Der sanfte Wille

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Wege zur Erfahrung der Gegenwärtigkeit

Wann sind wir, abgesehen von den seltenen Augenblicken der Geistesgegenwärtigkeit, konzentriert und selbstvergessen? Wenn es sein muss, wenn es einen Zweck hat, wenn wir ein Problem lösen wollen oder wenn etwas sehr anziehend ist, ästhetisch oder in anderer Hinsicht. Es sind äußere Anlässe, die im Kontext unseres Lebens auf uns solche Wirkung ausüben und unseren Willen motivieren. Wie wäre es, was könnte man erreichen, wenn wir die Konzentriertheit von uns aus, ohne äußere Gründe, Anlässe, das heißt aus Freiheit herstellen könnten? Dann wäre es gänzlich unser Tun, und da es nicht auf einen Zweck hinausliefe, könnte der Aufmerksamkeitswille, da er kein anderes Ziel hätte, mehr über sich selbst erfahren.

«Von uns aus» bedeutet zugleich, dass das Thema der Aufmerksamkeit nicht durch andere Vorgänge gegeben werden sollte, keine Wahrnehmung wäre, sondern eine Vorstellung oder ein Gedanke, die nicht von außen gegeben werden können, die durch die Aufmerksamkeit selbst als Erinnerung oder als Fantasie oder als Denken hervorgebracht werden müssen. Dann konzentriert sich die Aufmerksamkeit auf ein eigenes Erzeugnis. Wir nennen das «aktive Aufmerksamkeit». Man kann darin die Möglichkeit ahnen, dass bei diesem Vorgehen die Aufmerksamkeit sich begegnen, das heißt erfahren kann in ihrem Tun, bevor sie ein Objekt hat, ein Bild, ein Gedanke, ein Ding geworden ist. Das Thema soll weder anziehend noch abstoßend sein. Ist es anziehend, dann bedarf es keiner inneren Kraftübung, um bei dem Thema zu bleiben. Es soll auch für den Übenden verständlich, das heißt begrifflich durchsichtig sein. Dieses Kriterium wird nur von menschengeschaffenen Gegenständen erfüllt. Wie man mit Gedanken und Symbolbildern vorgeht, wird im Kapitel «Meditation» behandelt.

7. Übung

Wir wählen einen einfachen, uns geläufigen Gegenstand (Knopf, Nadel, Löffel, Bleistift, Ring oder Ähnliches), schauen ihn, wenn nötig, sorgfältig an, dann legen wir ihn weg oder schließen die Augen und versuchen uns den Gegenstand vorzustellen, wie eine Erinnerung. Das wird uns umso besser gelingen, je mehr wir das Bild «kommen lassen», wie wir es beim Erinnern tun. Als ob wir innerlich fragten: Wie sieht der Gegenstand aus? Erst lassen wir das Bild kurz auftauchen; beim zweiten oder dritten Mal versuchen wir es zu halten. Wir basteln oder arbeiten ja nicht am Bild des vergangenen Nachmittags, wenn wir es in Erinnerung «rufen». Wir begleiten das Bild des Gegenstandes mit Gedanken, beschreiben seine Gestalt, seine Eigenschaften, die Stofflichkeit und so weiter; dann versuchen wir, ihn uns in Funktion vorzustellen (den Löffel löffelnd) und zuletzt, wenn die vorangehenden «Stufen» – sie gehen kontinuierlich ineinander über – gut, ohne Ablenkungen ausgeübt werden, versuchen wir, uns auf die Idee des Gegenstandes, auf das, was der Erfinder vor seinem inneren Auge hat, zu konzentrieren: auf die Funktion, noch ohne den materialisierten Gegenstand.7 Die Dauer dieser Übung sollte, wenn die anfänglichen Schwierigkeiten überwunden sind, etwa drei bis fünf Minuten sein.

Folgende Erfahrungen können, auch allein mit dem Vorstellungsbild, gemacht werden. Die erste Erfahrung ist, dass es nicht ausreicht, das Bild einmal erscheinen zu lassen, wenn wir es länger halten wollen, denn es verschwindet leicht sofort und andere assoziierte Inhalte nehmen das Bewusstsein in Anspruch. Wenn wir das Bild halten wollen, muss es ständig produziert werden, das heißt, es muss durch einen Aufmerksamkeitsstrom andauernd «genährt» werden. Das «Kommen-Lassen» bedeutet in diesem Fall ein andauerndes Entstehen-Lassen durch einen sanften, leichten, spielenden, nicht krampfhaften oder kämpfenden, «hart wollenden» Aufmerksamkeitsstrom. Dieser fließt in das Bild hinein, das dadurch entsteht und bleibt. Zunächst begnügen wir uns mit dem Bild, das wir einige Minuten lang zu halten imstande sind. Wir schauen nach jeder Übung auf deren Ablauf zurück.

Es kann uns dabei auffallen, dass im Bewusstsein nur das Bild erscheint – von Ablenkungen abgesehen –, nicht aber der Aufmerksamkeitsstrom.

Besprechung der 7. Übung

Wir können den Vorgang des Konzentrierens auf ein Vorstellungsbild schematisch darstellen:


Wir lenken die Aufmerksamkeit durchaus bewusst auf das Bild, die Bewegung aber, das Strömen in das Bild hinein bleibt außerhalb der Erfahrung: Wir erleben nicht, wie das Bild zustande kommt, nur die Schwierigkeit, es zu halten.

Wächst jedoch die Intensität des Aufmerksamkeitsstromes, so beginnen Veränderungen sowohl am Bild als auch im Tun, im Hervorbringen und Halten des Bildes. Das Bild wird lebendiger, kraftvoller, das Tun wird mehr und mehr als wirklich gefühlt, man hat den Eindruck, etwas zu tun – am Anfang des Übens tritt das nicht auf.

Wenn wir diese Veränderungen im Üben festigen können, das heißt wenn sie regelmäßig bei jeder Übung bemerkbar sind, dann können wir einen weiteren Schritt tun. Wir schauen den Gegenstand nochmals an, diesmal mit einem globalen Blick, so wie wir ein menschliches Antlitz anschauen, ohne auf Einzelheiten (Form der Nase, des Kinnes usw.) einzugehen: Meistens können wir ja nicht über die einzelnen Züge Rechenschaft geben. Das hindert uns nicht, das Gesicht wiederzuerkennen, es uns auch vorstellen zu können, weil wir eben einen globalen, mehr fühlenden Eindruck von ihm haben. Wir schauen den Gegenstand mit einem solchen Blick an. Das führt meistens zu einem noch lebendigeren Bild, und wir können merken, dass die Aufmerksamkeitsbewegung eine leise Gefühlsfarbe bekommt.

8. Übung

Wächst nun die Aufmerksamkeitskraft weiter, so können wir weitere Veränderungen im Üben erleben. Das Bild wird immer leuchtender – umso mehr, als wir es geschehen lassen –, wird größer und kommt uns näher. Das sind Ausdrucksformen, die nicht genau das Erlebnis wiedergeben, sie deuten nur eine Richtung an, in welche sich die Veränderung bewegt. Der Übende wird diese Beschreibungsversuche in der Erfahrung wiedererkennen, zurechtrücken, wird dann wissen, was mit ihnen gemeint ist. Man hat die Empfindung, das Bild und der Übende rücken einander immer näher, bis sie dann zur völligen Deckung kommen, das heißt, man erlebt sich mit dem Bild identisch. Das Bild ist bei diesem Erlebnis keineswegs mehr statisch: Was man als Identität erlebt, ist nicht ein Löffel, sondern ein Löffeln, nicht eine Tasse, sondern ein «Tassen», ein Verb, ein Funktionieren. Zunächst kann das als befremdend empfunden werden; setzt man den Übungsweg fort, so wird immer klarer, was man als Identität erlebt. Bei diesem Grad der Konzentriertheit verliert man die Worte und Begriffe, lässt sie wegfallen, es bleibt ein reines «Das», eine Bewegung, die zum Begriff führen könnte, und mit dieser Bewegung der denkenden-vorstellenden Aufmerksamkeit fühlt man sich identisch, mit der Entstehungsidee, dem Wesen des Gegenstandes: Man wird zu seinem schöpferischen Verstehen. Wir sind beim reinen Denken / Vorstellen angelangt.

Besprechung der 8. Übung

Die geschilderte Erfahrung hat eine Ähnlichkeit mit Erlebnissen im Theater oder Konzert, wo wir selbstvergessen das Geschehen auf der Bühne oder der Musik mitmachen, bis zum Gerührtwerden von der Fiktion – ist sie eine Fiktion? –, nur dass bei der Übung die ästhetische Anziehung, das von außen Gebotene fehlt, wir tun alles. Gerade das ist die Stärke der Übung und führt zum nächsten Schritt, der beim ästhetischen Erleben kaum vorkommen kann. Im Hintergrund des Identitätserlebnisses steht nämlich die Tatsache, dass die Aufmerksamkeit unser seelisch-geistiges Wesen ist.8 Gerade deshalb erleben wir sie für gewöhnlich nicht, wir sind identisch mit ihr. Es wird uns nur bewusst, wo die Aufmerksamkeit zu einer Form wird, ihr jeweiliges Objekt. Wird die Aufmerksamkeit ungewöhnlich intensiv, so tritt die Identität mit dem Objekt bewusst auf. Ganz besonders, wenn das Objekt selbst schon aus der Aufmerksamkeit besteht, wie beim Bild oder Gedanken – «aktive Aufmerksamkeit» –, und von außen nichts gegeben ist.

9. Übung

Die Aufmerksamkeit kann an Intensität grenzenlos zunehmen. Wächst sie über das Identitätserlebnis hinaus, tritt wieder eine Veränderung im Erleben auf. Wir werden jetzt die Aufmerksamkeitsbewegung in das «Bild» hinein, erleben das aber noch vor dem «Bild» – wo es noch nicht «gebildet» ist –, das nun, wie oben beschrieben, das lebendige Zeichen einer lebendigen Bedeutung – Entstehungsidee genannt – ist, ein Zeichen, ungetrennt von seiner Bedeutung. Das kommt sonst nur beim Kleinkind während des Spracherwerbs und im archaischen Bewusstsein vor, wo Denken und Sprechen ungetrennt identisch sind. «Vor dem Bild» bedeutet weder räumliches noch zeitliches Vorangehen, der ganze Vorgang spielt sich in der Gegenwärtigkeit ab; trotzdem wird die sich zum Bild hin bewegende Aufmerksamkeit noch im formfreien Zustand erlebt; das heißt, sie erlebt sich selbst, wird dadurch zum Selbst, zum selbstbewussten Ich. Dieses Erlebnis kann auch «Ich-bin» genannt werden.

Hier wird das Denken / Vorstellen in seinem reinsten, begriffslosen, bildlosen (vor dem Bild), begriffsbildenden, formbildenden Bewegen erlebt. Das war das Hauptziel der Übungsreihe. Zugleich und untrennbar davon gelangt der Übende zum Ich-bin-Erleben, zur ersten möglichen rein geistigen Erfahrung, wenigstens für einen Augenblick, die wie ein Verstehen aufblitzt. Nur durch die Erfahrung der eigenen Gegenwärtigkeit kann Gegenwart – das ewige Jetzt – und die Gegenwärtigkeit von allen anderen Wesen erfahren werden. Sonst wäre niemand da, der sie erfahren könnte. Unsere schematische Darstellung nimmt damit folgende Form an:

 

Diese Erfahrung ist gleichbedeutend mit dem Entstehen der «wahren Zeugenschaft» – so wird es im Neuen Testament genannt,9 der menschlichen Wesenheit, die nicht automatisch mit den Seelenfunktionen, mit dem Denken, mit Emotionen, Willensimpulsen vermischt ist, sondern auf diese – wenigstens auf das Denken – schauen, sie gebrauchen kann. Dieses Ich-bin oder Selbst ist die Erfahrung des eigenen geistigen Seins, deshalb auch unabhängig von Erfolg, Misserfolg, Anerkennung, Zurückweisung, der Meinung anderer Menschen, auch gefeit vor überflutenden Emotionen. Anstatt derer beginnt das erkennende Fühlen aufzuwachen und eine wachsende Rolle im Leben zu spielen. Das Aufblitzen dieser Wesenheit – die richtige Selbst-Erkenntnis – wird in der Anthroposophie Selbstbewusstseinsseele, wenn sie Dauer hat, Geistselbst genannt.

Durch die Denk- und Vorstellungsübungen erreichen wir zwei Veränderungen. Die eine betrifft unser Innenleben: In der Erfahrung «es denkt» wird nicht nur ein Ich-bin oder Selbst erzogen, das nicht mehr mit dem Denken / Vorstellen vermischt ist, sondern das diese nicht ihm gehörende Denkkraft lenken kann. Der Zeuge nimmt sie in seine Verwaltung.

Andererseits erhalten die Themen, sofern sie einfache menschengeschaffene Nützlichkeitsdinge sind, dadurch, dass sie nicht ihrem Zweck gemäß, sondern als Übungsthemen verwendet werden, Bedeutung und Sinn. Man kann sagen, es wird ihnen eine neue Würde zugesprochen, eine neue Sakralität, indem sie das Denken des Übenden durch die Bahnen ihrer Funktion, ihrer Erfindungsidee führen und dadurch in das sinnschaffende Tun der Übung selbst assimiliert werden.

Auch das Weltbild verändert sich dramatisch mit dieser Erfahrung: Alles in der Welt wird als ein Werden, als Vorgang oder Geschehen erlebt, nichts mehr als ein statisches «ist». Das ist die Welt des Kleinkindes in einem schwer bestimmbaren Alter und auch die der archaischen Kulturen, in denen die Menschen auch alles als Geschehen erfahren haben, sei es ein Fels oder ein Berg.

Erst jetzt weiß der Mensch aus Erfahrung, was das heißt, «es denkt in mir», was ja auch das Geheimnis des guten gewöhnlichen Denkens ist, wir lassen es geschehen und beschränken uns auf die richtunggebenden, sanften Lenk-Gebärden, wie ein Schäfer, der die rechts und links abschweifenden Schafe in Richtung der Herde zurücklenkt. Wenn ich erfahre, «es denkt», bin ich ein gegenwärtiger Zeuge, nicht vermischt mit der Seelenfunktion des Denkens, ein geistiges Wesen.

Eigentlich geschieht durch die geschilderte Übungsfolge eine Ausweitung des Reflektierens: Das gegebene Reflektieren kann sich lediglich auf die Vergangenheit des Denkens / Vorstellens richten, nun gewinnt man das Erfahren der Gegenwärtigkeit auch dazu.

Durch diese Grunderfahrung nähert sich das Bewusstsein der sonst überbewussten, das Denken orientierenden, es im Rahmen der Logizität haltenden Kraft an, die ein Fühlen kognitiver Art ist, das Fühlen der Logizität, der Evidenz, des Verstehens oder Nichtverstehens – der Weg zum erkennenden Fühlen hat hier seinen Anfang. Es kann dem Übenden auch ahnungsweise aufdämmern, dass hinter dem Denken-Lassen ein überbewusster Denkwille, ein Wille, der nicht im Voraus weiß, was er will, ein improvisierender Wille verborgen ist.

Besinnung/Meditation 14: Der wahre Zeuge zeugt nicht im Nachhinein.

Zweiter Auftakt

Wir wissen nicht, wie wir denken, weil wir gewöhnlich das Fühlen, welches das Denken lenkt, nicht erfahren.

Wir fühlen dieses Fühlen nur in seiner Wirkung, nicht von innen her, nur seine Außenseite. Das Fühlen, welches das Denken leitet und im Wahrnehmen verborgen wirkt, bleibt hinter den Wolken des inneren Himmels.

Wird das erkennende Fühlen nicht gebraucht, nicht bewusst verwendet, gerät es größtenteils in nicht erkennende Formen ohne Bedeutung. Die erste dieser Formen ist das Mich-Fühlen. Auf diesem lagern sich weitere Gewohnheitsformen an, die zunächst irreversibel sind und unterbewusst, weil das wahre Ich sich nicht in sie hineinbegibt.

Geformte Gefühle, das heißt Emotionen, verhindern das Erkennen, auch im Fühlen. Diese Formen haben keine Bedeutung, sie teilen nichts mit, sind keine Botschaften. Sie können im Laufe der Übungen oder – selten – im Laufe des Lebens aufgelöst, zur formfreien Fähigkeit des Fühlens werden. So beginnen wir das Fühlen von innen her, im fühlenden Verstehen zu erleben. Ein Gefühl – keine Emotion – ist ebenso verständlich für das Fühlen wie ein Gedanke für das Denken. Nur ist das Verstehen im Fühlen eine Erfahrung, während einen Gedanken zu verstehen nur dann zur Erfahrung wird, wenn man die Worte auflöst, durch sie hindurchdringt und auf diese Weise erlebt, was sie verdecken, indem sie auf die Erfahrung nur hinweisen. Man müsste durch sie hindurch, sie auflösen können. Sie lösen sich im Fühlen auf.

II.
Vom Denken zum Fühlen
Gedanken und Gefühle, Denken und Fühlen

Die Denkübungen sind möglich, weil das Denken / Vorstellen autonom ist. Wir können denken, was wir denken / vorstellen wollen, wenigstens eine Zeit lang, solange Assoziationen diese Autonomie nicht beeinträchtigen und das Bewusstsein von seinem Vorsatz abschweifen lassen. Was als Reinigung des Denkens oder seine Konzentrierung beschrieben worden ist, kann durchaus als ein Streben zur Kontinuität aufgefasst werden. Die Kontinuität des Denkens wird durch auftauchende Elemente unterbrochen, die keine Denkelemente, sondern Assoziationen sind, dann auch durch Wahrnehmungselemente, die für das Denken nicht «lesbar», nicht durchsichtig sind, dann durch Wörter und Begriffe als Haltestellen des kontinuierlichen Verstehens. Durch die stufenweise Eliminierung dieser Elemente im Konzentrieren sind wir zum reinen Denken, zur begriffsbildenden Denkbewegung gelangt, die wir im Fließen zu halten bestrebt sind.

Wenn wir diese Prozesse mit dem Fühlen vergleichen, so ist der erste Unterschied, dass wir im Fühlen keine Autonomie haben, wir können nicht beliebig fühlen, was wir wollen, wir können aus der Palette der Gefühle nicht eines dazu erwählen, dass es das Bewusstsein erfülle, wie es in der Konzentrationsübung mit einem Bild oder Gedanken geschieht. Wenn wir etwas fühlen, so lösen fast immer äußere Anlässe, auch Vorstellungen oder körperliche Vorgänge, das Fühlen aus. Wir können im Fühlen kein Neues erzeugen, während dies auf dem Gebiet des Denkens möglich ist.

Das Ziel der Übungen im Fühlen ist, ein erkennendes Fühlen zu entwickeln. Gewöhnlich verstehen wir unter «Fühlen» Emotionen, nicht-erkennende Gefühlswallungen, wie Ärger, Neid, Eifersucht, Depression und Ähnliches, die uns überwältigen. Das heißt, wir können ihre Erscheinung zum Teil in unserem Verhalten regeln, nicht aber über ihre An- oder Abwesenheit bestimmen. Nur am Rande des Gefühlslebens tauchen erkennende Gefühle auf, in Bezug auf künstlerische Erlebnisse oder im günstigen Falle im Beruf, etwa bei Therapeuten oder Pädagogen.

Wir haben hinter dem Denken als orientierende Kraft das Fühlen der Logizität entdeckt. Wenn erkennendes Fühlen erübt werden will, kann man das reine Denken nicht überspringen: Das erkennende Fühlen kann nur von dieser Seite her bewusst entwickelt werden. Dies bezieht sich nicht auf das ästhetische Fühlen, damit hat es eine andere Bewandtnis, auf die wir noch zurückkommen werden.

Der Ursprung des Denkens liegt im erkennenden Fühlen, das kann man anhand des Evidenz- und Logizitätsfühlens ahnen; die Beobachtung des Kleinkindes und das Studium archaischer Kulturen bestätigen es. Das Kleinkind erhält durch erkennendes Fühlen die Bedeutung der ersten einigen hundert Wörter und der grammatischen Formen.10 Die technischen, medizinischen, baulichen Leistungen der archaischen Völker, die ohne eine analytische, auf das Denken gegründete Wissenschaft zustande kamen, zeugen von einer verlorenen Fähigkeit, mit den Gegebenheiten der Natur erfolgreich umzugehen.

Je kontinuierlicher das Denken wird, umso mehr geht es in das erkennende Fühlen über, aus dem es stammt, löst sich im Fühlen auf, wird «global» – erinnern wir uns an den globalen Blick auf ein Gesicht –, wird weniger scharf und analytisch, aber umso umfassender. Der Weg zum erkennenden Fühlen führt durch das konzentrierte reine Denken. Das ist das ursprüngliche Fühlen, sowohl beim einzelnen Menschen als auch bewusstseinsgeschichtlich.

Es entsteht die Frage: Wann ist dieses Fühlen verloren gegangen, wohin ist es entschwunden? Die Antwort kann wiederum beim Kleinkind und auch kulturgeschichtlich beobachtet werden: Wenn das Kind oder die Menschen in einer Kultur beginnen, in der ersten Person (ich, mich, mein) über ihren Körper, mit dem sie sich identifiziert haben, zu sprechen, tritt ein neues Fühlen auf, das nicht-erkennend ist, das Mich-Fühlen. Das Verwenden der Pronomina der ersten Person ist das Zeichen dieser Identifizierung und der Ausbildung des Mich-Fühlens. Letzteres bedeckt wie ein Gefühls-Mantel den Körper, ohne ihn zu erkennen.11 Mit dem Mich-Fühlen beginnt die Verwandlung des erkennenden Fühlens zum nicht-erkennenden, und daraus resultiert, was wir Emotionen – Gefühlsformen nicht-erkennenden Charakters – nennen. Der Übungsweg im Hinblick auf das Fühlen besteht darin, dass wir die fühlenden Kräfte, die in den Emotionen gefangen und geformt sind, zu befreien versuchen, das heißt sie wieder formfrei und damit erkenntnisfähig machen.

Besinnung 15: Nur formfreie Kräfte können Formen erkennen oder auch solche schaffen.

Die Emotionen verlaufen in einer Polarität: Gut – schlecht, das heißt für-mich-gut, für-mich-schlecht, sie sind egoistisch gefärbt, erhöhen das Mich-Fühlen, auch wenn sie unerwünscht zu sein scheinen, wie Ärger, Hass oder Traurigkeit. Man genießt sie auf eine gewisse Weise, sonst würde man sie nicht übertreiben und sich nicht in sie hineinsteigern.12 Die erkennend fühlenden Kräfte sind ihrem Wesen nach so objektiv wie das Denken, das im Prinzip jenseits vom Für-mich-Guten oder -Schlechten lebt; die Wahrheit ist wunsch-neutral.

Besinnung 16: Suchen wir eine Gefühlserfahrung, die nicht zu einem Pol der Polarität gehört.

Die erkennenden Gefühlserlebnisse zu benennen ist fast unmöglich – Dichter streben das auf unterschiedlichen Wegen an –, es gibt keine eingebürgerten Namen für sie. Auch die Emotionen werden nur sehr pauschal benannt, denn es gibt zum Beispiel ebenso viele Schattierungen von Ärger, wie es unter den Bäumen, die als «Buche» bezeichnet werden, unzählige unterschiedliche Individuen gibt. Wir sind nicht gewöhnt, die Nuancen der Emotionen zu unterscheiden. Die Übungen werden aus diesen Gründen vorwiegend wortlos geschehen müssen. Und doch werden sie anfangs eben an Unterschiedlichem ausgeübt.

Was auf dem Gebiet des Denkens «Begriff» oder «Idee» heißt, kann im Bereich des Fühlens «Gefühlsform» oder «Gefühlsidee» genannt werden, analog zu den Ausdrücken «musikalische Idee» oder «malerische Idee».

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