des Lederpolsters lag ein dicker, schlichter DIN A4 Umschlag in Normpostfarbe Braun. Um diesen Umschlag ging es.

„Darf ich Ihnen, bevor ich tätig werde, eine frisch gebrühte Tasse Kaffee anbieten, lieber Herr Keller? Die Dicke des Umschlags lässt auf eine nicht geringe Verweildauer in meinen bescheidenen Räumen schließen. Und viele Menschen pflegen ja des Nachmittags eine kleine Kaffeestunde einzulegen. Gönnen Sie mir die Freude und Ihnen die Entspannung.“

Fred gab sich geschlagen und nickte. So freundlich es in dieser Situation eben ging. Die betenden Hände trennten sich lautlos, eine griff nach der Messingglocke, die früher möglicherweise in einem Gerichtssaal für Ruhe und gebotene Aufmerksamkeit gesorgt hatte. Innerhalb erstaunlich weniger Sekunden klingelte sie Fräulein Serlbacher herein, deren auffällig unauffällige Erscheinung auf den ersten Blick nicht nur Kaffeemaschinenkenntnisse versprach.

Fred hatte den festen Boden unter den Füßen verloren. Ganz leicht, fast widerstandslos glitt er dahin. Das Blatt schnitt sanft die Welle, mühelos trennte der Bug das Wasser, um auf der kurzen Reise zum Heck an den lackierten Bootswänden welke Erinnerungen aufzufrischen. Der alte Nachen und der See, sie gehörten zusammen. Fred setzte die Flasche an den Mund, ganz gewiss, nun überhaupt nicht mehr zu verstehen, was passiert war. Einzig und allein sicher war: er und dieses rätselhafte Haus gehörten nicht zusammen. Genauso wenig wie er und sein Vater. An dieser Ansicht war nach wie vor nicht zu rütteln. Der „vorzügliche Hennessy“, wie ihn Jure-Gunnar am Ende der Testamentseröffnung und den nachfolgenden Erläuterungen angeboten hatte, konnte gar nicht so großzügig bemessen sein, wie ihn Fred gebraucht hätte. Der protzig bauchige Schwenker war gebührend seriös gefüllt.

Den Rest gab sich Fred nun Stunden später draußen auf dem See, der ihm mit jedem Gedanken, jedem Schluck fremder wurde. Der See und der Schnaps sollten ihn schützen, davor bewahren, vor allem bewahren. Doch wovor? Denn obwohl Fred seit einiger Zeit dem Flaschenboden entgegen trank, war er immer noch zu nüchtern, um sich nicht mehr zu ärgern. Nicht weil er Fragen stellen musste. Er war es gewohnt, frühzeitig Probleme zu erkennen, für seine Art der Gastronomie Profile zu erstellen, die ihm und ausschließlich ihm Vorteile brachten.

„Da wo ich bin, ist vorn!“ Diese Floskel wurde durch einen Zeitgenossen wie Fred Wirklichkeit. Nein. Was Fred fuchste, war, erkannt zu haben, sich diese Fragen auch noch selbst beantworten zu müssen. Wenn er allerdings ehrlich mit sich war - und das war er meistens, ganz anders als er mit anderen umging - steckte er in einem unerträglichen Dilemma. Er spürte genau, daß es so war.

Aber nicht, warum.