Toter Chef - guter Chef

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7.

„Hmm, nicht schlecht, diese Gulaschsuppe“, lobte Bernd Kellert, während er sich Löffel für Löffel schmecken ließ. ‚Der Arme‘, dachte Thiele, ‚zu Hause bekommt er nur vegetarisches Essen. Da schmeckt es ihm selbst hier in diesem Stehimbiss beim Metzger.‘ Die beiden Kriminalbeamten kamen oft hierher, um sich aufzuwärmen, ein bisschen auszuruhen und sich über den neuesten Stand ihrer Ermittlungen auszutauschen. Dabei aßen sie oft eine Kleinigkeit oder tranken einfach nur einen Kaffee.

Thiele biss in ein Schnitzelbrötchen. ‚Recht hat er, der Bernd. Das ist wirklich auch nicht schlecht.‘ Nur Hannah Mellrich wirkte hier ein bisschen fehl am Platz. Sie hatte den Imbiss offensichtlich noch nie zuvor betreten. Entgeistert musterte sie den wenig einladenden Raum. Resopaltische, Plastikdecken, abgeschabte Stehhocker, hellgrüne Fliesenwände. Auch das Angebot der Speisen schien sie wenig anzusprechen. Einen Salatteller hätte sie durchaus gern bestellt, aber den gab es hier nicht. Also begnügte sie sich mit einem Espresso. Ungesüßt.

Die drei Kollegen hatten sich spontan hier verabredet, um über weitere Schritte zu beraten. „Ich habe Lena angerufen“, erklärte Thiele. „Sie soll mal die aktuelle Adresse von dieser ehemaligen Geliebten des Direktors herausfinden, dieser“ – er blickte kurz in sein Smartphone – „Monika Höffgen.“ Dass die Kommissariats-Sekretärin rasch und zuverlässig derartige Aufgaben erledigen würde, wussten alle drei.

Schon meldete sich der etwas schrille Klingelton, den Thiele für Anrufe oder Mails aus dem Kommissariat eingespeichert hatte. Er blickte auf den Bildschirm seines Smartphones und nickte. „Aha! Die lebt jetzt in Nürnberg. Soll ich das übernehmen, Chef?“ Kellert wischte sich mit einer groben Stoffserviette über den Mund und antwortete dann: „Gut, Dominik, mach das. Aber nicht heute. Morgen. Mal sehen, wie sie die Angelegenheit schildert. Sie wäre nicht die erste verlassene Geliebte, die den Ex-Liebhaber umbringt. Ich kann mir das in diesem Fall zwar kaum vorstellen, aber weiß man’s?“

Er wandte sich der Kommissar-Anwärterin zu. „So, und Sie? Was haben Sie beobachtet bei all unseren Gesprächen an der Schule?“ Hannah Mellrich rückte überrascht auf ihrem Stehhocker herum. Sie hatte nicht damit gerechnet, so angesprochen zu werden. Thiele blinzelte ihr verstohlen und ermunternd zu, ohne dass Bernd Kellert es merken konnte.

„Nicht viel“, räumte sie ein. „Und Ihnen entgeht ja auch fast nichts, Chef. Dass dieses Trio von der Schulleitung nicht besonders gut harmoniert, war ja nun wirklich mit Händen zu greifen. Diese Frau Wiesmüller – also die stellvertretende Direktorin –“, fügte sie an Thiele gerichtet hinzu, „tut nun wirklich alles, um es ihren männlichen Kollegen nicht leicht zu machen. Wobei wir natürlich nichts über die Hintergründe und Vorgeschichten wissen.“ „Noch nicht“, warf Kellert ein, ermahnte sich dann innerlich aber, dass er selbst solche Zwischenbemerkungen nicht ausstehen konnte.

Seine junge Mitarbeiterin fuhr ungerührt fort: „Und dieser Torsten Bedlinger ist natürlich eine Type. Wow! Raucht bestimmt Haschisch. Ich frage mich: Was macht ein solcher Lehrer an einem kirchlichen Gymnasium? Ein Werbeschild für diese Schule ist er nicht gerade, oder? Also ich, als Direktorin, hätte da längst einige Worte mit ihm gewechselt.“

Überrascht blickten die beiden Polizisten auf ihre Kollegin, die selbstbewusst und ohne Scheu ihre Überlegungen vorbrachte. „Kann doch sein, oder?“, ging sie weiter ihren Gedanken nach. „Der Direktor versucht, ihn loszuwerden. Der Bedlinger hat sowieso einen schlechten Ruf als Lehrer, wie Sie, Chef, ja gesagt haben. Und läuft so rum. Vielleicht hat dieser Geißendörfner ihn zum Vorruhestand bewegen wollen, was weiß ich. Und irgendwann wurde es dann zu viel. Der kocht über. Tickt aus. Dass er seinen eigenen Wagen genommen hat, fällt ihm erst hinterher ein. Ein Alibi hat er auch nicht. Passt doch!“

Sie überlegte und wischte mit der rechten Hand gar nicht vorhandene Krümel von der klebrigen Tischdecke: „Okay, das ist nur eine Theorie. Ich weiß selbst nicht, ob ich die so richtig überzeugend finde. Aber unmöglich ist das nicht, oder?“ „Nee, interessant“, lobte Kellert. „Wir kommen ja nur über Hypothesen weiter. Irgendwann trifft eine davon zu. Ganz einfach. Und diese ist nicht schlecht. Selbst wenn ich Ihre Skepsis teile. So richtig vorstellen kann ich mir das auch nicht.“

„Und wieso?“, fragte Thiele. Kellert schaute auf seine beiden Mitarbeiter, dann grinste er breit: „Ja, wieso? Nicht lachen! Wenn ich es recht überlege, hatte ich in meiner ganzen Laufbahn in der Mordkommission noch nie einen Täter“ – er blickte zu Hannah Mellrich – „oder eine Täterin, der oder die mir von Grund auf unsympathisch war. Noch nie! Und dieser Bedlinger ist mir unsympathisch.“

Kellert grinste, schüttelte den Kopf und erklärte mit einem Zug von Selbstironie: „Gut, das gilt kriminalistisch wohl kaum als schlüssige Begründung, einen Verdächtigen vom Tatverdacht auszuschließen. Aber es ist eben meine Erfahrung! Ganz subjektiv.“ „Und auf dein Gespür ist schon meistens Verlass, Chef“, bestätigte Thiele, ohne dass es anbiedernd klang. Denn genau das war eben seine eigene subjektive Erfahrung.

„Und weiter?“, auffordernd nickte Kellert seiner jungen Mitarbeiterin zu. Dieses Mal war sie vorbereitet. „Die beiden Kolleginnen, die dieser Bedlinger im Schlepptau mit sich führte, waren ihm ziemlich ergeben, schien mir. Wie die den angeschaut haben! Als wäre er etwas ganz Besonderes. Nun, vielleicht hat er ja verborgene Qualitäten. Also: mir verborgen. Wir sollten auf alle Fälle damit rechnen, dass er im Kollegium durchaus seinen privaten Fanclub hat. So wenig nachvollziehbar mir das scheint. Und was immer das bedeutet. Isoliert ist er jedenfalls nicht.“

Kellert nickte nachdenklich, gleichzeitig zustimmend. Wieder meldete sich Thieles Smartphone mit dem schrillen Klingelton aus dem Kommissariat. Ein Anruf dieses Mal. Er nahm das Gespräch an, drehte sich zur Seite, lauschte längere Zeit hinein, bestätigte das Gehörte und bedankte sich. „Das war noch einmal Lena. Sie hat sich die Finanzen dieses Direktors vorgenommen. Ich weiß nicht, wie sie das macht, aber irgendwie kommt sie immer schnell und unkompliziert an all die Infos, denen ich ewig hinterherlaufen würde.“

„Weiblicher Charme?“, warf Hannah Mellrich verschmitzt grinsend ein. Kellert ignorierte ihre Bemerkung. Thiele grinste gönnerhaft, zuckte mit den Schultern und berichtete: „Also: Finanziell war bei dem anscheinend alles in Ordnung. Das Haus vom Vater geerbt. Und von dessen Vater erbaut. Wie das halt so läuft. Das habe ich mir irgendwie fast schon gedacht. Solche Häuser kauft man nicht, die erbt man. Ansonsten: keine Schulden, regelmäßiges Einkommen, solide Geldanlagen. Wenn der Eindruck nicht völlig täuscht, war das ein untadeliger Staatsbürger, gehobenes Bildungsbürgertum, wie man so sagt, oder? Also finanziell bestens abgesichert. Mehr als wir jedenfalls, weit mehr als wir. Alles unauffällig. Bis auf diese Affäre. Was aber vielleicht ja auch schon irgendwie dazugehört. Oder, Bernd?“

Sein unerwartet mit Vornamen angeredeter Chef nickte geistesabwesend, besann sich dann jedoch, schüttelte den Kopf und murmelte: „Frag mich was anderes. Nicht meine Welt. Und ich bin nicht böse drum!“ Er dachte eine Weile nach und sagte dann: „Ich will noch mehr über diese Schule wissen. Wie es da so zuging. So viele Menschen auf so engem Raum, natürlich gibt es da Reibungen. Und ständig geht es darum, welche zukünftigen Wege die Kinder und Jugendlichen vor sich haben.“

Kellert überlegte. Dann wandte er sich mit einem ungewöhnlichen Anliegen an seinen Mitarbeiter: „Dominik: Kannst du nicht deine Verena fragen, ob sie nachher ein halbes Stündchen für uns Zeit hätte? Wenn wir schon einmal ein Familienmitglied vor Ort haben. Vielleicht kann sie uns weiterhelfen. Sie hat ja – sozusagen – Insiderwissen. Das sollten wir schon anzapfen, oder? Jaja“, er blickte auf Thiele, der gerade empört zu einer Erwiderung ansetzte, „natürlich so, dass es ihr nicht schadet, ist schon klar. Wir wollen sie nicht in einen Rollenkonflikt bringen.“

Sie verabredeten sich in der Wohnung der Thieles, wo Verena gerade den Unterricht vorbereitete. Gut, da würden sie nicht gestört und auch nicht von unliebsamen Augen gesehen werden. „Chef, brauchen Sie mich da?“, fragte Hannah Mellrich. „Ich hätte nämlich für meinen anderen Fall noch einige Formblätter auszufüllen. Nicht, dass ich mich danach sehnen würde. Aber erledigt werden muss es nun einmal.“ Kellert überlegte kurz und stimmte dann zu: „Gut, machen Sie das. Und: Danke für Ihre Begleitung und Beobachtung.“

8.

„Und, wie macht sie sich so, die Neue?“, fragte Thiele, während sie völlig gegen alle Gewohnheit zu zweit zu seiner Privatwohnung fuhren. Wie immer steuerte er den Dienstwagen. Kellert fuhr nicht gern selbst. Er blickte nach links, murmelte zunächst etwas Unverständliches, räusperte sich dann und antwortete: „Gut. Das hast du ja selber mitbekommen. Aufmerksam, genau, nicht zu aufdringlich – das passt!“

Er blickte nach rechts aus dem Fenster und auf das dort langsam vorbeiziehende Friedensberger Panorama. „Aber ungewohnt ist es schon. Mit einer Frau unterwegs zu sein. Das ist doch …“ – er suchte nach Worten – „irgendwie anders. Da ist schon eine Art Spannung in der Luft. Irgendwie. Und ich habe das Gefühl, als müsste ich ihr etwas beweisen.“ Er feixte. „Sag es nicht weiter“, fügte er an. Sein Blick verlor sich in nicht fixierbaren Fernen. „Na ja, das wird schon“, kommentierte er abschließend, als müsste er sich selbst von dem Gesagten überzeugen. Und als hätte er nun schon mehr als genug von seinem Innenleben preisgegeben.

Die Fahrt dauerte nicht lange. Seit mehr als zwei Jahren wohnte Kriminalhauptmann Dominik Thiele zusammen mit seiner Frau – sie waren seit sechs Monaten verheiratet – in einer geräumigen Mietwohnung im dritten Stock eines Neubaus in den Außenvierteln von Friedensberg. Thiele wusste, dass sich Verena in der Gegenwart seines Chefs immer ein bisschen gezwungen fühlte. Sie hatten sich bei einem Mordfall in der Theologischen Fakultät von Friedensberg kennengelernt, als Verena dort noch Studentin war. Inzwischen trafen sie sich auch privat, aber eher selten.

 

Die Kellerts waren selbstverständlich zur Hochzeit der Thieles eingeladen gewesen. Eine echte Lockerheit im Umgang wollte sich gleichwohl nicht so recht einstellen. Lag es am Altersunterschied? Oder daran, dass der erste Eindruck eben aus dem Zusammentreffen zwischen einem Kriminalkommissar und einer potentiell – aber natürlich völlig grundlos – Verdächtigen entstanden war?

Der großzügige Wohnbereich der Mietwohnung des jungen Paares eröffnete einen weiten Blick über die Hänge auf der anderen Seite des breitgeschwungenen Flusstales von Friedensberg. Sie saßen in den modischen Sesseln, Verena hatte einen Kräutertee aufgebrüht, der Kellert erstaunlich gut schmeckte.

„Na, wie ist denn so das Leben als Lehrerin?“, fragte er in angestrengter Ungezwungenheit. Verena lächelte etwas bemüht. Sie hatte eigentlich gar keine Zeit. Der Unterricht für morgen war noch nicht vorbereitet und eine Klassenarbeit war erst zur Hälfte korrigiert. Lehreralltag halt. Aber sie wollte dem Chef ihres Mannes den Wunsch nach einem Gespräch natürlich nicht abschlagen.

„Das kannte ich ja schon aus dem Referendariat. Aber jetzt bin ich endlich selbstständig. Keiner mehr, der mir über die Schulter guckt und Ratschläge gibt, egal ob gebeten oder ungebeten. Das genieße ich schon. Und ich wusste ja, dass ich gern mit den Kids arbeite. Und dass ich das auch kann. Dazu kommt: Ich habe ja nur eine Dreiviertelstelle. Das lässt mir natürlich ein bisschen Freiraum. Da kann ich mich besser vorbereiten, und das nehme ich auch ernst. Also, Bernd“ – immer noch eine ungewohnte Anrede mit dem ‚Du‘ und dem Vornamen –, „gut geht’s mir. Wirklich! Danke. Aber deswegen seid ihr nicht hier. Also los: Was wollt ihr wissen?“

Kellert spürte sofort, dass er sich in der vertrauten Rolle als Befragender wesentlich sicherer fühlte als zuvor in dieser seltsamen und letztlich ungeklärten Mischung aus Privatleben und Beruf. „Wir müssen einfach noch viel besser verstehen, wie eine Schule von innen funktioniert. Nein“, verbesserte er sich, „wie diese Schule funktioniert, das KaRaGe, das Domgymnasium in Friedensberg.“

Verena überlegte. „Was soll ich sagen? Das ist eine wirklich gute Schule. Ich bin froh, dort gelandet zu sein. Wenn irgend möglich, möchte ich da bleiben. Ich habe ja bislang nur einen Zeitvertrag.“ Dominik Thiele nickte. Die angedeutete Perspektive gefiel ihm. Auch er hatte sich in Friedensberg gut eingelebt.

Kellert unterbrach Verena jedoch: „Gute Schule? Was heißt das?“ Sie schmunzelte: „Genau, das ist die Frage, nicht wahr? Darüber streiten sich die Pädagogik, die Philosophie und die Politik seit Jahrhunderten. Für mich heißt das: Wir versuchen, unseren Schülerinnen und Schülern gerecht zu werden. Sie zu fördern. Und zu fordern. Immerhin sind wir ein Gymnasium. In einer Atmosphäre, die von Vertrauen geprägt ist. Zwischen Schülerschaft und Lehrerschaft, aber auch im Kollegium untereinander.“

Sie unterbrach ihren Gedankengang und blickte an die weiß getünchte Zimmerdecke. „Ja, das versuchen wir. Mit unterschiedlichem Erfolg, klar. Aber die Schüler können bei uns wirklich etwas lernen, fachlich und menschlich. Und wir im Kollegium sind eigentlich eine ganz gute Gemeinschaft. Soweit ich das beurteilen kann, ich bin ja erst seit zweieinhalb Jahren mit dabei. So richtig erst seit September. Als Referendarin hat man ja einen Sonderstatus, halb Teil des Teams, halb Gast auf Zeit.“

„Das klingt doch alles sehr gut“, kommentierte Dominik Thiele. „Fast schon zu gut“, warf Kellert ein. „Also bei eurer stellvertretenden Chefin, bei dieser“ – er überlegte kurz – „Ingrid Wiesmüller, klingt das anders. Sie hat uns, also der Kollegin Mellrich und mir, von dauerhafter Spannung und Konflikten erzählt.“

„Ja, die Wiesmüller!“, lachte Verena Thiele auf. „Die ist schon eine besondere Marke, oder? Ständig unter Spannung. Ständig in Inszenierung. Da schmunzeln besonders die älteren Männer im Kollegium. Hinter ihrem Rücken natürlich. ‚Mach mal langsam, Mädchen‘, hat der Müllner letzte Woche gesagt, als sie nach einem ihrer typischen Auftritte im Lehrerzimmer wieder verschwunden war. Großes Gelächter.“

„Aber ihre Einschätzung über die Schule …?“, schob Kellert nach. „Die ist natürlich nicht falsch“, räumte Verena ein. „Und das ist trotzdem kein Beleg dafür, dass ich mit meiner Wahrnehmung Unrecht hätte. Beides stimmt. Schule kannst du immer unter verschiedenen Perspektiven betrachten, das ist nun einmal so. Natürlich brodelt es unter der Oberfläche. Ständig werden einige belohnt, andere abgestraft; einige bestätigt, andere in ihrer Schwäche bloßgestellt; einige befördert, andere gegen ihre Erwartungen links liegen gelassen. Aber was willst du machen? Das ist nun einmal in der ganzen Gesellschaft so. Wie sollte Schule da eine Ausnahme bilden? Wir sind doch Teil dieser Gesellschaft, keine Sonderwelt. Aber wir versuchen wenigstens, fair und offen miteinander umzugehen. Wenigstens das.“

Sie schwiegen und nippten an dem noch handwarmen Tee. Dann ergriff Kellert das Wort: „Und der Chef, der Dr. Geißendörfner, wie war der so?“ Verenas Augen verengten sich. „Dass der jetzt tot ist! Das kann ich mir noch gar nicht so richtig vorstellen. Ich weiß es, kann es aber eigentlich nicht fassen. Und dass irgendjemand ihn ermordet hat! Vielleicht sogar jemand, den ich kenne. Wenn es denn einer aus der Schule war! Was ich mir einfach nicht vorstellen kann. Beim besten Willen nicht.“

Sie verlor sich in Erinnerungsbildern, gab sich dann aber einen Ruck. „Ja, wie war der? Ich persönlich bin glänzend mit ihm ausgekommen. Er mochte mich, das war deutlich.“ Dominik Thiele zuckte kaum merklich zusammen, schaute kurz zu ihr herüber, unterbrach sie aber nicht. „Ohne ihn wäre ich kaum am KaRaGe gelandet. Ein weiser älterer Herr. Gütig. Mit einer natürlichen Autorität. Dabei warmherzig. Mit einem Sinn für Gerechtigkeit. Ausgeglichen. Und seinerseits immer um Ausgleich bemüht. So etwas kannst du nicht lernen. Ich hatte großen Respekt vor ihm.“

Nun mischte sich ihr Mann doch in das Gespräch ein. Er beugte sich vor und versuchte ruhig zu bleiben: „Nur Respekt? Richtig geschwärmt hast du von dem, wenn ich mich richtig erinnere. Aber das sieht für mich – von heute aus betrachtet – doch ein bisschen anders aus. Äh: Hat er dich mal angemacht? War der hinter den jungen Kolleginnen her?“

Empört blickte Verena zu ihm hinüber: „Also echt, Domm! Das war eher der Vatertyp. Ohne Hintergedanken. Da war keine Doppelbödigkeit. Bei mir ganz bestimmt nicht. Und bei anderen …“ – sie überlegte – „nein, da kann ich mich wirklich an nichts erinnern. Dass ihr Männer immer gleich an so etwas denkt!“

Dominik Thiele machte eine Entschuldigungsgeste und lehnte sich in seinen Sessel zurück, schickte aber noch eine Bemerkung hinterher: „Aber vor einigen Jahren hatte er definitiv eine Affäre mit einer jüngeren Kollegin eurer Schule. Das steht fest!“ Kellert warf ihm einen scharfen Blick zu. Das hätte sein Kollege eigentlich nicht verraten dürfen. Das war eine interne Information. Der Kriminalhauptmann biss sich auch sofort auf die Lippen. Blöd, da war der Gaul mit ihm durchgegangen. Passierte ihm sonst nicht. Aber das konnte eben vorkommen, wenn Privat- und Berufsleben sich vermischten.

Verena schaute verwundert. Sie zweifelte keinen Moment daran, dass diese Aussage stimmte. „Echt!?“, rief sie verblüfft. „Das hätte ich nie gedacht. Und davon habe ich auch noch nie etwas gehört am KaRaGe. Keine Silbe! Aber er hat doch auch diese wunderbare Frau, Thea. Die ist bei offiziellen Anlässen doch fast immer mit dabei. Eine richtige Dame, denke ich immer.“ ‚Du auch?‘, grinste Thiele innerlich. ‚Aha, da haben sie am Gymnasium also ein System von Geheimhaltung aufgebaut. Zum Schutz aller Beteiligten. Und es scheint zu funktionieren‘, ging es Kellert durch den Sinn.

Verena schüttelte den Kopf. Sie musste das Gehörte erst verarbeiten. Es brachte das Bild, das sie sich von ihrem ehemaligen Chef gemacht hatte, ins Wanken. „Der Geißendörfner!“, murmelte sie.

9.

„Ena“, wandte sich Dominik Thiele einige Minuten später an seine Frau, nachdem er das Teegeschirr in die Küche gebracht hatte. „Wir suchen natürlich nach einem Motiv. Warum bringt jemand einen Menschen um, den du als so freundlich und ausgeglichen erlebt hast? Und nicht nur du. Das hören wir eigentlich von fast allen, die wir nach diesem Geißendörfner befragen. Warum also? Warum hat man ihn umgebracht? Natürlich, das kann etwas mit seinem Privatleben zu tun haben oder womit auch immer. Aber eben auch mit seinem Beruf. Erinnerst du dich an ganz besondere Streitigkeiten oder Konflikte?“

Sie dachte nach. „Ihr sucht jetzt nach etwas Besonderem jenseits des normalen Alltagsgeplänkels, richtig?“ Kellert und Thiele nickten. „Ich bin natürlich noch nicht lange dabei“, rief sie in Erinnerung. „Aber drei Dinge fallen mir durchaus ein, wenn ihr mich nun so fragt. Kurz nachdem ich hier richtig angefangen habe, also …“ – sie überlegte – „im Oktober muss das gewesen sein, da gab es mal eine heftige Auseinandersetzung um einen Schüler aus der Zwölften, der von der Schule verwiesen wurde. Warum, weiß ich nicht. Seine Eltern haben jedenfalls richtig Ärger gemacht. Einmal musste der Chef den Vater fast mit Gewalt aus der Schule führen lassen. Vorher hatte es im Direktorat so richtig geknallt. Laut, Gebrüll, mit Türenschlagen und allem.“

Sie überlegte kurz: „Und danach gab es ein Gerichtsverfahren. Aber alles war rechtens. Die Schule und der Chef hatten sich vollkommen korrekt verhalten, wenn ich mich richtig erinnere. Tja: Es gibt Eltern, die halten sich an keine Regeln. Ätzend! Jedenfalls: Da könnte man einmal nachhaken.“ Kellert hob seine Augen in Richtung seines Mitarbeiters und schloss sie kurz. Thiele wusste, was das zu bedeuten hatte: sein Job! ‚Schön, so stelle ich mir Teamarbeit vor‘, dachte Kellert und grinste still in sich hinein.

„Ist was? Habe ich etwas verpasst?“, fragte Verena Thiele nach, der das Grinsen nicht entgangen war. „Nein, nein: alles in Ordnung, Entschuldigung!“, gab Kellert zurück und blickte sie ermunternd an. Sie hing auch noch einem anderen Gedanken nach: „Gut, also die zweite Sache, die mir einfällt: Als ich ganz frisch an der Schule war, im September, da gab es einmal eine komische Situation. Seltsam, dass ich mich jetzt daran erinnere. Da wurden in der Konferenz die Beförderungen verkündet, vom Chef natürlich. Da ging es drunter und drüber, das kann man sich ja vorstellen.“

Die beiden Polizisten schauten sie erwartungsvoll an. Und Verena Thiele hatte nun einen für sie fast unerschöpflichen Erzählgegenstand gefunden. Die Erinnerungen sprudelten nur so aus ihr heraus. „Drei Beförderungen zum Studiendirektor gab es zu feiern, das heißt für die beförderten Kollegen: bis zu 450 Euro im Monat mehr auf dem Konto. Verbunden mit so genannten Funktionsstellen, also irgendeiner wichtigen Aufgabe in der Schulverwaltung oder Schulgestaltung neben dem Unterricht. Und in der Regel mit einer Stundenreduktion verbunden. Das bedeutet: Eine Verringerung der Deputatsstunden, also des Umfangs des zu haltenden Unterrichts. Da sind die älteren Kolleginnen und Kollegen richtig scharf drauf: weniger unterrichten! Komisch, ich möchte lieber nur unterrichten! Okay, das sieht man nach zwanzig Berufsjahren vielleicht ein bisschen anders. Vielleicht.“

Nur kurz hielt sie inne und fuhr dann fort: „Vier neue Oberstudienräte gab es auch noch zu feiern, das ist aber eher eine normale Beförderung nach mehreren Jahren. Lohnt sich auch finanziell nicht so besonders. Und ist nicht automatisch mit einem veränderten Aufgabenfeld verbunden. Und eine, nein: zwei Verbeamtungen. Die ich mir ja auch wünschen würde …“ „Und was war daran nun seltsam?“, fiel ihr Bernd Kellert nun doch ins Wort. „Was hat das mit dem Mord zu tun?“

„Nichts wahrscheinlich“, gab Verena Thiele zu, „aber mir wurde damals klar, dass Beförderung für die einen auch immer Nicht-Beförderung für andere bedeutet. Da gab es schon frustrierte Blicke, auch böse, eifersüchtige. Wenn ich es von heute aus bedenke: vielleicht sogar hasserfüllte. Das ist schön blöd: die einen feiern, und du sitzt wieder einmal mit leeren Händen da. Andere bekommen die Stelle, die du selbst nur zu gern übernommen hättest.“

 

Wieder dachte sie nach: „Und alle wissen, dass der Chef mit seinen Beurteilungen natürlich ein wesentlicher Faktor dabei ist. Letztlich hängt vieles, wenn auch nicht alles von seiner Einschätzung ab. Dass sich da manche vor den Chefs groß aufspielen, kann man ja irgendwie nachvollziehen. Aber das muss doch für den Chef auch sehr unangenehm sein: Nie weißt du, ob jemand zu dir freundlich ist, weil er dich als Mensch meint, oder ob er nur auf Protegierung schielt. Da muss man dann wohl darüberstehen, schätze ich. Für mich wäre das nichts.“

„Hasserfüllte Blicke, hast du gesagt“, hakte Bernd Kellert ein, der diese Mechanismen aus seinem Arbeitsfeld natürlich auch kannte. „Von wem? Kannst du dich an irgendjemanden konkret erinnern?“ Die Frage war Verena sichtlich unangenehm. Sollte sie jetzt irgendwelche Kollegen bloßstellen und verdächtig machen, wahrscheinlich völlig grundlos? „Hass, das Wort war vielleicht zu stark“, entgegnete sie ausweichend. „Und nein: Da war ich ja noch neu im Kollegium, kannte noch nicht so viele. Nein, ich habe da kein Gesicht ganz konkret vor Augen. Kein Name, sorry.“

‚Schade‘, dachte Kellert, hatte aber noch eine vermeintlich letzte Frage: „Und dieser Thomas Bedlinger …“ – „Torsten“, fiel ihm Thiele ins Wort. Irritiert und ein bisschen verärgert schaute Kellert zu seinem Mitarbeiter: „Was?“, fragte er unwirsch. „Torsten Bedlinger heißt der, nicht Thomas“, erklärte dieser. „Von mir aus, dann eben Torsten Bedlinger. Jedenfalls: Was hältst du von dem?“

Verena grinste schief: „Ach, der Torsten! Ja, der fällt natürlich auf. Torsten und sein Toto.“ Kellert blickte völlig irritiert. Sie lachte auf: „Na, Torstens Toyota. ‚Toto‘, das sagen alle! Der Torsten ist irgendwie ein deutlich verspäteter Achtundsechziger, scheint mir. Aus der Zeit gefallen. Macht wohl einen grottenschlechten Unterricht. Gibt aber gute Noten, dann halten sich die Beschwerden der Eltern in Grenzen. Alle dürfen, nein müssen ihn duzen. ‚Hallo, ich bin der Torsten‘, so eben. Und der, der hat nun wirklich einen besonderen Blick für die Kolleginnen. Aber nicht auf uns, die jungen“, fügte sie mit einem begütigenden Blick auf ihren Mann hinzu. „Der ist eher in der Altersklasse ‚vierzig plus‘ unterwegs. Da gibt es ja einige alleinstehende Kolleginnen. Und da jagt er mit erstaunlichen Erfolgen, sagt man. Also, was ich so höre.“

Ungläubig nahm Kellert diese Information auf. Was die Frauen an dem finden könnten, konnte er sich selbst in seinen kühnsten Phantasien nicht vorstellen. Wollte er aber auch nicht. Phantasie war sowieso nicht seine Stärke. „Aber, äh … das ist doch ein kirchliches Gymnasium, oder? Wie passt dieser Typ denn ausgerechnet da hinein?“

„Staatliches Gymnasium in kirchlicher Trägerschaft, so heißt das offiziell“, korrigierte Verena Thiele. „Auch da sind die Lehrkräfte Staatsbeamte. Zumindest der überwiegende Teil. Und wenn du da einmal Teil des Systems bist, kann dich niemand so leicht daraus entfernen. Beamter ist Beamter. Wer sich Freiheiten herausnehmen will, hat breiten Spielraum. Leider, denke ich manchmal. Auch als Direktor wirst du so jemanden nicht einfach los. Wenn sich der Betreffende querstellt und nichts wirklich objektiv Belastendes gegen ihn vorliegt, ist er Teil der Schule. Und bleibt es auch.“

„Doch, einen Weg gibt es natürlich“, verbesserte sie sich, nun selbst mit bitterem Grinsen. „Du kannst ihm als Chef so gute Beurteilungen schreiben, dass er sich damit wegbewerben kann. Auf irgendeine Planstelle mit höherer Besoldung an einer anderen Schule. Dann bist du ihn zwar los, aber eine andere Schule hat das Problem. So läuft das. Die Wege der Beförderung sind manchmal seltsam. Der einzige Ausweg führt nach oben …“

Ihre rechte Hand zeigte in Richtung Zimmerdecke. „Deswegen stockt das wahrscheinlich mit deiner Beförderung, Dominik“, raunte Kellert in Richtung seines Mitarbeiters, dessen Wunsch nach offizieller Bestätigung und beruflichem Fortkommen er natürlich kannte. Und nach besten Kräften unterstützte. „Du bist einfach zu gut. Erst einmal müssen all die Flaschen entsorgt werden. Da hörst du es.“

Dominik Thiele grinste säuerlich. „Ach deswegen, alles klar. Endlich kapiere ich, wie der Hase läuft. Dann werde ich mich ab jetzt einfach mal ganz blöd anstellen, oder?“ „Bloß nicht!“, entgegnete Kellert. „Das wird schon noch, du brauchst einfach ein bisschen Geduld.“ Sein Mitarbeiter verzog das Gesicht und schwieg.

Verena ergriff wieder das Wort, unglücklich darüber, das Thema aufgebracht zu haben. Sie wusste, dass das für ihren Mann ein heikles Terrain war. „Nein, da möchte man nicht unbedingt Chef sein, oder? Ich habe übrigens nicht die geringste Ahnung, wie das Verhältnis von Torsten zu unserem Chef, also Geißendörfner, war. Da hatte ich nun wirklich keinen Einblick. Aus dem ganzen religiösen Leben der Schule hält sich Torsten jedenfalls heraus. Aber da ist er nicht der Einzige. Gott sei Dank haben wir ein großes Kollegium. Mit vielen guten und richtig engagierten Leuten. Das hat sich auch heute bewährt. Doch, wir haben das gut gemacht. Den Umgang mit Schock und Trauer gut hinbekommen. Morgen soll wieder ganz normaler Unterricht stattfinden. Ich hoffe, dass das funktioniert.“

Kellert hatte dem Wortgeplänkel des jungen Ehepaars geduldig zugehört, mischte sich jetzt aber doch noch einmal ein: „Du hast aber von drei Konflikten gesprochen, Verena“, erinnerte er sie. „Was war denn der dritte?“ Sie blickte ihn verwirrt an, schien den Gesprächsfaden verloren zu haben. Legte die Stirn in Falten, überlegte. Dann schlug sie sich sanft mit der rechten Hand gegen die Schläfe.

„Ach so, ja! Das ist aber jetzt auch schon einige Monate her. Eine meiner Studienkolleginnen, die Kathrin, Kathrin Prestele, zu der hatte ich eigentlich gar keinen Kontakt mehr. Aber dann treffe ich sie hier überraschend an der Schule wieder. Die hat sich dazu entschlossen, zu promovieren, also in Theologie ihren Doktor zu machen. Beim Professor Brandtstätter von der Theologischen Fakultät.“

„Den kennen wir ja noch“, knurrte Kellert. „Ganz gut sogar.“ In gleich zwei Fällen hatten er und Thiele mit Brandtstätter zu tun gehabt. „Und?“, fragte er in Richtung Verena nach. „Die Kathrin hat eine Arbeit über irgendein empirisches Thema geschrieben, also etwas mit Unterrichtsbeobachtungen, Fragebögen und so. Das genaue Thema weiß ich nicht mehr. Und diese Untersuchungen hat sie bei uns an der Schule gemacht. Das ist ja naheliegend: Da können Theologische Fakultät und Katholisches Gymnasium doch einmal Hand in Hand zusammenarbeiten. Man kennt sich, die Beziehungen sind ganz okay, die Wege kurz. Optimale Voraussetzungen.“

„Aber?“, bohrte Kellert etwas ungeduldig nach. Er wartete immer noch auf die Schilderung des angedeuteten Konfliktes. Verena war seine zunehmende Ungeduld nicht entgangen. „Nun ja: Dann ist irgendetwas passiert, keine Ahnung, was. Jedenfalls hat der Direktor, also Geißendörfner, ihr dann verboten, ihre Untersuchungen bei uns zu Ende zu führen. Natürlich, als Chef konnte er das.“

„Und was wurde dann aus dieser Kathrin?“, fragte Thiele nach, der sich nicht erinnerte, diesen Namen jemals gehört zu haben. Verena zuckte mit den Schultern. „Das weiß ich nicht. Wie gesagt: Sie war keine nähere Freundin oder so. Wir kannten uns halt vom Sehen. Sie war, das weiß ich noch, ziemlich verzweifelt. Hatte wohl schon zwei Jahre in die Arbeit hineingesteckt. Und dann plötzlich das Aus. Schön ist das nicht! Aber der Geißendörfner wird schon seine Gründe gehabt haben, die weitere Arbeit bei uns zu untersagen. Das sieht ihm eigentlich gar nicht ähnlich, jemanden so an die Wand fahren zu lassen. Dachte ich damals. Aber ich war damals und bin ja bis heute kein wirklicher Insider. Über die Hintergründe weiß ich nichts. Da müsst ihr andere fragen.“

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