Toter Pfarrer - guter Pfarrer

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Bis auf Martin Häferle, den Vikar, waren ihnen die Anwesenden noch unbekannt. Frau Zoller, die Pastoralreferentin, hatte sich entschuldigen lassen. Eines ihrer Kinder war krank und sie musste mit ihm zum Hals-, Nasen- und Ohrenarzt. Seit Dominik Thiele selbst Vater war, hatte er für diese Situation viel mehr Verständnis als vorher.

Hannah Mellrich machte sich auf ihrem Notepad Notizen zu den Gesprächspartnern, die ihnen vorgestellt wurden und die sie mit knappem Handschlag begrüßten: Neben dem Organisten waren das Witold Koslowski (Hausmeister), Elke Goll-Fiedler (Leiterin des katholischen Kindergartens), Marie Walterscheid (Mesnerin), Reinhard Severin (Diakon), Monika Stickroth (Pfarrsekretärin) und Olga Tychin (Reinigungskraft). Diese Situation ergab sich bei jedem Fall, das wusste Hannah Mellrich. ‚Auf einmal hast du es mit vielen neuen Menschen zu tun. Verdächtige, Zeugen, Zufallsbekanntschaften. Musst dir viele Namen und Lebensläufe merken.‘ Die Notizen halfen ihr, sich die Personen schnell einprägen zu können. Sie notierte sich Stichworte, Zitate, alles, was den Namen ein Profil geben konnte.

‚Wie wird er vorgehen?‘, fragte sich Hannah Mellrich und blickte neugierig auf ihren Kollegen. Tatsächlich, diese Situation war neu für Dominik Thiele. Das waren Kellerts Auftritte gewesen. Immer. Er liebte sie. Genoss seine urplötzlich wie selbstverständlich vorgegebene Macht über verunsicherte Menschen. Die Kellert niemals ausnutzte. Es handelte sich um eine Macht im Dienst der Sache: der Aufklärung eines Kapitalverbrechens.

Thiele war nervös, ohne es sich anmerken zu lassen. Da saßen also diese acht Kirchenangestellten etwas verloren in dem viel zu großen Versammlungsraum des Gemeindezentrums von St. Korbinian. Der Raum war in den 1970er Jahren eingerichtet und seitdem im immer gleichen Zustand erhalten worden. Gepflegt, das ja. Aber über und über von Gebrauchsspuren gezeichnet. ‚Meine Mutter würde sich hier wohlfühlen‘, dachte Hannah Mellrich. ‚Ich nicht.‘ Irgendjemand hatte vier Tische zu einem Karree gestellt, auf einem fand sich ein Adventskranz, an dem zwei Kerzen entzündet waren. Die Polizistin hatte sich mit an einen der Tische gesetzt. Thiele stand. ‚Los!‘, ermahnte er sich selbst.

„Danke, dass Sie gekommen sind!“, begann er in freundlichem, aber bestimmtem Ton. „Ich weiß, sie alle haben viel zu tun. Wir werden Sie auch nicht lange aufhalten. Ich fürchte aber, dass ich mich mit Ihnen allen anschließend auch noch unter vier Augen unterhalten muss. Meine Kollegin, pka Mellrich, wird mich dabei unterstützen.“ Er lächelte seiner Begleiterin freundlich zu. ‚Nett, dass er mich erwähnt‘, dachte diese. ‚Und mich als Kollegin vorstellt, nicht als Mitarbeiterin.‘

„Bitte behandeln Sie die Informationen, die ich Ihnen geben werde, als vertraulich“, fuhr Thiele fort. „Das sind Interna, die diesen Raum nicht verlassen dürfen. Ich muss Sie zu Stillschweigen verpflichten!“ Nun schaute er nicht mehr so freundlich, sondern richtig streng, fand Hannah Mellrich. Doch, diese Haltung konnte er auch!

„Ihr Chef, Pfarrer Mooslechner, ist vergiftet worden. Es war kein Unfall, sondern Mord. Irgendjemand hat ihn umgebracht. Und wir werden herausfinden, wer das war. Genau dazu brauchen wir Ihre Mithilfe! Halten Sie keinerlei Informationen zurück, die uns helfen könnten. Bitte! Wir werden es ja doch herausfinden, glauben Sie mir! Aber dann mit einer Verzögerung, die Ihnen nicht hilft und uns auch nicht! “

Die beiden Kerzen flackerten sanft in einem Luftzug, der durch den klammen Raum zog. „Aber was sollen wir denn schon wissen?“, fragte Reinhard Severin, der sich als Diakon vorgestellt hatte. Ein weichlich wirkender Mittvierziger, der auf den ersten Blick so durchschnittlich aussah, dass man kaum Attribute fand, um ihn zu beschreiben. Sein Händedruck war derartig schwammig und kraftlos gewesen, dass Dominik Thiele fester zugedrückt hatte als für ihn üblich. Hannah Mellrich hatte ihre Hand schnell wieder zurückgezogen.

„Das überlassen Sie einfach mal uns“, entgegnete Thiele. „Immer im Plural reden!“, hatte ihm Bernd Kellert gleich nach seinem Amtsantritt mit auf den Weg gegeben. „Immer ‚wir‘, ‚uns‘, ‚unser‘. Nicht ‚ich‘, ‚mir‘, ‚mein‘. Wir stehen für die Polizei. Für den Staat. Für Recht und Ordnung. Wir!“ Und noch etwas hatte Thiele von seinem Chef gelernt: ‚Nicht lange drumherum reden. Gleich mitten rein, in die Vollen!‘

„Ihr Chef, Pfarrer Mooslechner, war Alkoholiker. Wussten Sie das?“, fragte Thiele nun unvermutet. Das stimmte so zwar nicht, aber er wollte sehen, welche Reaktionen er mit dieser Frage hervorrufen würde. Vier Augenpaare blickten ihn mit Unverständnis an, mit Blicken voller Fragezeichen. Die der Reinigungsfrau, der Pfarrsekretärin, der Kindergartenleiterin und des Diakons. Am ehesten hatte sich Vikar Häferle gefasst und murmelte nun: „Ich habe mir so etwas fast schon gedacht! Ja, das passt.“ Weitere Kommentare ließ er sich aber nicht entlocken.

Karsten Kaiser, der Organist, fingerte an dem ledernen Täschchen herum, in dem er seine Rauchutensilien mit sich herumtrug, vermied aber jeglichen Blickkontakt. Nur Witold Koslowski, der Hausmeister, und Marie Walterscheid, die Mesnerin, tauschten rasch einen gehetzten Blick aus. Der war Hannah Mellrich nicht entgangen. Ihre Aufgabe bestand ja darin, die Reaktionen der Anwesenden genau zu beobachten. Auch Dominik Thiele hatte den geheimen Austausch bemerkt. Der eben doch nicht geheim geblieben war.

Wortlos sah er die beiden streng an. Mit hartem Blick. Ohne die Augenlider zu bewegen. Marie Walterscheid, eine vielleicht siebzigjährige, nur knapp einssechzig große Frau in einem langen, abgetragenen, dunkelblauen Kostüm, knickte als Erste ein. Sie ertrug den Blick nicht. Bevor der Polizist sie dazu auffordern musste, stammelte sie. „Ich, wir, also Witold und ich, wir wussten davon. Aber ich glaube, niemand sonst. Und es war ja schon so lange vorbei. Der Herr Pfarrer hatte das doch im Griff.“ Witold Koslowski, im hellblauen Arbeitsanzug, ein glatzköpfiger Mann Mitte Sechzig, bestätigte in gebrochenem Deutsch: „Lange her. War früher. Kein Alkoholiker, der Pfarrer.“

Die fünf anderen sahen die beiden mit großen Augen an. Offensichtlich hatten die Mesnerin und der Hausmeister etwas verraten, was den Übrigen tatsächlich nicht bekannt war. Thiele hakte nach: „Woher wussten Sie beide denn davon?“ Marie Walterscheid wand sich. Es war deutlich, dass sie nichts Falsches sagen wollte. Und der polnische Hausmeister konnte oder wollte ihr nicht helfen. „Wissen Sie“, druckste sie, „der Herr Pfarrer ließ sich doch immer den Wein kommen. Aus Apulien, den roten. Von dem Weingut, das er da kannte. Santo Filippi, oder so.“

„Ja, und? Den brauchte er doch für die Messe!“, warf der Diakon ein. „Schon. Aber den hat er eben immer ausgetauscht“, gab die Mesnerin zu. „Er bestellte ja nur Flaschen mit Drehverschluss. Da fiel das nicht so auf. Wein raus, weggeschüttet, mit viel Wasser nachgespült, Traubensaft rein. So wird er das gemacht haben. Und in der Messe hat er eben immer nur Traubensaft benutzt. Schon seit Jahren.“

Mit großen Augen schauten die Angestellten der Gemeinde die alte, kleine, leicht vornüber gebeugt dastehende Mesnerin an. Die plötzlich um wenige Zentimeter zu wachsen schien. Sie stand nur selten im Zentrum der Aufmerksamkeit und schien die Situation inzwischen auch ein wenig zu genießen. „Wir haben ihn einmal überrascht“, ergänzte Marie Walterscheid, „der Witold und ich. Da roch es stark nach Wein in der Sakristei. Wir konnten es uns nicht erklären. Und dann standen da drei Packungen, wie nennt man die noch …“. „Tetra-Pack?“, schlug Karsten Kaiser vor. „Genau!“, bestätigte die Mesnerin. „Diese Behälter von Traubensaft. Leer. Wir haben uns gewundert. Uns in der Sakristei umgeschaut. Das war dem Herrn Pfarrer aber gar nicht recht.“

Sie schaute von einem zur anderen, suchte den bestätigenden Blick von Witold Koslowski. Der nickte ihr zu. „Aber dann hat er uns alles erklärt. Dass er mal Alkoholiker war, aber die Sucht überwunden hat. Und dass er niemals mehr etwas trinken will. Auch nicht in der Heiligen Messe. Und deshalb eben Traubensaft nimmt. Dass wir das aber nicht erzählen dürfen. Niemandem. Das haben wir ihm versprochen“, ergänzte sie. „Aber jetzt mussten wir es doch sagen, oder?“

Thiele nickte. „Ach, deshalb!“, entfuhr es dem Vikar, der sich mit der rechten flachen Hand gegen die Schläfe schlug. „Was, deshalb?“, fragte Hannah Mellrich nach, als Martin Häferle nicht weitersprach. „Deshalb gab er den Kelch nie an andere weiter! Nicht an mich, wenn ich mit ihm zelebrierte. Was ja fast nie der Fall war. Oder an Sie, Herr Diakon“, wandte er sich an Reinhard Severin, der die Aussage wortlos nickend bestätigte. „Obwohl das eigentlich so üblich ist“, fuhr der Vikar fort. „Aber ich dachte halt, dass das wieder einmal eine seiner Eigenheiten ist. Davon hatte er ja genug.“

‚Umso deutlicher wird es, dass die Vergiftung wirklich dem Pfarrer gegolten hat‘, ging es Thiele durch den Kopf. ‚Der Täter konnte sich ziemlich sicher sein, dass niemand anderes mit dem Gift in Berührung kommen würde. Falls er – oder sie – das Ganze tatsächlich sorgfältig geplant hat. Was wir ja immer noch nicht so ganz genau wissen.‘

„Stimmt“, mischte sich nun auch Karsten Kaiser, der Organist, mit seiner näselnden Stimme ein. „Jetzt wird mir einiges klar. Deswegen hat er auch den Laienkelch abgelehnt, obwohl das gar nicht zu seiner Einstellung gepasst hat!“ „Entschuldigung: Den was, bitte?“, fragte Hannah Mellrich dazwischen, die erkannt hatte, dass auch Thiele auf einmal ziemlich unsicher geschaut hatte. „Ach so, das kennen Sie nicht“, gab der Organist zurück. „Laienkelch. Das heißt, dass man ab und zu Brot und Wein an die ganze Gemeinde austeilt. Schließlich hat Jesus ja zu seinen Jüngern gesagt: ‚Nehmt und trinkt. Das ist mein Blut.‘“

 

Er blickte zum Vikar hinüber, der auf der anderen Seite des Tischvierecks saß: „Konservative Geistliche wollen das aber nicht. Obwohl es eindeutig in der Bibel steht. Die bleiben da lieber unter sich. Und Mooslechner wäre eigentlich bestimmt dafür gewesen. Aber klar: Wenn jemand immer nur Traubensaft benutzt …“

„Hatte er denn eigentlich einen Dispens?“, ereiferte sich Vikar Häferle, ohne auf die kleine Spitze des Organisten einzugehen, und gab sich selbst die Antwort: „Wahrscheinlich nicht. An so etwas hielt er sich nicht, der Herr Pfarrer. Das werde ich im Bistum melden müssen.“

„Tun Sie, was Sie nicht lassen können“, entgegnete Dominik Thiele, dem diese Spitzfindigkeiten zu weit gingen. „Aber denken Sie daran, dass Ihr Herr Pfarrer tot ist. Ermordet wurde.“ Er wandte sich nun zu der gesamten Gruppe. Dass Olga Tychin, die Reinigungskraft, den komplizierten Wortwechseln kaum folgen konnte, war ihm schon aufgefallen. Ihre Physiognomie und ihre Kleidung ließen neben dem Namen darauf schließen, dass es sich bei ihr um eine Aussiedlerin aus Russland oder der Ukraine handelte. Das würden sie später überprüfen.

Aber was war mit der Kindergartenleiterin, Frau – er blinzelte rasch auf seinen Notizzettel – Goll-Fiedler? Keinen Ton hatte sie bis jetzt gesagt. Dem Gespräch eher widerwillig gelauscht, so war es ihm vorgekommen. Kaum Augenkontakt zu den anderen gesucht. Sie war eine auffällige Erscheinung, Ende dreißig, attraktiv, hatte füllige braune Locken, war stilvoll gekleidet, deutlich geschminkt und wirkte in dieser eher tristen Umgebung fast ein bisschen fehl am Platz. Thiele sah sie an und sprach, ohne klar erkennbaren Adressat: „Gut, das hätten wir also geklärt. Bleibt nur die Frage, ob jemand mit Pfarrer Mooslechner Streit hatte. Mehr als normal.“

Die Augen der Anwesenden folgten seinem Blick, ohne dass dazu eine Aufforderung nötig gewesen wäre. Plötzlich starrten alle auf die bis dahin so teilnahmslos dasitzende Kindergartenleiterin, die das auch wahrnahm, zusammenzuckte, rot wurde und mit hektischer Stimme antwortete: „Was schaut ihr jetzt alle zu mir? Was soll das?“ Sie schluckte.

„Ja, gut! Dass ich meine Sträußchen mit dem Pfarrer ausgefochten habe, das ist ja kein Geheimnis. Aber das war doch nichts Besonderes. So etwas gibt es doch oft.“ „Worum ging es denn da?“, warf Hannah Mellrich ein, signalisierte mit ihrem Blick und ihrem Lächeln aber weibliche Solidarität und Wohlwollen. Das schien ihr in dieser Situation angeraten zu sein.

Dankbar nahm Elke Goll-Fiedler dieses Signal auf. „Ach, so Interna“, versuchte sie zunächst abzulenken, besann sich dann aber. „Ich nehme mal an, dass ihr“ – sie blickte in die Runde – „auf die Sache mit der Kommunionausteilung anspielt.“ Ein Nicken in der Runde bestätigte ihre Vermutung. „Also es ist ja so: Die Kommunion teilen ja nicht nur die Pfarrer aus. Sondern auch Laien, wenn sie dazu ausgebildet und beauftragt sind. So wie ich. Ich habe das gern gemacht. Wirklich gern. Man ist doch Teil des pastoralen Teams. Und die Kinder vom Kindergarten fanden das toll, mich da zu sehen. Da kamen sie immer besonders gern nach vorn, um von mir ein Kreuzzeichen und einen Segen zu bekommen. Zur Kommunion dürfen sie natürlich noch nicht.“

Sie hatte zu einer längeren Erzählung angesetzt. Die Thiele gerade nicht hören wollte. Also unterbrach er mit strengerer Stimme als normal: „Aber dann?“ Die Kindergartenleiterin sah ihn missbilligend an. Lieber hätte sie nach eigenem Gutdünken erzählt. Aber gut … „Dann gab es wohl Beschwerden, die beim Herrn Pfarrer eingingen“, gab sie zerknirscht zu. „Was für Beschwerden?“, hakte Thiele irritiert nach. Elke Goll-Fiedler verzog das Gesicht und blickte hilfesuchend zu den anderen.

Auch Pfarrsekretärin Monika Stickroth, sie mochte um die fünfzig Jahre alt sein, hatte sich bis jetzt aus dem Gespräch herausgehalten. Ein bisschen amüsiert, ein bisschen die Augen verdrehend hatte sie den Gesprächen gelauscht. ‚Mütterliche Ausstrahlung‘, notierte Hannah Mellrich. Nun fing die Sekretärin den Blick der Kindergärtnerin auf und sprang für sie ein: „Lassen Sie mich das mal so sagen. Die Elke kleidet sich gern modisch. Das steht ihr ja. Sie kann das gut tragen. Und so hat sie sich eben auch angezogen, wenn sie die Kommunion ausgeteilt hat. Und das hat einigen in der Gemeinde eben nicht gefallen. Die fanden das zu, zu aufreizend.“ Witold Koslowski, der Hausmeister, nickte demonstrativ mit dem Kopf. Mit vorsichtiger Stimme schaltete sich nun die Mesnerin ein, Marie Walterscheid: „Na ja, der Ausschnitt muss ja nun auch nicht unbedingt zu tief sein, oder? Und der Rock nicht zu kurz. Oder mit seitlichem Schlitz. Und die Absätze der Schuhe nicht zu hoch und schmal. Oder? Da hat man doch würdevoll gekleidet zu sein. Da kann man die Leute schon verstehen.“

Elke Goll-Fiedler schüttelt nun ihrerseits augenverdrehend den Kopf. ‚Oh, oh! Der Konflikt ist noch überhaupt nicht beendet‘, dachte Hannah Mellrich. Sie warf ein: „Und wie hat der Pfarrer reagiert?“ Die Kindergartenleiterin erwiderte: „Zunächst gar nicht. Er hat mich informiert. Fand das Ganze aber völlig übertrieben. Und ich bin ja nun wahrlich nicht extrem aufgetreten. Meine Güte, geht mal in die Städte, nach Frankfurt oder München! Aber hier im provinziellen Polzingen machen sie gleich einen Skandal daraus. Haben ja nichts anders zu tun, als sich die Mäuler zu zerreißen.“

Marie Walterscheid wollte darauf antworten, aber Kommissar Thiele hatte kein Interesse an diesem Klein-Klein-Gezänk. „Und wie ging das Ganze weiter?“, warf er ein. Die Mesnerin verzog beleidigt den Mund. Elke Goll-Fiedler versuchte nun eine Bündelung: „Am Ende hat Pfarrer Mooslechner mich gebeten, eine kleine Pause als Kommunionhelferin einzulegen. Nur vorübergehend. Der Druck wurde ihm zu groß. Immer wieder wurde er mit Beschwerdebriefen bombardiert. Die meisten anonym. Einige wohl in einem völlig unmöglichen Ton. Er gab mir die natürlich nicht zu lesen. Und das war auch besser so.“

Sie schüttelte erneut den Kopf. Die Erinnerung regte sie immer noch auf. „Ich habe ihm dann gesagt, dass ich da ganz aussteige. Das habe ich nun wirklich nicht nötig, mich mit dieser spießigen Kleingeistigkeit hier auseinanderzusetzen. Aber für die Kinder hat es mir leidgetan. Und ich hätte mir von ihm mehr Kampfgeist erhofft. Sollen sie doch lästern. Ihn selbst hat es doch gar nicht gestört. Warum auch? Aber er hatte keine Kraft. War müde. Verständlich, aber schade.“ Sie blickte sich um. „Das ist jetzt schon fast zwei Jahre her! Und ihr regt euch immer noch darüber auf. Unfassbar! Egal. Jetzt habe ich es jedenfalls gesagt. Vor ‚aller Welt‘. Zufrieden?“

Die anderen Mitglieder der Gemeinde von St. Korbinian vermieden den Augenkontakt. Nur die Pfarrsekretärin Monika Stickroth versuchte ein solidarisches Lächeln. Das Schweigen der anderen reizte die Kindergartenleiterin aber umso mehr. „Also gut, dann sage ich euch jetzt etwas, was ihr noch nicht wisst. Warum soll ich das nicht gerade jetzt loswerden?“ Unsicher blickten sich die Gemeindemitglieder unter niedergeschlagenen Lidern an. Was würde jetzt noch passieren? Thiele und Mellrich tauschten einen blitzschnellen Blick: ‚Gut so. Nur zu!‘

Elke Goll-Fiedler hatte nun ein überlegenes, kaltes Lächeln aufgesetzt. Jetzt hatte sie die Regie übernommen. Diese Rolle gefiel ihr deutlich besser als das In-die-Eckegedrückt-Werden, das ihr zuvor zugefallen war. „Es gab, es gibt da noch etwas. Ich muss Ihnen“ – sie blickte auf beide Polizeibeamten – „dazu kurz den Hintergrund erläutern.“ ‚Bitte kurz!‘, hoffte Thiele.

„Also das ist so: Die Gemeinden wurden ja zusammengelegt zu diesem Pfarrverband. Und in dem Rahmen wurden auch die einzelnen Kindergärten in einer größeren Trägergesellschaft zusammengeschlossen. Toller Name: ‚Kindertagesstätten Selige Lissi von Friedensberg‘.“ „KITALIFE“, rief Karsten Kaiser, der Organist, dazwischen, „KitaLife“ schob er auf Englisch nach und grinste süßsäuerlich.

„Wie?“, wandte sich Thiele ihm strengblickend zu. „Ach, sorry, das ist mir so herausgerutscht“, entschuldigte sich Kaiser und nestelte an seinem schwarz glänzenden Beutel mit den Rauchutensilien. „KITALIFE, diesen tollen Namen haben sie dem Verband gegeben.“ Thiele schüttelte unwillig über die Unterbrechung den Kopf. Das steuerte kaum Produktives zum Fall bei. Er blickte wieder aufmunternd zu der Kindergartenleiterin und die nahm sein Signal auf. Aber sie war durch den Zwischenruf aus dem Konzept gekommen.

„Ja, also: Wo war ich?“, überlegte sie laut. „Richtig: Ja, und da habe ich mich um eine der Leitungspositionen beworben. Mein Mann ist arbeitslos, wissen Sie?“, wandte sie sich an den Kommissar, ohne eine Antwort von ihm zu erwarten. „Und Kinder haben wir nicht. Das soll halt nicht sein. Also kann ich ja mehr arbeiten. Und würde das auch gern. Aber Pfarrer Mooslechner hat mich nicht unterstützt. Hielt mich nicht für widerstandsfähig genug, hat er gesagt. Und nicht teamfähig. Oder er sah keine Chance, für mich in den zuständigen Gremien eine Mehrheit durchzusetzen. Was weiß ich. Ehrlich, das war unfair!“

Der Zorn und die tiefe Kränkung waren ihr immer noch deutlich anzusehen. „Jetzt bin ich nur noch einfache Kindergärtnerin mit Leitungsaufgaben hier vor Ort. Schlechter bezahlt als vorher. Und habe eine Chefin vor der Nase, die einfach keine Ahnung hat. Aber mit der neuen Leitung gut kann. Anbiedernd. Sitzt in Friedensberg, zieht die fette Kohle ab, kommandiert und lässt uns mit unseren Problemen vor Ort im Stich. Klar, da bin ich sauer.“

Sie schüttelte den Kopf. Ihre Miene hatte sich verdüstert. Auf der Stirn und auf beiden Seiten der Nase hatten sich Falten gebildet und trotz des Make-ups tief eingegraben. Doch plötzlich entspannte sie sich. „Aber nicht mehr lange“, fuhr Elke Goll-Fiedler triumphierend fort. „Zum ersten März wechsele ich zur AWO nach Friedensberg. Als Leiterin. Die haben bessere Arbeitsbedingungen und zahlen mehr. Dann war es das hier. Dann seid ihr mich los!“, rief sie triumphierend in die Runde und schüttelte ihre braunen Locken.

„Oh, das wusste ich ja noch gar nicht“, schaltete sich Monika Stickroth ein. Sie beugte sich vor, öffnete die Handflächen und ergänzte: „Das ist aber schade, Elke. Wir würden dich nur ungern verlieren. Was soll denn der Sopran im Kirchenchor ohne dich machen?“ Sie wandte sich an die Polizisten: „Sie hat eine wunderbare, klare Singstimme, müssen Sie wissen!“ Ohne Unterbrechung ihres Sprachflusses wandte sie sich dann wieder an die Erzieherin: „Ist denn da schon das letzte Wort gesprochen?“

„Ja, Monika. Die Sache ist durch. Aber danke für deine Worte. Und im Kirchenchor werdet ihr schon ohne mich auskommen.“ Sie lächelte der Pfarrsekretärin zu. Offenbar kannten sie sich näher. ‚Eine Duzbeziehung‘, notierte sich Hannah Mellrich.

„So, Herr Kommissar, jetzt sind Sie im Bilde“, wandte sich Elke Goll-Fiedler an Thiele. „Zufrieden?“ Ihre Gesichtszüge hatten sich entspannt. Eine große Last war ihr von der Seele genommen, das sah man. Thiele verzog keine Miene, schüttelte kaum merklich den Kopf und blickte in die ziemlich betreten dasitzende Runde. „Gibt es sonst noch etwas, das ich wissen müsste?“, fragte er. „Überlegen Sie gut!“ Aber er traf nur auf leere Blicke. Im Moment gab es hier nichts weiter zu besprechen.

10.

Kommissar Thiele entließ seine Gesprächspartner. Er bat Hannah Mellrich darum, ihren Chef, Bernd Kellert, über die Ereignisse zu informieren und schickte sich seinerseits an, auf das Polizeirevier nach Friedensberg zu fahren, da fiel ihm doch noch etwas ein. „Ach, Herr Häferle, bleiben Sie doch bitte noch einen Moment! “, rief er dem Vikar zu, der gerade schon dabei war, den großen Saal des Gemeindezentrums zu verlassen. Widerwillig kehrte der damit Angesprochene noch einmal in den Saal zurück. „Was gibt es denn noch? Ich habe zu tun. Wir haben gleich Firmgruppentreff“, brummte er vor sich hin, ohne seinen Missmut über die erneute Verzögerung zu verbergen.

Thiele ließ sich dadurch nicht aus der Ruhe bringen. „Kommen Sie, es muss auch gar nicht lange dauern. Setzen wir uns doch noch einmal“, wies er den Vikar mit klarer Aufforderung an und leitete ihn in eine Ecke des Raumes, in der einige bequemere Sessel standen. Die hatten freilich schon bessere Tage gesehen. Durchgesessen, abgeschabt und fleckig scharten sie sich um ein niedriges quadratisches Tischchen, das ähnliche Gebrauchsspuren aufwies. Jemand hatte die Kerzen des Adventskranzes ausgeblasen. Nun hing ein leichter Duft von Bienenwachs in der muffigen und kühlen Luft des unwirtlichen Raumes.

„Sie haben sich nicht besonders gut mit Ihrem Chef verstanden, oder?“, eröffnete der Kommissar das Gespräch. „Nein, da haben Sie recht“, antwortete der Vikar, der sich mit skeptischem Blick auf einem der Sessel niedergelassen hatte. „Wir waren sehr verschieden. In allem. Das kann man auch offen so sagen. Das ist kein Geheimnis.“

 

„Verschieden? Wie meinen Sie das?“, fragte Thiele nach. „Nun ja“, Häferle druckste herum, suchte nach den richtigen Worten. „Das hatte etwas zu tun mit den unterschiedlichen Generationen. Diese 68er, das waren eher Sozialarbeiter. Vielleicht Psychologen. Aber das ist doch nicht unsere Hauptaufgabe. Wir Priester verwalten das Geheimnis Gottes. Uns sind die ewigen Heilszeichen anvertraut, die Sakramente. Wir feiern die Heilige Messe. Wir sind die Stellvertreter Christi auf Erden. Wir sind nicht ganz von dieser Welt, verstehen Sie?“

Dominik Thiele hörte den etwas abgehobenen Ausführungen seines Gegenübers zu. ‚Nicht ganz von dieser Welt? Ja, das scheint mir auch so. Aber anders, als du das denkst!‘, ging es ihm durch den Kopf. ‚Ich kann mir ziemlich genau vorstellen, wie Ena über den denken würde‘, dachte er. Seine Frau Verena war Religionslehrerin am Karl-Rahner-Gymnasium in Friedensberg. Und sie kannte diese Typen von jungen Priestern ganz genau, hatte ja mit ihnen zusammen studiert. Sie schätzte vieles anders ein, völlig anders, das wusste er. Er selbst hielt sich aus solchen Fragen jedoch heraus. Nicht seine Welt.

„Also haben Sie sich oft gestritten?“, schloss er seine Gedanken an. „Ganz ehrlich: nur am Anfang“, erwiderte der Vikar. „Ich bin jetzt seit zweieinhalb Jahren hier. Und bleibe vielleicht noch ein, höchstens eineinhalb weitere Jahre. Was soll man sich da groß streiten? Das ist doch alles absehbar. Dann werde ich selbst irgendwo im Bistum Pfarrer und bin mein eigener Chef. Nein, nein …“, er schüttelte den Kopf. „Wir wussten schnell, was wir voneinander zu halten haben, und sind uns dann aus dem Weg gegangen, so gut es ging. Er machte seins, ich meins.“

„Moment mal: Aber Mooslechner war doch Ihr Chef? Da hatte er bestimmt so etwas wie eine Weisungsbefugnis, oder?“, unterbrach Thiele den Vikar. Aber der lächelte nur und antwortete: „Weisungsbefugnis? Ja, das schon. Aber was sollte er schon machen? Zwingen konnte er mich zu nichts, zu gar nichts. Anweisungen? Was, wenn ich dem einfach nicht folge? Und sich beim Bischof beschweren? Der Bischof ist doch froh, dass es überhaupt noch junge Priester gibt. Man kann uns ja inzwischen bald an einer Hand abzählen. Ist doch so!“

Er grinste breit und räkelte sich. „Die Herren im Ordinariat tun doch alles, dass wir zufrieden sind. Wir, wir stehen für die Zukunft des Bistums. Nicht die Mooslechners. Deren Zeit ist abgelaufen. Von Gestern sind die. Sehen das aber einfach nicht ein. Reden von den ‚Zeichen der Zeit‘, die sie, nur sie erkennen. Nur leider sind das eben ‚die Zeichen der Zeit‘ ihrer Jugend. Nicht die von heute. Man sieht ja, wohin das geführt hat. Die Kirchen sind leer. Die größte Sorge des Bischofs ist es, dass ihm keiner seiner jungen Priester von der Fahnenstange geht. Er weiß, dass er uns braucht. Und wir wissen, dass er das weiß. So ist das.“ Er lächelte undurchschaubar und ergänzte: „Jetzt war ich mal ganz offen.“ ‚Sonst anscheinend nicht‘, schlussfolgerte Thiele.

„Aber, Herr Kommissar, jetzt sage ich Ihnen mal was: Ja, ich war und bin in vielem anderer Meinung als Mooslechner und seine Gefährten im Geist. Oder als viele dieser Reformgrüppchen, die die Kirche verändern wollen. Wenn ich das schon höre, ‚synodaler Weg‘, oder wie immer sie ihre kleinen Reförmchen nennen! Als ginge es dabei um Demokratie. Oder um Anpassung an die jeweilige Gegenwart. Wir, wir vertreten die Wahrheit. Das ist etwas Anderes. Die Wahrheit liegt nicht in unserer Hand …“

Er hatte angefangen zu predigen. Darauf hatte Thiele keine Lust: „Was wollten Sie mir sagen?“, fuhr er ihm in die Parade. Vikar Häferle zuckte zusammen, fasste sich und erwiderte. „Richtig! Entschuldigen Sie. Manchmal geht es mit mir durch. Was ich sagen wollte: Ich bin tief erschüttert über den Tod meines Kollegen. Meines Mitbruders. Wirklich! Auch wenn das vielleicht auf Sie nicht so wirken mag. Ein Pfarrer wird ermordet. Mitten in Deutschland! Das hätte ich nie für möglich gehalten. Und dann noch direkt mein Chef! Ich muss mich zusammenreißen. Stark sein. Im Gebet hole ich mir Kraft. Aber in mir sieht es wüst aus. Leer. Ein Tohuwabohu. Ich wollte, dass Sie das wissen.“

Der Vikar malte mit dem rechten Zeigefinger auf der Platte des niedrigen Tischchens abstrakte Figuren. Tatsächlich, in der blassen Staubschicht zeichneten sich Muster ein. Das konnte man auch in dem immer dunkler werdenden Zwielicht des Pfarrsaals erkennen. „Kennen Sie Oscar Romero?“, fragte Häferle unvermittelt. Thiele schüttelte den Kopf. „Erzbischof war der. Von El Salvador“, erklärte der Vikar. „Der wurde 1980 mitten im Gottesdienst erschossen. Vor den Augen seiner Gemeinde. Wurde vor Kurzem heiliggesprochen. Aber das war eben in Mittelamerika, weit weg. Und der war politisch. Das sollte ein Priester nicht sein. Nicht, dass das den Mord entschuldigt. Aber verstehen kann man das schon.“

Thiele schüttelte den Kopf. Nein, das konnte, das wollte er nicht verstehen. Vikar Häferle spürte den Widerwillen des Kommissars und lenkte ein. „Egal, wie man darüber denkt. Das stammt irgendwie aus einer anderen Zeit und einer anderen Welt. Nicht restlos aufgeklärt die Sache, bis heute. Aber es hatte nichts mit uns hier und heute zu tun. Dachte ich. Aber dann passierte die Sache mit Jacques Hamel in Frankreich. Sie haben doch bestimmt davon gehört?“

Der Kommissar überlegte. Doch, der Name sagte ihm etwas. Aber genau erinnern konnte er sich nicht. „Helfen Sie mir auf die Sprünge“, forderte er den Vikar auf. „Gern. Also da war dieser fünfundachtzigjährige Priester, Jaques Hamel. Immer noch im Amt, in Frankreich gibt es ja keine staatliche Versorgung für Priester, da geht man nicht in den Ruhestand. Da gibt es keine Rente. Irgendwo in einem Dorf bei Rouen, glaube ich. Na ja, und dem haben zwei islamistische Terroristen in einer Morgenmesse die Kehle durchgeschnitten. In der Messe. Vor den handverlesenen Gottesdienstbesuchern, die als Geiseln gehalten wurden. Neunzehn waren die beiden Täter, neunzehn! Und das Ganze war im Juli 2016!“

Ein Zittern lief durch seinen Körper. Diese beiden Fälle waren für ihn nicht irgendwelche Schreckensnachrichten aus dem Fernsehen, das war klar. Das ging ihm unter die Haut. „Verstehen Sie? Das waren Priester wie ich, Männer Gottes! Das war nicht eine Geschichte aus dem finsteren Mittelalter, das ist jetzt. Und hier. Seitdem sehe ich unseren Dienst noch einmal durch eine neue Brille, Herr Kommissar!“

„Aber die Fälle liegen doch ganz anders, oder?“, erwiderte Thiele, der sich dessen jedoch gar nicht so sicher war. Häferle blickte den Polizisten mit geweiteten Augen an. „Was wollen Sie da vergleichen, was nicht?“, fragte er. „Natürlich haben Sie Recht: Bei Mooslechner stecken keine machtgierigen Großgrundbesitzer dahinter oder Islamisten. Beides gibt es nicht in unserem Bistum. Erst recht nicht in Polzingen. Aber tot ist tot, oder? Mord bleibt Mord, nicht wahr?“

Thiele nickte zögerlich. „Das ist das Einzige, was derzeit feststeht, ja!“ Häferle räusperte sich. „Eines sollten Sie aber berücksichtigen, Herr Kommissar. Ein Mitbruder war es sicherlich nicht. Denn dass ein Priester einen Mitbruder ermordet hätte in der jüngeren Vergangenheit, weltweit, davon wüsste ich nichts. Wir sind Männer des Friedens. Des klaren Wortes, aber der Gewaltlosigkeit. Des Streites, wenn es sein muss, aber mit Argumenten. Des Gebetes, nicht des Schwertes. Selbst in größtem Unrecht. Nur, falls Ihre Gedanken in diese Richtung wandern sollten.“ In der Tat, diese Idee hatte Thiele erwogen. Das würde er auch weiterhin tun, um nichts auszuschließen, bevor nicht das Gegenteil erwiesen wäre. Aber für wahrscheinlich hielt er diese Möglichkeit nicht. Erst recht nicht nach diesem Gespräch.

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