Toter Pfarrer - guter Pfarrer

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„Nichts. Ich rieche nichts!“, entgegnete Kellert verwundert, nachdem er einige Zeit lang versucht hatte, etwas Besonders zu erschnuppern. Spuren von Weihrauch, Bienenwachskerzen, Tannengrün, Staub, abgestandener Luft, aber sonst? „Riechen Sie das wirklich nicht?“, fragte der Mediziner, schnupperte seinerseits noch einmal, erklärte dann: „Ein klarer Hauch von Bittermandel. Ganz typisch. Ich tippe auf Kaliumcyanid. Also: Zyankali.“

„Nichts“, wiederholte Kellert, nachdem er seine Bemühungen noch einmal wiederholt hatte. Er schaute verdutzt auf den Arzt. Wollte der ihn auf den Arm nehmen? Dr. Bregnitzer lachte einmal auf, trocken, kurz, freudlos. „Keine Sorge, Herr Kommissar. Das kann schon sein, dass Sie nichts riechen. So ist das nämlich bei diesem Stoff. Den riecht nur jeder Dritte. So ungefähr. Alle anderen nehmen nichts wahr. Gar nichts. Komisches Zeug. Aber absolut tödlich. Das wissen Sie ja. Ich wette: Zyankali. Aber das wird die Obduktion noch genauer klären.“

Aus den Augenwinkeln sah Kellert, dass Tino mit weit aufgerissenen Augen dem Gespräch von Arzt und Kommissar gelauscht hatte. Immer wieder fiel sein Blick auf die am Boden liegende Leiche. Der Junge schnupperte, versuchte offenbar den Geruch selbst wahrzunehmen. Das war aber über die fünf, sechs Meter Abstand nicht möglich. ‚Ich sollte ihn wegschicken‘, dachte Kellert, ‚er ist ja total verstört.‘

In diesem Moment hörte man die rasch näherkommenden Warntöne von Polizeisirenen. Wenig später stürmten vier Streifenpolizisten und zwei in Schutzanzüge gekleidete Mitarbeiter der Spurensicherung in den Kirchenraum, angeführt von Kriminalkommissar Dominik Thiele und Hannah Mellrich, Kommissariats-Anwärterin in seiner Dienststelle. Beide waren die engsten Mitarbeiter von Hauptkommissar Kellert.

Der blickte hoch: „Dominik! Hannah! Gut, dass ihr da seid. Tod durch Vergiftung. Ihr wisst ja, was zu tun ist. Tatort sichern, Spuren aufnehmen, Zeugen befragen – die ganze Palette.“ Verblüfft schaute Thiele zu seinem Chef. Wie kam der denn hierher? Er, Thiele, seit neun Monaten zum Kriminalkommissar befördert, hatte doch Bereitschaftsdienst!

„Bernd, was machst du denn hier?“, fragte er entgeistert, während sie sich kurz und kräftig die Hand schüttelten. „Ach, ja!“, er tippte sich mit der rechten Hand an die Stirn, „du wohnst ja hier gleich um die Ecke!“, fiel es ihm dann ein. „Das hatte ich jetzt in der Hektik ganz vergessen.“

Hannah Mellrich wies die Kollegen in ihre Aufgaben ein. Die Streifenpolizisten nahmen die Personalien der Gottesdienstbesucher auf, sprachen kurz mit ihnen, schickten sie dann nach Hause. Man konnte mit Händen greifen, wie schockiert und verwirrt die Leute waren. Als sei das alles nur ein böser Traum. Die Kollegen von der Spurensicherung grenzten unterdessen den Altarraum ein und begannen damit, mögliche Spuren zu sichten.

So konnte Bernd Kellert seinen Mitarbeiter kurz zur Seite nehmen. „Mensch, Dominik, du siehst fertig aus. Müde. Überarbeitet. Gestresst. Du hast Ringe unter den Augen, ehrlich. Was ist denn los?“ „Was, sieht man das so deutlich?“, gab Dominik Thiele sichtlich getroffen zurück. „Du weißt doch, Bernd: Julian. Der hat seine Dreimonatskoliken. Schreit durch, die ganze Nacht. Da kann man kaum etwas machen. Spazierengehen, herumtragen, summen, wiegen. Alles versucht. Vergebens. Verena und ich wechseln uns immer ab. Im Zweistundenrhythmus. Damit jeder wenigstens zu einem kleinen bisschen Schlaf kommt. Aber trotzdem: Da bist du morgens wie gerädert. Und freust dich geradezu auf die Ruhe bei der Arbeit.“

Sein Chef musste grinsen. Doch, er konnte sich durchaus noch daran erinnern, wie das gewesen war, als seine eigenen Kinder auf die Welt gekommen waren. Lange her. Aber diese mühsamen Phasen vergaß man einfach. Die positiven Bilder blieben. So war das zumindest bei ihm. Schöne Erinnerungen. Lange her. „Du Armer“, versuchte er Dominik Thiele zu trösten. „Wie gut, dass wir Hannah haben. Die schmeißt den Laden zur Not auch allein.“

Die Kommissar-Anwärterin war vor über einem Jahr zu ihrer Dienststelle abkommandiert worden. Kellert hatte eigentlich keine weibliche Mitarbeiterin im Team gewollt. Aber inzwischen hatte er sie durchaus zu schätzen gelernt. Dominik Thiele war vor zehn Wochen erstmals Vater geworden. Seine Frau, Verena, hatte einen gesunden Buben zur Welt gebracht und seinen Namen vorgeschlagen: Julian. Dominik Thiele hatte zugestimmt. Auch zur Taufe des Babys, die vor zwei Wochen im Dom von Friedensberg stattgefunden hatte. Bernd Kellert war natürlich auch eingeladen gewesen. Nur hatte er seinen Mitarbeiter nicht ganz so derangiert in Erinnerung.

„Da hilft nur warten“, gab der Hauptkommissar nun zum Besten. „Wenn ich mich richtig erinnere. Sobald das Kind drei Monate alt wird, hört das auf. Schlagartig. Bis dahin hilft nur Durchhalten.“ ‚Dass du dich mal mit einem Kollegen über den Umgang mit Kleinkindern austauschen würdest, hättest du vor Kurzem auch nicht gedacht. Und das nur wenige Meter neben einer Leiche‘, ging es ihm durch den Kopf. Er verzog das Gesicht zu einer schwer deutbaren Grimasse.

Inzwischen war nur noch Dr. Bregnitzer im Kirchenschiff geblieben. Außer den Polizeibeamten natürlich. Der Arzt kam nun auf die beiden Kommissare zu und wandte sich an Kellert: „Was machen wir mit dem Adventskranz?“ Kellert blickte ihn fragend an. Dann antwortete er: „Die Kerzen auspusten. Wie die anderen auch.“

4.

Montagmorgen. Dr. Werner Jacobs war schon seit fast zwanzig Jahren Polizeipräsident von Friedensberg, zuständig für den ganzen Landkreis. In drei Jahren würde er in den Ruhestand gehen, aber diese Perspektive lähmte seinen Arbeitseifer in keinster Weise. Die Polizei von Friedensberg hatte eine der höchsten Aufklärungsquoten in Deutschland, darauf war er stolz. Und das sollte sich unter seiner Ägide auch nicht ändern.

Er hatte einige Mitarbeiter zu einer Dienstbesprechung in dem dafür vorgesehenen, nüchtern-zweckmäßig eingerichteten Büro versammelt. Sie trugen die Erkenntnisse zum Fall des ermordeten Pfarrers zusammen. „Tod durch Vergiftung, kein Zweifel“, fasste Dominik Thiele die Faktenlage zusammen. „Zyankali, auch das steht nun definitiv fest“, ergänzte Hannah Mellrich. „Mal was Neues bei uns, oder?“, fügte Lena Winter-Drexler hinzu, die Kommissariats-Sekretärin, die der Präsident überraschend zu der Sitzung hinzugebeten hatte.

„Das hatte der Arzt, der vor Ort war, dieser Dr. Bregnitzer, ja gleich vermutet“, warf Kellert ein. „Ich tippe mal, dass der Messwein damit versetzt war“, fügte er hinzu. „Also ich weiß nicht, ob das stimmen kann“, überlegte Hannah Mellrich. „Ich habe mich da noch einmal schlau gemacht. Zyankalikristalle lösen sich schnell und problemlos in Wasser auf, in alkoholhaltigen Flüssigkeiten aber nicht. Und Messwein“ – sie blickte in die Runde – „enthält doch wohl Alkohol, oder nicht?“

Kellert wirkte überrascht. Daran hatte er nicht gedacht. Auch die anderen überlegten einen Moment lang. „Nun, warten wir die Analysen der Obduktion und der kriminaltechnischen Untersuchung ab. Natürlich habe ich Reste des Weins aus dem Kelch dem Labor zur Analyse gegeben. Das meiste war ja verschüttet, aber eine kleine Lache konnten wir noch sicherstellen. Und Kristalle waren da bestimmt nicht dabei. Das hätte dieser Pfarrer, also Vitus Mooslechner, doch auch bemerkt. Hmmm? Da stimmt etwas nicht! Aber was? Das werden wir schon noch herausbekommen.“

Der Polizeipräsident, am Kopf der u-förmig gestellten Tische sitzend, nickte. „Gut, Herr Kellert. Mitten im Fall. Schön! Sie haben natürlich schon die Federführung der Aufklärung übernommen. Richtig so. Hiermit beauftrage ich Sie auch ganz offiziell mit der Leitung der Untersuchung. Thiele und Mellrich unterstützen Sie, so wie immer. Und Frau Winter-Drexler“ – er blickte zu der bald sechzigjährigen Sekretärin – „steht ihnen mit ganzer Arbeitskraft zur Verfügung.“

Die künstlich blond Gefärbte blickte überrascht auf. Normalerweise war sie für das ganze Morddezernat zuständig. Da gab es ständig viel zu tun. Dass sie sich auf einen Fall konzentrieren sollte, war absolut ungewöhnlich. Auch Kellert und Thiele blickten verwundert zu ihrem Chef.

Der räusperte sich. „Verstehen Sie: Ich will, dass wir den Fall so schnell wie möglich aufklären. Auf jeden Fall vor Weihnachten. Nein: diese Woche noch! Jeder Tag zählt. Die Presse sucht doch nur nach Aufhängern für sensationelle Schlagzeilen zu Weihnachten. ‚Toter Priester/Stille Nacht‘ oder ‚Mord am Adventskranz‘ – was weiß ich, was die sich alles ausdenken. Diese Story sollen sie nicht aus Friedensberg bekommen. Nicht von hier. Verstanden?“

Er blickte sich um. Sein Blick drückte absolute Entschlossenheit aus. „Wenn nötig, stelle ich Ihnen weiteres Personal zur Verfügung, Kellert! Sie melden sich bei mir!?“ Der Angesprochene nickte. Mit einer Handbewegung deutete Dr. Jacobs an, dass die Besprechung beendet war. Die Mitarbeiter erhoben sich und verließen den Raum.

„Äh, Kellert“, Dr. Jacobs hielt den Kriminalhauptkommissar zurück, „noch ein Wort. Das ist immer heikel, diese Zusammenarbeit mit der Kirche. Gerade hier bei uns, in einer Bischofsstadt.“ Kellert stand in der geöffneten Tür, während sein Vorgesetzter immer noch auf seinem Stuhl saß. „Heikel“, wiederholte der Polizeipräsident. „Da ist die öffentliche Neugier besonders groß. Und es ist eben doch eine eigene Welt. Mit eigenen Gesetzen, scheint mir.“

Er blickte Kellert sympathie-heischend in die Augen: „Eben habe ich einen Anruf erhalten. Vom Herrn Bischof höchstpersönlich. Er bittet um äußerste Diskretion und um die Vermeidung aller Gerüchte. Nicht, dass das nötig gewesen wäre, wir verstehen uns, Kellert! Sie sind mein bester Mann. Und ich bin froh, dass Sie im Umgang mit dieser Welt einige Übung haben. Wenn ich mich richtig erinnere: Erst ein Professor der Theologischen Fakultät, dann der Regens des Priesterseminars, schließlich der Chef des Domgymnasiums im Frühjahr des nun ausklingenden Jahres – und nun ein Pfarrer. Noch dazu der von der Gemeinde, in der Sie wohnen!“

 

Dr. Jacobs schmunzelte, fügte dann an: „Fast könnte man meinen, dass Sie solche Fälle anziehen.“ Kellert grinste säuerlich, verkniff sich aber jegliche Erwiderung. Sein Chef spürte, dass er seinem Mitarbeiter etwas zu nahegetreten war, lächelte Kellert aufmunternd zu und brachte das Gespräch jovial zu Ende: „Jedenfalls wünsche ich Ihnen viel Fingerspitzengefühl bei der Aufklärung. Und baldigen Erfolg.“ Damit war auch Kellert entlassen. ‚Schon seltsam‘, dachte dieser auf dem Weg über mehrere Treppenhäuser und Flure in sein Büro. ‚Tatsächlich mein vierter Fall im kirchlichen Milieu. Darauf hätte ich gern verzichten können. Aber man kann es sich ja nicht aussuchen.‘

„Lena, bitte stellen Sie mir alles zusammen, was Sie über Priester-Morde in Erfahrung bringen können“, rief er der Kommissariats-Sekretärin im Vorbeigehen an deren Büro zu. Er wusste, dass er sich auf ihre Recherchen verlassen konnte. Lena Winter-Drexler arbeitete schnell, präzise und zuverlässig. Ihre Mitarbeit war ihm sehr recht. Er wollte bei diesem Fall unbedingt breit ansetzen. Nicht, dass er gleich von Anfang an etwas übersah.

Kellert hörte das knappe „Wird gemacht, Chef“, drehte sich dann jedoch noch einmal um, blickte durch die Tür hinein zu seiner in jahrelanger Kooperation vertrauten Mitarbeiterin, schenkte der Sekretärin ein Lächeln und fügte hinzu: „Sie wissen ja: in Papierform.“ Ihr Chef, das wusste Lena Winter-Drexler nun wirklich, konnte mit Dateien wenig anfangen. Er brauchte Ausdrucke, Papier, etwas, das man in die Hände nehmen, lesen, unterstreichen, markieren konnte.

„Komm, wir fahren raus nach Polzingen“, rief Kellert Thiele zu, kaum dass er den gemeinsamen Büroraum betreten hatte. „Hannah, kommen Sie bitte auch mit!“, ergänzte er, als Hannah Mellrich das Zimmer betrat. Die Kommissariats-Anwärterin, achtundzwanzig Jahre alt, kurzer blonder Haarschnitt, war inzwischen zu einem festen Baustein ihres Teams geworden. Kellert hatte sich fast daran gewöhnt, täglich mit einer Frau zusammenzuarbeiten. Fast.

„Ich habe gleich mehrere Gesprächstermine ausgemacht“, erklärte Kellert. Thiele, etwas größer als sein Chef, fünfzehn Jahre jünger, auch er athletisch, kurzhaarig, aber mit akkurat gestutztem Dreitagebart, hatte damit schon gerechnet. „Auf geht’s“, gab er zurück, schnappte sich den Autoschlüssel des Dienstwagens und die Dienstjacke und folgte seinem Chef zur Tiefgarage. Hannah Mellrich schloss sich den beiden an, ohne ein Wort zu sagen. Denn das war nicht erforderlich.

5.

„Wer bringt bloß einen alten, freundlichen, grundanständigen Priester um?“, sinnierte Kellert auf dem Beifahrersitz vor sich hin, während Thiele den Dienst-BMW gewohnt zügig seinem Ziel entgegensteuerte. „Ich kannte den ja sogar ein bisschen, den Pfarrer Mooslechner. Zweiundsiebzig war der, habe ich gelesen. Dafür wirkte er aber noch ziemlich fit. Bei Kirchens ist ja nichts mit einer Rente ab siebenundsechzig. Da arbeitet man, so lange man kann. Ein netter Typ, durch nichts besonders herausragend. Hat so einer Feinde? Todfeinde?“

Thiele blickte zu seinem Chef hinüber. „Das weißt du ja, Bernd, dass die jeder haben kann. Hat. Wenn alles schlecht zusammenkommt.“ Kellert nickte. In der Tat, das hatten ihn seine fast dreißig Dienstjahre bei der Polizei nun wirklich gelehrt. „Wobei ich hier allerdings von vornherein einige Motive ausschließen würde“, setzte er seine Gedankenkette fort. „Hier geht es nicht um Politik oder das große Weltgeschehen. Das passt einfach nicht in unser beschauliches Polzingen. Da lebt man doch noch ein bisschen wie vor fünfzig Jahren. Das ist zumindest mein Eindruck.“

„Wenn Sie sich da mal bloß nicht täuschen, Chef“, entgegnete Hannah Mellrich von der Rückbank des Wagens aus. Nach wie vor siezte sie sich mit Bernd Kellert. „Die äußeren Fassaden sehen vielleicht so aus wie damals. Aber was hinter den Türen, Fenstern und Mauern passiert, das wissen wir nicht. Die haben alle Zugang zu hunderten von Fernsehprogrammen. Alle surfen täglich im Internet. Damit kennen sie sich aus. Die wissen, was los ist in der Welt.“

„Stimmt wahrscheinlich, Hannah“, räumte Kellert nach einigem Nachdenken ein. Er sprach seine Mitarbeiterin zwar beim Vornamen an, ließ aber durch das gegenseitige Siezen eine übergroße Nähe gar nicht erst aufkommen. Draußen zog die ihm so bekannte Landschaft des Flusstals zwischen Friedensberg und Polzingen vorbei – wenn auch in einem Tempo, das ihm kaum vertraut war. „Trotzdem tippe ich auf irgendein persönliches Motiv. Eines, das im Umfeld genau dieses Pfarrers zu finden ist. Also nichts, was mit ihm als Repräsentant der Kirche oder von Was-auch-immer zu tun hat…“

Thiele blickte skeptisch, sagte aber nichts. Auch Hannah Mellrich schüttelte abwägend den Kopf. Eines hatte sie freilich in den knapp zwei Jahren an der Dienststelle in Friedensberg gelernt. Auf Bernd Kellerts Gespür war Verlass. Meistens. Er selbst würde sagen: ‚immer‘. Schon gerieten die ersten Häuser der kleinen Marktgemeinde in den Blick, überragt vom Zwiebelturm von St. Korbinian. Die Gemeinde hatte stets der Versuchung widerstanden, ihr Weichbild durch Hochhausbauten zu zerstören. Gut so.

„Also!“, Kellert riss sich aus den abschwirrenden Gedanken. „Folgendes Vorgehen. Dominik: Du checkst ab, woher der Messwein kommt. Ich bin sicher, dass das Gift darüber in den Körper des Toten gelangte. Woher kommt der Wein? Wo wird er aufbewahrt? Wer hat Zugang dazu? Wie kommt der Wein in den Kelch? Jede Kleinigkeit. Alles!“ Thiele nickte. Sein Chef müsste nach über vierjähriger Zusammenarbeit eigentlich wissen, dass er all das genauso getan hätte, auch ohne präzise Anweisung. Aber so war er nun mal, der Kellert.

Er blickte auf die Uhr. Später Vormittag. Kurz vor elf. Pünktlich. So war es ausgemacht. „Und wir, Hannah, wir verschaffen uns einen Überblick über mögliche Motive und Hintergründe. Ob es Streit gab. Wie die Atmosphäre in der Pfarrei war. Was immer uns helfen kann“, ergänzte der Kommissar. „Und dann sehen wir weiter.“

Sie wurden schon erwartet. Kaum, dass sie vor dem Gemeindezentrum von St. Korbinian vorgefahren waren, trat ein trotz seines schütteren Haares wohl kaum älter als dreißigjähriger Mann in schwarzem Anzug und mit Priesterkragen aus dem Haus. In seinem Gefolge befanden sich eine dunkel gekleidete, rundliche Frau jenseits der Sechzig und Dr. Bregnitzer, den sie beide ja schon kannten, dessen Anwesenheit sie jedoch trotzdem überraschte. Alle hatten sich rasch Mäntel übergeworfen. Draußen herrschten Temperaturen um den Gefrierpunkt.

„Häferle, Martin Häferle“, stellte sich der bereits zur Fülligkeit neigende junge Geistliche den Polizisten vor, während er ihnen die Hand schüttelte. Ganz offensichtlich fühlte er sich dafür verantwortlich, die erforderlichen Vorgänge zu koordinieren. „Ich bin hier Vikar im Pfarrverbund. Der ermordete Pfarrer Mooslechner – Gott sei seiner Seele gnädig – war sozusagen mein Chef.“

‚Hat der jetzt gerade ‚Ficker‘ gesagt?‘, fragte sich Hannah Mellrich einen Moment lang, musste unwillkürlich grinsen, hatte sich aber sofort wieder unter Kontrolle. Offenbar hatte keiner der Anwesenden ihr Mienenspiel beobachtet. ‚Vikar, natürlich!‘, ging es ihr durch den Kopf. ‚Kaplan‘, so hätte man dazu in Speyer gesagt, wo sie aufgewachsen war. Aber das war wohl genau dasselbe.

Der Vikar hatte sich mit einer kurzen Bewegung bekreuzigt, etwas affektiert, fand Kellert. Vikar Häferle sprach jedoch mit erstaunlich hoher Stimme und in raschen, ineinander übergehenden Sätzen weiter. „Darf ich Ihnen die Vorsitzende unseres Pfarrgemeinderates vorstellen, Barbara Winkler, Grundschullehrerin hier in Polzingen?“ Die so miteinander bekannt Gemachten lächelten einander zu, bekräftigten das übliche Vorstellungsprozedere dann per Handschlag.

„Und Dr. Bregnitzer kennen Sie ja bereits, wenn ich das richtig verstanden habe“, fuhr Häferle fort. Dieses Mal beließ man es bei einem freundlichen Kopfnicken. Kellert fragte jedoch nach: „Völlig richtig. Nur weiß ich nicht genau, warum Sie, Herr Doktor, heute mit vor Ort sind. Bitte nicht falsch verstehen, ich habe nichts dagegen, wundere mich nur ein bisschen.“

„Ich bin hier der Kirchenpfleger. Wussten Sie das nicht?“, antwortete Dr. Bregnitzer höflich, wenn auch distanziert, vielleicht ein wenig pikiert, dass man dieses Faktum noch erklären musste. Kellert bemerkte, wie Frau Winkler kurz ein schadenfrohes Grinsen über das Gesicht huschte, das aber gleich wieder verschwunden war. Und er registrierte Dominik Thieles fragenden Blick und Hannah Mellrichs neutralen Gesichtsausdruck.

Thiele war zwar evangelisch getauft, aber weitgehend religionslos in einem Vorort von Frankfurt aufgewachsen. Die meisten Traditionen, Bräuche und Begrifflichkeiten der katholischen Kirche waren ihm fremd. Er war zwar letztes Jahr zur katholischen Kirche konvertiert, aber das vor allem deshalb, weil seine damalige Verlobte, jetzt Ehefrau, als katholische Religionslehrerin an einem Gymnasium in Friedensberg arbeitete. Und da erwartete man eine kirchliche Eheschließung. Ihm war es recht gewesen, auch der Übertritt, der für ihn persönlich kaum eine innere Bedeutung hatte.

Hannah Mellrich hingegen war völlig religionslos aufgewachsen. Sie gehörte keiner Glaubensgemeinschaft an. Der Begriff ‚Kirchenpfleger‘ war ganz offensichtlich weder Thiele noch Mellrich vertraut. Kellert, Katholik seit seiner Taufe kurz nach der Geburt, kannte den Begriff zwar durchaus, war sich aber letztlich nicht sicher, was er nun genau bedeutete. Er nickte Thiele aufmunternd zu.

„ Entschuldigen Sie, wenn ich nachfrage“, unterbrach dieser deswegen die Vorstellungsrituale. „Und was ist das genau, ein ‚Kirchenpfleger‘?“ Bregnitzer lächelte nachsichtig. Dem jungen, gutaussehenden Polizisten und seiner charmanten – genau so dachte er das! – Kollegin würde er das gern erklären. Bei Kellert hätte das wahrscheinlich anders ausgesehen.

„Kurz gesagt, junger Mann“, – aus Bregnitzers Perspektive mochte diese Anrede noch berechtigt sein – „das ist derjenige, der die Hauptverantwortung für eine Kirchengemeinde hat.“ Vikar Häferle hüstelte. Bregnitzer unterbrach sich, blickte verwirrt auf den Vikar, ergänzte dann: „Natürlich nur im Blick auf Finanzen und rechtliche Belange. Alles Religiöse, alle Belange der Seelsorge unterstehen selbstverständlich der hohen Geistlichkeit.“

Häferle hüstelte erneut. Hannah Mellrich beobachtete die kleinen verbalen Scharmützel und Dr. Bregnitzers gewundene Sprache mit kaum verhohlenem Amüsement. Der Arzt sprach weiter: „Richtig, der Kirchenpfleger ist sozusagen der Sprecher einer demokratisch gewählten Gruppe von Gemeindevertretern“ – „und Vertreterinnen“, ergänzte Barbara Winkler – „der so genannten ‚Kirchenverwaltung‘. Aber hauptverantwortlich bin schon ich als Person.“

Der Vikar blickte ein bisschen gequält, Barbara Winkler lächelte und ergriff nun ihrerseits die Initiative. „Nun kommen Sie doch erst einmal herein, meine Herren. Und die Dame natürlich auch. Drinnen redet sich’s besser. Und es ist ja auch wieder lausig kalt heute.“ „Danke, aber ich komme nicht mit“, entgegnete Kriminalkommissar Thiele. „Ich schaue mich mal ein bisschen um. Und für das Gespräch brauchen Sie mich auch nicht unbedingt, denke ich mal.“

Mit diesen Worten hatte er sich umgedreht und ging auf das Kirchengebäude zu. Die drei Gemeindemitglieder schauten ihm überrascht nach. Vikar Häferle zuckte mit den Schultern. Zu fünft gingen sie in einen Besprechungsraum des Gemeindezentrums. Hannah Mellrich blickte sich neugierig um. Die bereits recht verblichene Tapete, die abgenutzte Einrichtung, die leicht modrige, biedere Gemütlichkeit – all das wirkte für sie wie ein Relikt aus fernen Zeiten. In solchen Räumen war sie selbst noch nie gewesen.

„Und der Pfarrgemeinderat, was macht der so?“, fragte Kellert Frau Winkler, die resolut wirkende, ihre Rundungen unter weiter Kleidung geschickt verbergende Vorsitzende dieses Gremiums, deren Haare dezent braun gefärbt waren. Sie waren dabei, ihre Mäntel an einem Kleiderhaken aufzuhängen. Die beiden anderen Herren waren schon vorgegangen, um Tische und Stühle bereitzustellen.

„Na, die ganze praktische Arbeit, die hier so anfällt“, platzte es aus der Lebendigkeit ausstrahlenden Frau heraus: „Feste vorbereiten; Leute besuchen, die es nicht mehr zum Gottesdienst schaffen; Zuzügler nach Polzingen begrüßen; Wortgottesdienste durchführen; dem Pfarrer bei allem, was er tun muss, zur Seite stehen; überlegen, wie es weitergeht – alles!“

Richtig, erinnerte sich Kellert. Kurz nach ihrem Einzug vor vier Jahren war mal eine Frau von der katholischen Pfarrgemeinde bei ihnen zu Besuch gewesen. Hatte sie begrüßt und auf alle Möglichkeiten hingewiesen, wie man sich am Gemeindeleben beteiligen konnte. Nein, das war nicht Frau Winkler gewesen, da war er sich absolut sicher. Auch wenn er sich an kein Gesicht mehr erinnern konnte. Nett war das gewesen. Aber was ihn betraf, weitgehend folgenlos.

 

Inzwischen hatten sich alle um eine Tischgruppe gesetzt. ‚Gleich die Zügel der Gesprächsführung übernehmen, Bernd!‘, nahm sich Kellert vor, als er sah, dass Vikar Häferle zu einer Rede anhob. Er schnitt ihm das noch nicht einmal ausgesprochene Einführungswort ab. „Schön, dass Sie sich die Zeit genommen haben.“ Häferle schluckte seine Worte herunter, sichtlich verärgert. Egal.

„Wir alle wollen, dass dieser unsägliche Mord an Pfarrer Mooslechner so bald wie möglich aufgeklärt wird. Ich kannte ihn ja selbst. Ein guter Mann!“ Die drei Mitglieder der Pfarrgemeinde nickten in unterschiedlicher Intensität: Barbara Winkler mit heftigen Bewegungen, Dr. Bregnitzer mit gerunzelter Stirn, gemessen und gefasst, Vikar Häferle ausdruckslos und mit bloßer Andeutung.

„Deswegen ist das auch für mich“ – er unterbrach sich, lächelte seine Begleiterin an und ergänzte – „für uns kein Fall wie alle anderen. Bitte, helfen Sie mir bei der Aufklärung. Halten Sie nichts zurück. Je genauer wir uns ein Bild von den Hintergründen machen können, umso eher werden wir ein Ergebnis liefern. Ich ahne durchaus“ – hier blickte er jedem der drei zielgenau und länger als erwartet in die Augen –, „dass nicht alles, was nun angesprochen werden muss, angenehm ist. Manches ist peinlich. Manches privat. Manches intim.“

Wieder machte er eine kleine Pause – ‚Einführung in die Gesprächsführung. Lektion vier‘, schoss es Hannah Mellrich durch den Kopf. Ihr Chef fuhr fort: „Aber glauben Sie mir aus meiner langen Berufserfahrung: Je eher die Fakten auf dem Tisch sind, umso besser für alle. Bis auf den Täter oder“ – hier blickte er auf Barbara Winkler – „die Täterin“. Sie lächelte müde, verzog die Mundwinkel, winkte ab. „Nichts bleibt geheim“, fügte Kellert hinzu, „aber alles unter uns, solange es den Fall betrifft. Dafür gebe ich Ihnen mein Wort.“

6.

Die drei Vertreter von St. Korbinian – Vikar Martin Häferle, Kirchenpfleger Dr. Johann Bregnitzer und die Vorsitzende des Pfarrgemeinderates Barbara Winkler – wirkten ein wenig eingeschüchtert. Niemand ergriff das Wort. Gebannt warteten sie darauf, was der Kriminalhauptkommissar von ihnen wollte. ‚So muss es sein‘, dachte Bernd Kellert zufrieden und schmunzelte innerlich, ‚genau so‘. Hannah Mellrich konnte ihre Anerkennung kaum verbergen. ‚Siehst du‘, sagte sie zu sich selbst, ‚genau das willst du lernen.‘

„Also“, eröffnete Kellert das Gespräch: „Gab es hier in St. Korbinian Streit? Oder ist Ihnen zu Ohren gekommen, dass Pfarrer Mooslechner außerhalb der Gemeinde Streit hatte?“ „Sie sind gut, natürlich gab es Streit, ständig! Was denken denn sie?“, brach es aus Frau Winkler heraus. „Gerade in den letzten zwei Jahren. Seit der Einführung dieser unsäglichen Seelsorge-Einheiten. So ein Unsinn!“

„Na, na“, unterbrach Vikar Häferle, „nun werden Sie doch bitte nicht gleich wieder so emotional und unsachlich!“ „Ist aber doch wahr!“, beharrte die Pfarrgemeinderatsvorsitzende. Dr. Bregnitzer hielt sich zurück. Tat so, als ginge ihn das gar nichts an. Kellert hatte gleich registriert, dass er offensichtlich mitten in ein Wespennest gestochen hatte, und fragte deshalb nach: „Setzen Sie mich doch einfach mal ins Bild, Herr Doktor? Worum geht es da genau? Ich habe darüber zwar ab und zu etwas in der Tagespresse gelesen, aber so richtig habe ich das, scheint mir, doch nicht begriffen.“

Da er den Arzt direkt angesprochen hatte, zügelten die beiden anderen tatsächlich ihr Temperament. ‚Hierarchie wirkt oft Wunder‘, dachte Kellert. Bregnitzer räusperte sich, überlegte kurz, hatte offensichtlich wenig Lust darauf, ein schon oft besprochenes Thema noch ein weiteres Mal zu entfalten, ergriff dann aber doch das Wort. „Aber nur, wenn Sie mich nicht unterbrechen!“, gab er den beiden Mitarbeitern aus der Pfarrei aus funkelnden Augen als Mahnung mit.

Aufrecht saß er da. Ein älterer distinguierter Herr. Immer noch eine imposante Erscheinung. „Das ist so: Sie sind ja auch Mitglied unserer Gemeinde. Sie wissen ja, viele gehören offiziell dazu, haben aber innerlich nur wenig mit der Kirche zu tun.“ Hannah Mellrich hatte der ältere Herr zunächst zwar als attraktive junge Dame taxiert, nun – da das Gespräch ernst wurde – schien er sie jedoch kaum noch wahrzunehmen.

Kellert wollte einen Einwand machen, aber der geübte Redner Bregnitzer kam ihm zuvor: „Verstehen Sie mich recht. Ich kritisiere das gar nicht. Niemanden, erst recht nicht Sie, wie käme ich dazu? Einer der Vorteile unserer Zeit liegt darin, dass jeder das tun kann, was er oder sie für richtig hält. So lange man nicht die Gesetze bricht. Gut so, sage ich, gut so! Auch in Sachen Religion ist jeder Zwang falsch.“

Dieses Mal nickte Barbara Winkler beifällig. Vikar Häferle zog eine Grimasse, die eher Skepsis oder Unzufriedenheit mit der Gesprächssituation ausdrückte. „Jedenfalls ist es doch so“, fuhr Dr. Bregnitzer fort. „Die Pfarrgemeinden schrumpfen. Jedes Jahr um mehrere Prozent. Einige treten aus der Kirche aus, weil sie Steuern sparen wollen oder sich über irgendetwas geärgert haben, was der Papst oder ein Bischof gesagt hat. Was weiß ich? Außerdem sterben viel mehr Alte weg, als Junge getauft werden. Und hinzu kommt, dass von den Verbleibenden immer weniger am Gemeindeleben teilnehmen. Da lassen sich die alten Strukturen nicht aufrechterhalten. Beim besten Willen nicht.“

„Man darf nicht vergessen: Es gibt ja auch immer weniger Pfarrer“, fiel ihm Frau Winkler nun doch ins Wort, sehr zu Bregnitzers Missfallen. „Eben“, riss er die Rede wieder an sich. „Eins kommt zum anderen. Und da ziehen die deutschen Bistümer seit einiger Zeit die Reißleine. Nun eben auch bei uns. Man löst die alten Pfarreien auf und fügt sie zu so genannten Pfarrverbünden zusammen. Oder Seelsorge-Einheiten. In einigen Bistümern hat man dafür andere Namen: Pastoralverband, Pfarreiengemeinschaft. Im Erzbistum Köln haben sie den schönen Namen ‚Sendungsraum‘ erfunden. Aber das Prinzip ist überall ähnlich. Pfarreien werden fusioniert und bilden ein großes Gefüge.“

„Und? Das klingt doch vernünftig, würde ich sagen“, warf Kellert ein. „Ach, was glauben Sie, was das für ein Hauen und Stechen gab und gibt!“, nutzte Barbara Winkler die Möglichkeit, sich erneut einzubringen. „Verteilungskämpfe noch und noch. Wo bleibt ein Pfarrer, wo wird er abgezogen? Welche leer werdenden Stellen werden wiederbesetzt, welche gestrichen? Wie verteilt man die knapper werdenden Geldmittel gerecht zwischen den plötzlich zusammengeschlossenen Gemeinden? Wo werden Pfarrbüros geschlossen? Wo bleibt die Kirche noch vor Ort? Wer sind die Ansprechpartner? Muss man ganze Kirchen komplett stilllegen oder sogar abreißen? Das hat es alles gegeben! Sie haben ja keine Vorstellung.“

Bregnitzer war dieses hitzig vorgetragene Plädoyer spürbar zuwider. Er kniff den Mund zusammen und schüttelte kaum merklich den schlohweißen Kopf. Kellert wandte sich dem Vikar zu, der sich bislang herausgehalten hatte. „Und was sagen Sie als Geistlicher dazu?“