Toter Dekan - guter Dekan

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„Wie, was?“, wollte Kellert wissen. „Ach, das war so“, erklärte die Professorin, der das Thema sichtlich unangenehm war. „Seit drei Jahren habe ich eine wissenschaftliche Mitarbeiterin, Caroline Böhm. Deren Promotion ist fast fertig und ich möchte sie gern weiter an meinem Lehrstuhl beschäftigen. Vor ein paar Monaten schickte mir Gerstmaier dann aber ein Schreiben mit der Mitteilung, dass meine Assistentinnen-Stelle gestrichen werden sollte. Einfach so. Ohne Erklärung. Ohne Abstimmung im Fakultätsrat. Das habe ich mir natürlich nicht gefallen lassen und protestiert.“

„Ja, darf der das denn einfach so?“, schaltete sich Beate Kellert mit ehrlicher Empörung ein. „Eigentlich nicht“, übernahm wieder Brandtstätter das Wort. „Aber er hat mit notwendigen Sparmaßnahmen argumentiert und sich auf einen Eilbescheid berufen. Das stünde ihm als Dekan zu, meinte er. Na, da hätten wir ihm jedenfalls im Fakultätsrat schon noch einen Strich durch die Rechnung gemacht, das können Sie mir aber glauben! Soll er doch auf seinen eigenen Assistenten verzichten! Das war jedenfalls klasse, dass du dem mal so richtig die Meinung gesagt hast.“

„Wieso?“, fragte Kellert dazwischen. Klara Mechtersheim wand sich auf ihrem Stuhl, es war ihr offensichtlich nicht wohl bei diesem Gesprächsthema. „Nun, ich bin ins Dekanat gegangen und habe ihm sehr deutlich gesagt, dass ich sein Vorgehen nicht akzeptiere!“, antwortete sie.

„Gesagt? Komm, Klara, das war schon mehr! Richtig gebrüllt hat sie, das habe ich noch nie von ihr gehört“, – wandte sich Brandtstätter an seinen Sitznachbarn. „Traut man ihr gar nicht zu, oder? Unterschätzen Sie die Klara mal nicht, Herr Kommissar! Die lässt sich ja nicht leicht aus der Ruhe bringen, aber wenn, dann Vorsicht, die Herren vom Gesangsverein! Haha! Na ja, und der Gerstmaier! Klein wie ein Zwerg, stumm wie ein Fisch, eisig wie ein Cornetto Nuss – haha! Dass die Studenten dann auch noch Beifall geklatscht und gejohlt haben, als du die Dekanatstür ins Schloss geworfen hast, das hat ihm dann den Rest gegeben, glaube ich.“

„Jaja, ist ja schon gut“, versuchte ihn die Kollegin zu bremsen, der der Gesprächsverlauf sichtlich unangenehm war. „Wie, die Studierenden haben das mitgekriegt und geklatscht?“, fragte Kellert nach, den diese Geschichte natürlich gewaltig interessierte.

„Ja“, gestand Klara Mechtersheim, „ein paar von der Fachschaft. Die mögen, äh, mochten den Dekan ja auch nicht, weil der sie reihenweise durch die Prüfungen rasseln ließ und überhaupt. Der hatte es nicht so mit den Studierenden. Ich glaube, die waren ihm eher lästig. Das Ganze war trotzdem sehr unangenehm und mir überhaupt nicht recht. Und hat ja Folgen gehabt …“

„Nämlich?“ „Nun, zwei der Studierenden waren auch als Hiwis im Dekanat beschäftigt. Deren Verträge wurden natürlich nicht verlängert. Und zwei anderen hat er angedroht, sie durchs Examen fliegen zu lassen.“ „Kann er das denn?“, wunderte sich Beate Kellert. „Offiziell natürlich nicht“, erwiderte der Österreicher, „aber wenn Sie einen Studenten unbedingt durchfallen lassen wollen, können Sie die mündliche Prüfung schon so gestalten, dass der kaum eine Chance hat.“

„Hmm.“ Kellert schwieg, trank wieder einen Schluck und dachte über das Gehörte nach. „Ach, Herr Kommissar“, unterbrach Professor Brandtstätter seine Gedanken. „Ich muss Ihnen jetzt einfach einmal ein kleines Geständnis machen. Früher, als Bub, da wollte ich auch immer Polizist werden. So wie die Kommissare im Fernsehen. Ihnen kann ich es ja anvertrauen: Der ‚Tatort‘, das war meine Lieblingssendung, nein: ehrlich gesagt ist er das heute noch.“

„Sie wissen aber schon, dass die Wirklichkeit unseres Polizistenlebens ganz anders aussieht, oder?“, fiel ihm Kellert ins Wort. „Aber sicher. Das ist genauso wie bei der Darstellung von Pfarrern im Fernsehen. Weit weg vom wahren Leben. Aber gut, darauf kommt es ja auch nicht an, oder? Ein Film soll unterhalten, aber nicht die Wirklichkeit abbilden, finde ich jedenfalls. Äh, wo war ich gerade?“ Klara Mechtersheim blickte ihren Kollegen mahnend an. Sie mochte alles an ihm, nur nicht seinen Hang zur Geschwätzigkeit. Er ignorierte ihren Blick jedoch, oder hatte er ihn gar nicht bemerkt?

„Richtig, Polizist wollte ich werden. Und nun bin ich Priester, haha. Aber das Erstaunliche ist, dass beide Berufe erstaunlich eng miteinander verwandt sind.“ „So“, knurrte Kellert, „also den Zölibat muss ich nicht leben. Gott sei Dank, hm, Beate?“ Seine Frau lächelte müde. Doch die polternd-bärbeißige Art des Professors, dem sie sich nun wieder zuwandte, gefiel ihr offensichtlich.

„Nein, das nicht“, fuhr der fort. „Aber schauen Sie: Sie und ich haben zu tun mit Schuld. Sie und ich kümmern uns um Opfer und Täter. Sie und ich versuchen mit der Aufklärung und Überwindung von Schuld umzugehen. Sie und ich wollen ein gelingendes Leben für alle sicherstellen.“ Beate Kellert warf ein: „Ach wie interessant! So habe ich das noch nie betrachtet. Bernd, da bist du also fast so etwas wie einPriester!“ Sie grinste ihren Mann an. „Fast, fast!“, fiel der ein. „Vergessen wir bitte die Unterschiede nicht. Die sind letztlich doch weitaus größer! Sie“ – hier wandte er sich an die beiden Theologen – „sprechen doch vor allem von Sünde, oder? Das Wort gibt es bei uns gar nicht.“

„Mag sein, aber sie gehören doch zusammen, Sünde und Schuld!“, warf Frau Mechtersheim vorsichtig ein.

„Wie denn? Sünde – ich weiß wirklich nicht, was das sein soll!“, gab Kellert zurück, während er sich ein wenig wunderte, was für ein Gespräch er hier gerade führte.

„Schauen Sie, das ist einfach!“, dozierte Brandtstätter, sichtlich in seinem Element. „Schuld entsteht dann, wenn man als Mensch absichtlich und selbst verantwortet unter seinen eigenen Möglichkeiten bleibt!“

„So definierst du das, Elmar!“, warf seine Kollegin ein, „das kann man auch ganz anders bestimmen.“ „Ja geh, das interessiert mich nicht!“, erwiderte der Professor.

„Ich meine, wann immer Sie etwas tun oder unterlassen, was Sie eigentlich könnten und sollten, dann werden Sie schuldig. Egal, ob in den kleinen Dingen des Alltags oder in der Tötung eines anderen Menschen. Das gilt übrigens für Einzelne genauso wie für Gesellschaften, also für Staaten – oder auch Kirchen.“

„Und Sünde?“, fragte Beate Kellert nach. Brandtstätters Antwort ließ nicht lange auf sich warten. In solchen Gesprächen, war er offensichtlich ganz in seinem Element. „Sünde, das ist das Bleiben unter den Möglichkeiten, die Gott einem gegeben hat. Also eigentlich dasselbe, nur denkt man dann von Gott aus. Dass Sie und ich, dass jede und jeder von Gott bestimmte Fähigkeiten und Stärken geschenkt bekommen hat. Und wenn man die nicht nutzt oder schlecht nutzt, verstößt man nicht nur gegen sich selbst, gegen die Mitmenschen, sondern eben auch gegen den, der sie uns gegeben hat – Gott.“

‚Jetzt hat er endgültig angefangen zu predigen‘, dachte Kellert. ‚Holen wir ihn mal ein bisschen zurück auf den Boden der Realität.‘ „Das macht aber natürlich nur für solche Menschen Sinn, die an diesen Gott glauben, oder?“, gab er zu bedenken.

„Gewiss, gewiss, auf den ersten Blick schon“, pflichtete ihm Brandtstätter zunächst bei. „Da ich allerdings fest daran glaube, gehe ich davon aus, dass das grundsätzlich für alle Menschen gilt, egal, ob ihnen das bewusst ist oder nicht!“

Kellert strich sich nachdenklich über das Kinn. ‚Sünde, Schuld, Gerstmaiers Umgang mit den Kollegen …?‘ Auch die anderen hatten sich stumm geredet. „Wie wäre es mit einem Cappuccino oder Latte macchiato?“, fragte seine Frau in die plötzliche Stille hinein, was dazu führte, dass der Abend mal ein vergnügliches Ende fand.

Mittwoch, 12. Mai, morgens

Chaos, Struktur und ein Streit

Kommissar Bernd Kellert saß seit einer knappen Stunde an seinem Schreibtisch im Friedensberger Kriminalkommissariat. Er hatte die beiden Fenster seines Büros geöffnet, um die regenfeuchte Morgenluft hereinzulassen, von fern drang Straßenlärm herauf, irgendwo in der Nähe sang eine Amsel. In einem der vollgestopften Wandregale stand ein kleines schwarzes Taschenradio, von dem aus eine leise Tonwolke aktueller Popmusik in den Raum hineindampfte. Irgendeine aktuelle amerikanische Sängerin, austauschbar wie die Handtücher am Waschbecken hinten in der Ecke des Büros, sang zu einem gewöhnlichen Grundbeat.

Kellerts Mitarbeiter, Kriminalhauptmann Dominik Thiele, achtundzwanzig Jahre alt, zwei Fingerbreit größer, aber genauso durchtrainiert wie sein Chef, saß an der anderen Seite der gegeneinandergeschobenen Schreibtische und recherchierte etwas in seinem Computer. Ab und zu tippte er irgendwelche Informationen in sein Notebook. Hinter dem Flachbildschirm war sein flachsblonder mittellanger Haarschopf für Kellert kaum zu sehen. Der Kommissar brummte missmutig vor sich hin: „Wie soll man sich das alles bloß merken?“

„Was ist los, Chef?“, fragte Dominik Thiele und wendete sich seinem Vorgesetzten zu. Schlechte Laune kannte er bei ihm gar nicht. Kommissar Kellert galt bei seinen Kollegen als stets konzentrierter und trotzdem gut gelaunter Polizist. „Beim Kellert wirst du arbeiten?“, hatten einige ältere Kollegen den Kriminalhauptmann beglückwünscht, als vor etwas mehr als zwei Jahren feststand, wo er seine erste Stelle in Friedensberg antreten würde.

„Da wirst du was lernen. Und menschlich ist der auch okay. Der wird aber von dir vollen Einsatz verlangen, darauf kannst du dich gleich einstellen.“ ‚Voller Einsatz? Den kann er haben‘, hatte er sich damals gedacht. Und so war es keine große Überraschung, dass Chef und Mitarbeiter sehr gut miteinander auskamen, obwohl oder vielleicht weil sie Beruf und Privatleben strikt voneinander trennten.

Nun schaute Kellert von den vielen Blättern auf, die vor ihm auf seinem Schreibtisch lagen, scheinbar ungeordnet. Dass es eine ganz persönliche Ordnung im Chaos gab, wusste Thiele inzwischen. „Also so eine Fakultät an der Uni ist unglaublich kompliziert. Bis man da mal klarkriegt, wer welche Aufgabe hat, wer wofür zuständig ist, wie sich die Kompetenzen verteilen: furchtbar. Und dann noch Theologie! Damit habe ich nun wirklich nichts zu tun. Klar, unsere Kinder sind getauft und zur Erstkommunion und Firmung gegangen und so, weißt du ja!“

 

‚Nö, wusste ich nicht‘, dachte Thiele, ‚ich wusste ja nicht mal, dass du katholisch bist.‘ Kellert fuhr fort: „Als Kind war ich sogar einige Zeit Messdiener, kannst du dir das vorstellen? Meine Güte, das ist lange her, weit weg! Heute habe ich mit dem Laden kaum noch etwas am Hut. Die leben doch irgendwie in einer anderen Welt, oder?“

Dominik Thiele zuckte nur mit den Schultern. Er war ein Kind der Großstadt, aufgewachsen in einer Frankfurter Vorstadt. Religion hatte weder in seiner Familie noch in seinen sonstigen Lebenskreisen eine Rolle gespielt. Seine ihn allein erziehende Mutter hielt nichts davon und so hatte er eine religionslose Kindheit verbracht. Und die hatte sich entsprechend in die Jugendzeit und in sein Erwachsenenalter hinein verlängert.

„Weißt du zum Beispiel, was ein Lehrstuhl für Liturgiewissenschaft ist oder was man an einem Lehrstuhl für Fundamentaltheologie macht? Hat das was mit Fundamentalismus zu tun? Aber wieso dazu ein Lehrstuhl?“, fragte Kellert seinen Mitarbeiter, der aber nach wie vor völlig verständnislos dreinblickte und nichts dazu zu sagten wusste. „Okay, Moraltheologie, da kann ich mir ja etwas drunter vorstellen, Philosophie auch, aber hier: Alte Kirchengeschichte! Komisch, ist die nicht grundsätzlich alt?“

In diesem Moment klopfte es an der Bürotür. Automatisch unterbrach Kellert seinen Redefluss und sagte mit ganz anderer, offizieller Stimme: „Herein!“ „Ich möchte eine Aussage machen“, sagte ein schmächtiger, eher kleinwüchsiger jüngerer Mann in schwarzem Anzug und mit weißem Priesterkragen, während er sich unsicher und an seiner silbern eingefassten Brille nestelnd in das Zimmer vortastete.

„Ach ja, kommen Sie doch.“ Kellert war aufgestanden, hatte den Besucherstuhl herangeschoben und wies nun mit einladender Geste darauf. „Herr, ääh“ – er starrte auf eine Aufstellung, die er sich gemacht hatte – „Herr Dr. Schachner.“ „Richtig“, antwortete dieser beflissen und geschmeichelt darüber, dass man sich nach der gestrigen Befragung an ihn erinnerte. „Dr. Winfried Schachner mein Name. Ich bin Assistent am Lehrstuhl für Dogmatik an der hiesigen Universität.“

„Ich weiß, ich weiß“, kommentierte Kellert und dachte bei sich: ‚Der sieht nun wirklich genau so aus, wie Beate sich einen Theologieprofessor vorgestellt hat‘, sagte aber: „Was haben Sie denn auf dem Herzen? – Einen Kaffee oder ein Mineralwasser?“ „Nein, nein, danke“, druckste Schachner herum. „Mach mal aus“, brummte Kellert zu seinem Mitarbeiter und deutete dabei auf das Radio. Der erhob sich, schaltete das Gerät aus und setzte sich dann wieder an seinen Platz.

„Nun ich … ich weiß gar nicht, ob ich Ihnen das überhaupt sagen soll“, begann Dr. Schachner, „aber nach unserem Gespräch gestern hatte ich das Gefühl, als hätte ich Ihnen etwas verschwiegen. Und das nützt ja niemandem, oder?“ „Gut, dass Sie gekommen sind“, ermunterte ihn der Kommissar und blinzelte seinem Mitarbeiter zu. Solche Einleitungen kannten sie schon, und oft genug wurde dann etwas wirklich Wichtiges gesagt. Manchmal freilich auch nur Belangloses. Thiele duckte sich zwar hinter seinen Bildschirm, hörte aber genau zu.

„Ja, also das war so. Mein Chef, Professor Mühlsiepe, ist ja Ordinarius für Dogmatik.“ – ‚Schönes altes Wort, Ordinarius‘, dachte Kellert, ‚das werde ich in meinen aktiven Sprachschatz aufnehmen.‘ – „Und er hat seit einigen Monaten einen harten Konflikt mit dem Dekan gehabt. Ich weiß nicht genau, worum es dabei ging, mein Chef hat das nie klar angesprochen, aber …“ Er suchte nach Worten.

„Aber?“, wiederholte Kellert ermunternd.

„Es gab da einen besonders heftigen Streit. Das muss so vor zwei Wochen gewesen sein. Der Dekan war bei meinem Chef im Dienstzimmer. Ich habe ja das Assistentenzimmer direkt daneben und die Wände sind nicht gerade massiv. Außerdem lasse ich immer meine Zimmertür auf, damit die Studierenden sehen, wann ich da bin. Nun, so kann man zwar normalerweise nicht verstehen, was nebenan gesprochen wird, aber wenn es lauter wird, hört man es schon, ob man will oder nicht.“ Unsicher blickte er zum Kommissar hinüber. Kellert verstand sofort, dass sein Gegenüber unbedingt den Eindruck vermeiden wollte, als heimlicher Lauscher zu gelten, und nickte ihm deshalb aufmunternd zu.

„Also sie hatten sich eine Zeit lang angebrüllt, dann ging die Tür auf und der Dekan stürmte aufgebracht hinaus. ‚Ich habe lange genug geschwiegen!‘, brüllte er, ‚und ich hatte Sie gewarnt!‘ ‚Gehen Sie nicht zu weit!‘, rief mein Chef, nicht weniger aufgeregt, ‚ich warne Sie!‘ Inzwischen war der Dekan schon einige Schritte entfernt, nun hörte ich, wie er wieder zurückkam. ‚Sie wollen mir drohen?‘, fragte er, nun plötzlich viel gefasster und leise: ‚Sie wollen mir drohen! Machen Sie sich doch nicht lächerlich!‘ Dann ist er leise vor sich hin lachend davongegangen. So ungefähr war das.“

„Und das war, sagen Sie, vor zwei Wochen?“, fragte Kellert nach. „Ja, ungefähr, warten Sie mal: ja, Montag vor zwei Wochen. Genau, da musste ich mein Seminar etwas eher beenden, weil ich in meiner Gemeinde einen Info-Abend zur diesjährigen Firmvorbereitung halten musste.“

Der Kommissar überlegte: „Hat noch jemand diesen Streit mit angehört?“ Dr. Schachner zuckte mit den Schultern: „Weiß ich nicht, kann sein. Unsere Sekretärin nicht, die hatte da ihren freien Tag, und von den Hiwis … nein! Da war, glaube ich, auch keiner da. Aber es kann natürlich jemand von den anderen Lehrstühlen etwas mitbekommen haben.“

„Und worum es bei dem Streit ging, das wissen Sie nicht?“, bohrte der Kommissar nach. „Nein, wirklich nicht. Wissen Sie: Wir sind uns menschlich nicht so nahe, mein Chef und ich. Er ist ein guter Dogmatiker, auch beliebt bei den Studenten, aber als Mensch kommt niemand so richtig an ihn heran. Na ja, so ein typischer Norddeutscher eben.“

‚Du scheinst ja sehr klare Kategorien zu haben, Bürschchen‘, dachte Kellert, sagte aber stattdessen neutral: „Soso! Nun, vielen Dank jedenfalls, dass Sie gekommen sind. Ihre Beobachtung muss ja gar nichts bedeuten, aber wir sollten alle Möglichkeiten bedenken.“ Er erhob sich und geleitete Schachner zur Tür. Dort drehte sich dieser noch einmal um und sagte: „Ich kann mich doch darauf verlassen, dass niemand von dieser Aussage erfährt, vor allem mein Chef nicht?!“ „Klare Sache“, nickte Kellert ihm zu, „ist doch selbstverständlich. Auf Wiedersehen!“

„Komischer Bursche“, meinte Dominik Thiele, als sich die beiden Polizisten wieder allein gegenübersaßen. „Irgendwie zu glatt, zu wenig fassbar, ich weiß nicht.“ „Das schon“, pflichtete ihm sein Chef bei, „aber doch wohl glaubwürdig, oder? Tja, da werde ich wohl noch einmal an die Uni fahren müssen. Mal sehen, ob an der Sache etwas dran ist.“

„Soll ich mitkommen, Chef?“ „Nein, das mache ich am besten allein. Überprüfe du doch mal das private Umfeld von Gerstmaier und seine finanziellen Verhältnisse. Vielleicht hat der Mord ja gar nichts mit der Uni zu tun.“ „Aber die verschwundenen Papiere!“, gab Thiele zu bedenken. „Gut, dass du die erwähnst, da muss ich auch noch einmal nachhaken. Das werden wir schon sehen, ob die wichtig sind.“ ‚Aha‘, dachte Dominik Thiele, ‚Kellert nimmt eine Fährte auf. So kenne ich ihn.‘

Mittwoch, 12. Mai, vormittags

Ein Prodekan und viele Geheimnisse

Prodekan Hermann-Josef Kösters hockte missmutig in seinem Büro. Das mittellange braune Haar, sonst immer streng gescheitelt und gekämmt, hing ihm ungeordnet über Stirn und Hornbrille. Rechts und links an den Wänden zogen sich Regalreihen hoch, vollgestellt mit Karteikästen, Leitzordnern, Büchern. Da blieb kein Platz frei für Bilder. Auf dem gleichfalls dicht bepackten Schreibtisch fand sich je ein Foto von seiner Frau und seiner Tochter sowie – immerhin – eine unbeholfene Kinderzeichnung, auf der ein Strichmännchen einen Blumenstrauß pflückt.

In der linken Hand hielt der Professor einen dampfenden Becher Kaffee, mit der rechten fingerte er an einem Kugelschreiber herum. Ihm gegenüber saß Silvia Hoberg, die Dekanatssekretärin, auch sie mit einem Kaffee. „Aber verstehen Sie doch“, stieß Kösters gerade aus, „ich habe dem Verlag fest zugesagt, dass das Manuskript bis Ende Oktober fertig ist. Fünf Jahre sitze ich an diesem Kommentar, fünf Jahre! Und jetzt brauche ich einfach noch konzentrierte vier Monate, dann kann ich das auch schaffen. Ich habe ja schon unseren Sommerurlaub abgesagt. Was glauben Sie, wie sauer Gabi und Sophie auf mich sind?!“ Damit wies er auf die beiden Fotos auf seinem Schreibtisch.

Hobi kannte die Ehefrau und die spät geborene Tochter des Prodekans, die immer mal wieder in der Fakultät vorbeischauten.Sophies Grundschule lag gleich um die Ecke. Seine Tochter war sein Ein und Alles. Gerade weil er ein später Vater war, liebte er dieses Kind – ‚fast mehr als seine Frau, wenn man nach dem äußeren Eindruck geht‘, dachte die Dekanatssekretärin immer wieder, ‚aber die beiden haben ja auch lange genug auf ihren kleinen Sonnenschein warten müssen‘. Sie wusste auch, dass Kösters an einem großen Kommentar zum Johannesevangelium schrieb, eine Arbeit, die ihm alle Konzentration und Kraft abverlangte.

„Aber was sollen wir tun, Herr Kösters?“, fragte sie im Wissen, bei ihm den Zusatz „Herr Professor“ weglassen zu dürfen, was beileibe nicht bei allen Kollegen im Hause angesagt war. „Ich weiß ja, ich weiß“, seufzte dieser, während er sich das Haar zurechtstrich. „Ich werde all das aufschieben müssen. Ob ich will oder nicht, als Prodekan muss ich jetzt die Fakultät führen. Ich habe heute Morgen schon die offizielle Bestätigung vom Präsidenten der Universität erhalten. Schauen Sie hier!“ Er zog ein Blatt von einem der Papierstapel und las laut: „… wünsche ich Ihnen eine glückliche Hand und viel Geschick in der Behandlung der unliebsamen Angelegenheit.‘ Unliebsame Angelegenheit, der ist gut! Ein Mord, hier bei uns! Eigentlich unfassbar! Und alle anderen Geschäfte müssen ja auch weitergehen.“

Dann blickte er auf die Uhr. „Wo bleibt er denn, der Herr Kommissar, hat sich doch für zehn Uhr angesagt?“ In diesem Moment führte Verena Obmöller, die studentische Mitarbeiterin im Dekanat, Kommissar Kellert ins Zimmer. „’tschuldigung, habe nicht gleich einen Parkplatz gefunden“, murmelte er, bevor er der Sekretärin und dem Prodekan die Hand reichte, „schön, dass Sie Zeit haben!“ „Nun ja, wir müssen die Angelegenheit ja klären“, meinte Kösters und bot dem Kommissar den zweiten Besucherstuhl neben Frau Hoberg an. „Aber was können wir denn noch für Sie tun?“

„Ja, also zunächst wollte ich wissen, ob Sie nun herausgefunden haben, welche Unterlagen entwendet wurden“, wandte sich Kellert als Erstes an die Sekretärin. Die rutschte ein wenig auf dem Stuhl herum und antwortete dann: „Das kann ich leider nicht ganz genau sagen. Sehen Sie, ich bin jetzt seit zweiundzwanzig Jahren Dekanatssekretärin, und bei wirklich jedem meiner vielen Chefs wusste ich immer genau, wo sich alle Unterlagen befanden. Professor Gerstmaier war da anders. Der hat auch kaum mit dem Computer gearbeitet, alles noch auf Papier ausgedruckt. Der legte selbst seine Ordner und Mappen an, von denen ich keine Ahnung hatte. Die schloss er auch jeden Abend weg, darauf hatte ich keinen Zugriff. Ich weiß nicht, was fehlt. Von meinen Unterlagen nichts, soweit ich das bis jetzt beurteilen kann.“

„Na kommen Sie“, Kellert zwinkerte ihr vertraulich zu, „so ganz an Ihnen vorbei wird er das doch nicht alles betrieben haben. Sie haben den Laden doch gut im Griff, das sieht man sofort. Haben Sie nicht doch eine Vermutung, was die Unterlagen betrifft, von denen Sie da eben sprachen?“

Hobi wurde ein bisschen rot über das Lob und die charmante Anrede, die sie von ihren Theologen nicht gewöhnt war. Mit einem koketten Lächeln gab sie zu: „Na ja, ich weiß es nicht genau, aber ich hatte so die Vermutung, dass das Personalunterlagen waren. Ganz am Anfang, als er Dekan wurde, musste ich ihm sämtliche Papiere über unsere Mitarbeiter kopieren. Und ich glaube, er hat die irgendwie ergänzt, mit persönlichen Daten und so. Aber bitte: Ich weiß das nicht genau, es ist nur eine Vermutung.“

„Hmm, interessant. Haben Sie denn schon mal in seinem abschließbaren Schrank nachgeschaut?“, wollte Kellert wissen. „Das konnten wir doch nicht“, mischte sich Kösters ein. „Ihr Mitarbeiter hat den Dienstraum des Dekans ja versiegelt, nachdem wir uns einen ersten Überblickt verschafft hatten.“ „Na, dann wollen wir mal“, sagte der Kommissar und stand auf. „Sie haben doch den Schlüssel zu seinem Dekanszimmer, oder?“

 

Die Sekretärin hielt wortlos einen gut bestückten Schlüsselbund hoch, nickte und folgte dem Polizisten zusammen mit Kösters auf den Flur, in das Treppenhaus, ein Stockwerk hoch und dann den Weg bis zum Dekanat. Kellert nahm den ihm gereichten Schlüssel, ritzte das Siegel durch, schloss die Tür auf und bat die beiden anderen einzutreten.

Sofort stiegen bei der Sekretärin Erinnerungsbilder hoch: Vorgestern hatte sie hier ihren Chef tot aufgefunden. Das schien ihr gleichzeitig unmittelbar nah, andererseits unendlich weit entfernt. Das gleißende Licht des Frühlingsmorgens, das durch die beiden Fenster in den hohen Raum hineinstrahlte, tauchte die Szenerie in eine fast unwirkliche Klarheit. Alles war wie immer: aufgeräumt und in penibler Ordnung. Nur die Blutflecken auf dem Teppich vor dem Schreibtisch störten. Sie waren zu einem braunroten Farbton eingetrocknet. Silvia Hoberg lief ein kalter Schauer den Rücken herunter. Sie schluckte dreimal. „Hier, bitte“, wies Kösters nach rechts zu einem blauen Metallschrank mit verschließbarem Rollgitter.

„Haben Sie dafür auch einen Schlüssel?“, fragte Kellert. Beide verneinten. „Den hatte nur der Dekan selbst“, kommentierte die Sekretärin mit säuerlicher Miene. Offenbar war das früher anders gewesen. Kellert brummelte etwas Unverständliches, durchsuchte lustlos den Schreibtisch, fand nichts und ging dann zum Schrank. Mit einem kräftigen beidhändigen Ruck schob er das Rollgitter beiseite: „Na also, geht doch!“

„Da fehlt etwas!“, rief die Sekretärin. „Schauen Sie hier!“ Tatsächlich, einer der blassgrauen Regalböden war leer. In den anderen türmten sich ungeordnete Papierstapel. ‚Erstaunlich, diese Unordnung in einem ansonsten so penibel aufgeräumten Zimmer! Seltsam!‘, dachte Kellert.

„Da lagen immer einige braune Hängeregistraturen, daran erinnere ich mich genau“, unterbrach die Sekretärin seine Gedanken. „Die sind mir immer aufgefallen, weil man die ja eben eigentlich hängt, aber da lagen immer sieben, acht Stück übereinander.“ „Und über den Inhalt …“ „… kann ich Ihnen nichts Genaues sagen, leider!“

„Gut, das ist ja immerhin schon etwas“, fasste Kellert zusammen und ließ den Blick durch das nüchtern und zweckmäßig eingerichtete Dienstzimmer des Dekans streifen. Dann wandte er sich an Prodekan Kösters: „Sie können den Raum dann reinigen lassen und wieder nutzen. Und vielleicht fällt Ihnen dabei ja doch noch etwas auf. Kommen Sie, gehen wir lieber zurück in Ihr Büro. Und Sie“, er drehte sich zu der Sekretärin herum, „brauche ich dann vorerst nicht mehr. Vielen Dank für alle Auskünfte. Ach, aber wenn Sie mir auch einen Kaffee bringen könnten, wäre ich Ihnen sehr verbunden.“

„So, und womit kann ich Ihnen noch dienen?“, fragte Prodekan Kösters, als die beiden Männer wieder in seinem Arbeitszimmer saßen. Ungeduldig hatte er auf die Uhr geschaut. Vielleicht bliebe ja doch noch wenigstens ein bisschen Zeit für seine Studien. Kellert hatte sich unterdessen im Zimmer umgesehen, deutete mit dem Daumen auf die kleineKinderzeichnung und fragte: „Von Ihrer Tochter?“ „Ja, schön, nicht wahr?“, antwortete der Professor und ein Strahlen trat in seinen Blick.

Dem Kommissar war aber nicht nach höflichem Geplauder zumute. Er blickte ihm scharf in die Augen. „Ich habe gehört, dass es vor zwei Wochen einen Konflikt in Ihrer Fakultät gegeben hat“, begann er, wurde aber von einem trockenen Lachen Kösters unterbrochen. „Haha, vor zwei Wochen? So was haben wir hier jeden Tag. Oder“, er dachte nach „hatten wir hier jedenfalls fast jeden Tag.“

„Ja, ich meine aber eine außergewöhnlich heftige Auseinandersetzung“, setzte Kellert nach, „zwischen dem Dekan und Professor Mühlhof.“ „Mühlsiepe heißt der, wenn Sie unseren Dogmatiker meinen!“ „Richtig, genau den!“ Kösters lehnte sich zurück, rollte mit den Augen und sagte dann: „Gut, also den Konflikt meinen Sie. Ja, der war tatsächlich außergewöhnlich.“ „Erzählen Sie schon!“, forderte der Kommissar ihn auf.

„Na ja, jetzt wo Gerstmaier tot ist … Das ist wirklich heikel. Aber Sie müssen auch mit Mühlsiepe selbst sprechen bitte! Was ich Ihnen erzählen kann, ist Folgendes. Also: Mühlsiepe vertritt eine Christologie von unten, falls Ihnen das etwas sagt.“ „Nein“, unterbrach Kellert, „ehrlich gesagt habe ich von Theologie und Kirche nicht viel Ahnung. Können Sie es so erklären, dass man das auch als Laie versteht? Und bitte nur das, was für unseren Fall wirklich wichtig ist.“

„Okay“, seufzte Kösters, „ich werde es versuchen. Also: Man hat im Christentum immer schon versucht, das Besondere an Jesus Christus zu erklären. In der Kirche hat sich – grob gesagt – die Tradition durchgesetzt, dass man das ‚von oben‘, sozusagen aus göttlicher Perspektive versucht hat. Alle zentralen Glaubensaussagen in den Bekenntnissen, zum Beispiel:Jesus Christus ist ‚wahrer Mensch und wahrer‘ Gott, lassen sich so verstehen.“ „Hmm, ja und?“, knurrte Kellert, der sich für diese Spitzfindigkeiten offenbar wenig interessierte. „Nun ja, und Mühlsiepe versucht – wie einige andere auch – den Zugang ‚von unten‘, also aus menschlicher Sicht, von der biblischen Basis und unserem heutigen Verständnis her. Mir als Neutestamentler ist das natürlich sehr sympathisch.“

Wieder unterbrach Kellert mit unverhohlener Ungeduld: „Ja, und wo ist nun das Problem?“ „Genau an diesem Punkt. Eher konservative Theologen unter den Bischöfen und unter unseren Kollegen denken, dass damit der Glaube verkürzt werde, die Tradition verfälscht, dass man damit die Substanz des Christentums verrät. Gerstmaier gehörte dazu, ja, er war ein Wortführer dieser Fraktion. Und, äh, verstehen Sie, er hatte einen besonders engen Draht zum Bischof.“ „Nein, das verstehe ich nicht. Worauf wollen Sie hinaus?“, fragte der Kommissar sichtlich ungehalten nach.

Kösters wand sich auf seinem Stuhl, räusperte sich, rang mit sich. „Nun, das hatte einige Konsequenzen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wenn wir im Professorium – also dem internen Treffen aller Professoren – unsere inneren Angelegenheiten besprachen, konnten wir uns eigentlich immer darauf verlassen, dass das unter uns blieb. Nicht, dass es da große Geheimnisse zu hüten galt, aber es war einfach gut zu wissen, dass man da offen miteinander organisatorische wie inhaltliche Dinge bereden und klären konnte. Seit einiger Zeit war uns klar, dass der Bischof schon wenige Stunden nach unseren Sitzungen haarklein über alles informiert war, was wir intern besprochen hatten. Da wird man dann vorsichtiger und misstrauischer, wie Sie sich denken können.“

„Schon klar, ja“, antwortete Kellert, „aber woher wussten Sie, dass Gerstmaier die undichte Stelle war?“ „Dass die beiden häufig zusammenhockten, ist nun wirklich kein Geheimnis, das weiß man in hiesigen kirchlichen Kreisen. Friedensberg ist eben doch ein Dorf mit einer Universität. Und spätestens die Sache mit Mühlsiepe war dann der Beweis.“

„Jetzt sagen Sie doch schon, was da war!“ „Gerstmaier hat unseren Kollegen beim Bischof angeschwärzt. Damit, dass der eine nichtkatholische Theologie befürworte und folglich häretische Positionen, also kirchliche Irrlehre vertrete. Und das zielte darauf ab, dass man ihm seine Lehrtätigkeit und den Lehrstuhl entziehen sollte. Stellen Sie sich das vor, unter Kollegen!“