Rosenemil

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Ja, und wenn sie jetzt die Haare schwedenblond trug, so hatte sie das nicht leichtfertig und aus Modenarrheit gemacht, sondern weil sie – damals, als sie sich gedreht und von heute auf morgen ihrer alten Klientel untreu wurde – erkannte, daß das gewünscht wurde und ihr ungeahnte geschäftliche Vorteile bot. Einfach weil in der Welt die alte Grunderfahrung des »les extrêmes se touchent« – und in ihrer Welt noch ganz besonders! – immer noch zu Recht bestand. Denn ihr neugewonnener Kundenkreis bestand dank eines geschickt ausgebauten Systems, in dem auf Seide gedruckte, patschuliduftende Visitenkarten, indiskrete Fotos und Hotelportiers, Liftboys und Oberkellner eine vermittelnde, gutdotierte Rolle spielten, aus Ausländern. Europäer wurden ungern darin aufgenommen ... Nur als Lückenbüßer vielleicht einmal. Speziell Amerikaner waren es. Und von diesen wieder Südamerikaner, Mittelamerikaner, Kubaner. Meist auch breitschultrige Argentinier, blitzäugige Mexikaner. Manchmal sogar pockennarbige, gegen Damen sehr galante und großzügige, in zu weite Anzüge gehüllte, Brillantringe am kleinen Finger tragende, mit goldenen Uhren versehene, mit dicken Brieftaschen und Scheckbüchern begabte Herren, die nur einen kleinen Fehler hatten, daß ihnen noch einige Tropfen Neger- oder Indianerblut unter der grünlichbrünetten Haut rollten und daß sie das stumpfschwarze, manchmal seltsam frühzeitig schon graumelierte Haar sehr gestriegelt und mit Stangenpomade gefestigt trugen, weil es immer wieder, sosehr sie es auch in Ketten legten, die Tendenz kundtat, sich der krausen Form ihrer Vorväter einerseits zu erinnern. Während sie, gerade im Gegenteil, einzig und allein an ihre Vorväter andererseits erinnern wollten, die schon mit Cortez und Pizarro und ähnlichen Straßenräubern gelandet sein sollten. Wie sie behaupteten.

Sonst aber, außer dieser Narretei, daß sie durchaus nicht einsehen konnten, daß ihre braunen, roten oder schwarzen Urmütter von ehedem – und wer es immer gewesen sein mochte: eine Fürstin, eine Häuptlingstochter oder eine Viehmagd – von tausendmal höherem Adel waren als diese weißen Götter ... außer dieser Achillesferse, die nie berührt werden durfte, waren sie – ganz im Gegensatz zu den Kerlen von einst – meist sehr freundliche und wohlerzogene, witzige und sogar manchmal literarisch recht versierte Leute und echte Kavaliere, die wußten, was sie einer Frau, die ihnen ihre Huld zuwandte, schuldig waren, und die sich manchmal sogar mit einer hidalgohaften Geste zu einer kaum verständlichen Großzügigkeit in Geschenken verstiegen. »Gefällt dir diese Zigarettendose, meine weiße Taube? Sie gehört dir!« Und wenn sie pures Gold, war und ein Monogramm aus Brillanten trug: »Ich besitze noch mehr davon.«

Ja, und diese Kavaliere kannten eben aus ihrer Heimat alle Nuancen von Schwarz. Sie waren mit Schwarz übersättigt. Sie waren kaum überbietbare Kenner darin. Wohl aber waren sie, was Blond anbetraf, Ignoranten und unschuldsweiße Lämmer und fielen auf jeden Schwindel herein.

Außerdem – und das war vielleicht ebenso wichtig – sprachen sie meist ein sehr unvollkommenes Deutsch, diese Herren der ABC-Staaten. Ein Deutsch, das selten über »Kellnero noch uno Ei« herauskam. Das aber genügte ihrem regen Unterhaltungsbedürfnis nicht, wenn sie einmal mit einer Dame ausgehen und sich einen amüsanten Abend machen wollten oder gar öfters mit dieser Dame zusammen sein wollten ... Und so war ihnen natürlich jemand lieber, der von Haus aus französisch wie eine Pariserin und amerikanisch mit echtem Broadwayklang und dazu, das gehört sich, italienisch wie eine Florentinerin sprach und immerhin soviel von der edlen Sprache des Cervantes verstand, um auch mal in vertraulichen Situationen – und zum Schluß kann ja auch der gepflegteste Plantagenbesitzer nicht immer nur den Salonkavalier spielen – einen Witz zu erfassen, über den selbst ein Maultiertreiber in den Kordilleren das Gesicht grinsend verzogen hätte. Ja, und dafür gab es eben – so merkwürdig das klingt, eben doch in dem ganzen großen, großen Berlin und in der weiten Friedrichstadt – keine Konkurrenz, die in Frage kam und alles so vereinte ...

Entweder konnte sie mit den Kunden reden, dann war sie eine Spinatwachtel. Oder sie war ein schickes Weib, dann sprach sie französisch wie in Französisch-Buchholz. Oder sie krakeelte und klaute Brieftaschen. Das hatte sie nicht nötig: vor ihr gingen die Brieftaschen von selbst auf. Nein, Konkurrenz hatte sie nicht. Oder sie war nicht aus gutem Hause, sondern kam aus dem Toppkeller. Oder sie hatte nicht das Temperament, wie das die Kavaliere von da drüben gewohnt sind, und verstand vom Beruf nichts. Bei ihr konnte man alles haben. Sogar auch Liebe und Herzensneigung. Wenn es verlangt wurde.

Ja, und so kam es, daß diese Dame nicht nur vollauf beschäftigt war, sondern eigentlich nur noch längere und lohnende Engagements in der letzten Zeit annahm. Jedoch von alledem ahnte, wie gesagt – draußen hinter dem Belle-Alliance-Platz bei seinen Kunden, in seinem Revier und vorm Schönhauser Tor, wo er früher gelebt hatte, und am Humboldthain, wo er heute da wohnte bei der Radowski, da fand er sich in den Menschen mit einem Blick zurecht und kannte sie aus dem Effeff –, von alldem aber ahnte der Kolporteur Emil Lehmann nichts. Ihm war bis zum Weinen – aber der Hunger kam auch wieder – fast unglücklich, als diese wunderherrliche Frauensperson da drüben sich plötzlich abwandte und sich vor ein Schaufenster stellte, so daß er nur noch ihren schönen langen Rücken und den Glockenrock und den violetten Sonnenschirm in der Hand, die das Kleid raffte in violetten Glacés, die weit den Arm hinaufgingen, sehen konnte … Wirklich, die Bilder da, spinatgrüne Buchenwälder und Frauen, die in Seidenbetten Reizwäsche zeigten, und andere, die, ohne solche, auf Wolken ruhten – siebentausend echte Ölgemälde und andere Kunstgegenstände, stand über dem Laden, wurden hier ständig meistbietend versteigert –, die Bilder schienen sie sehr zu fesseln, die Dame … Kunstfreundin war sie. Vielleicht wollte sie ihrem Mann eins davon zum Geburtstag schenken. Oder sich eins zum Geburtstag wünschen. Denn die besseren Leute finden so was schön und geben eine Masse Geld für so was aus …

Aber dann kam auch schon von drüben mit einer Queenzigarette im Mundwinkel solch ein Mann zu ihr lässig herübergeschlendert, zwischen den wartenden Droschken und Omnibussen hindurch … ziemlich groß, so um die Dreißig, in den Jahren, wo der Mann auszulegen beginnt … also so ein richtiger Gentelmann mit einem lichtgelben Gehrock, der in zwei Flügel auseinanderstrebte und sehr auf Taille gearbeitet war, und mit einer Tubarose im Knopfloch. Einen grauen, steifen, runden Hut hatte er tief in die Augen gedrückt: Kein Kavalier von Reznicek konnte ihn besser tragen. Das gescheitelte Haar darunter stand ihm überhaupt wie zwei Fledermausflügel über die Ohren weg, und sein semmelblonder Schnurrbart war sorgsam in jene aufstrebende Form gebracht, die echte Kavaliere gerade bevorzugten. Er wäre unvollkommen gewesen ohne den Stock mit dem Elfenbeinknopf, den er unter die rechte Achsel geklemmt hatte, und ohne das Kettenarmband, das ihm über den gelben Handschuh fiel, mit dem er das Pfefferrohr umklammerte. Und ohne das dicke Plastron, das durch einen Hundekopf mit Rubinenaugen zusammengehalten wurde.

Wie gesagt, Emil Lehmann kannte sich hier in der Friedrichstraße nur sehr oberflächlich aus, sonst hätte er gleich gesehn, daß dieser Mann da, mit dem Gesicht wie eine Wassersemmel, ohne daß er dabei häßlich war – die Nase war klein und zierlich, der Mund war es, und das Kinn war es, und die rosigen Bäckchen waren es, wenn auch die Haare ziemlich in die Stirn hineinwuchsen –, nur einen Wunsch und eine Genugtuung kannte, für einen Gardeoffizier in Zivil – seinethalben sogar für einen geschaßten – gehalten zu werden. Und daß es ihm nur sehr unvollkommen wenigstens gelang, diesen Wunsch bei anderen in Erfüllung gehen zu lassen.

Denn in diesem Gesicht herrschte eine solche Reglosigkeit und so eine eisige Leere, und die grauen Augen unter den silberweißen und ganz dünnen Brauen waren so kalt, stier und unbewegt, daß das Innere von Grönland dagegen als eine erfreuliche Landschaft bezeichnet werden muß. Sein Blick, in dem ein Funken Roheit in einem Bottich von Stumpfsinn schwamm, haftete an nichts, ging durch alle Dinge hindurch, war weder freundlich noch böse, nicht mal heimtückisch, weder gleichgültig noch beteiligt, nur leer, leeer, leeeer.

Und dieser feine Hund da geht nu so einfach an der vornehmen Frau da am Schaufenster vorbei. Er sieht sie scheinbar gar nicht und telegrafiert ihr nur solch bißchen aus den Augenwinkeln zu. Und dann macht er halb kehrt und geht mit seinen wehenden Rockschlippen (ach, Leinengamaschen hat er auch … unsereiner hat Löcher in de Stiebel!) einfach in den Hausgang zwischen den Zauberladen mit dem Totenkopf und der Puppe von dem Inder, der die Augen rollt vor seinem schwarzen Tischchen und an die Scheibe klopft … einfach da 'rein … Und die feine Dame tut, als hat sie ihn überhaupt nicht gesehen, und schaut sich immer noch den spinatgrünen Buchenwald an in der Bilderhandlung. Und dann geht se einfach hinterher.

Also sooo macht man das? Man braucht nur so 'rumzulaufen mit 'n Schwalbenschwanz, und die allerfeinsten Damen laufen einem einfach wie'n Hundchen nach, denkt der arme Kerl da auf der Bank. Des is ja doch pfui Deibel! Und nachher wundert sich der Mann zu Hause, wo seine Frau bleibt!

Wie gut es doch andere Männer haben! Ich kann mir nich mal jetzt 'ne Bockwurst mit Kartoffelsalat an den Friedrichstraßenbahnhof bei Aschinger … denn muß ich die Groschen schon aus alle Taschen zusammenkratzen ... und solch ein feiner Pinkel gibt vielleicht einen blauen Lappen aus, wenn er sone Frau 'ne Viertelstunde haben kann.

Ach, kiek mal, da kommt er doch schon wieder aus'n Hausgang 'raus, der feine Pinkel mit seinen grauen Judenhelm! Soso ... det is wohl nischt geworden? Und da tapert er wieder mit seinen Stock untern Arm. (Mensch, komm bloß nich unter die Räder!)

 

Also, also ein Monokel mit 'ne schwarze Litze trägt der Patentfatzke auch. Des habe ick mir gedacht, des der da in de Konjakstube jeht. Du willst dir wohl für die nächste Abfuhr Mut antrinken? Mensch, ein feiner Mann stößt nich de Tür mit dem Fuß auf! – Die beiden Mädchen neben Emil Lehmann hatten die ganze Zeit noch kein Wort miteinander gesprochen, trotzdem sie doch zusammengehörten. Jetzt puffte die eine die andere an. »Hast du gesehen?« sagte sie. Sonst nichts.

»Ich bin doch nich blind geworden«, sagte die andere. – »Des war der Turfkarl«, sagte die erste wieder. Mit einem Ton, der deutlich durchschimmern ließ: An so was feines kommen wir armen Luders janich 'ran. In unsem janzen Leben nich. Dadazu muß man geboren sind.

Ja, da kam nu auch wieder die Dame von vorhin. Ganz heiter, als ob nichts geschehen, kam sie aus dem Hausgang getänzelt. (Nein, das lag ihr nicht: sie schritt!) Also eine wunderschöne und feine Person! Doch ob sie 'ne Dame, war dem armen Kolporteur jetzt nicht so ganz sicher mehr. Aber es kann auch Zufall gewesen sein, daß sie beide in dem selben Haus – da wohnt 'n Anwalt! – oben zu tun hatten. Kommt also heraus, bleibt wieder stehen, sieht sich nach allen Seiten um. (Worauf wartet sie denn?) Mit ihrem Fälbelhut mit dem Zaun von Reiherfedern – so was; is doch nur für die Reichen da! –, hebt ihren Sonnenschirm und winkt einem Wagen, also einem prachtvollen Landauer mit 'n paar Staatsgäulen vor, zu, der mit einem Ruck – brrr – hält …

Gott is der Mann braun in seinem kurzen Sommermäntelchen. Aber wie er ihr grüßt und sie ihn anlacht … Wat ruft se da? »O mio Panschite«, was heißt 'n des? Also das is ihr Mann wohl. Aber eenen duften Hut hat der. Den möcht' ich haben. Ich glaube, sone lappigen Dinger, sone Panamas, kosten 'n Haufen Jeld. So setzt man sich nur in so'n Wagen, wenn man des von früh gewöhnt is. Und der Kutscher … wie auf Draht gezogen! Wie die Pferde die Beine schmeißen. Und wie gut das auf 'n Asphalt klappt. So leben die Leute, und unsereener kann nich mal aschingern jehn!

Der weiße, lichte Zaun von Reiherfedern auf dem lichtblauen Hut und die Boa aus blauen Schwanendaunen um ihren sehr festen und doch weichen, schlanken Hals da waren das letzte, was Emil Lehmann von der Dame sah.

Auch die beiden als Dienstmädchen maskierten Kontrollmädchen hatten der da im Wagen neidvoll und respektvoll zugleich und schweigend wieder nachgesehen. So ungefähr wie ein Soldat zweiter Klasse einem General.

»Die Diamanten-Berta«, sagte die eine tonlos.

»Ach, wirklich?« sagte die andere tonlos.

»Na ... dahinten in de Equipage«, meinte die erste wieder mit leuchtenden Augen. Aber vielleicht hatte sie auch Schwindsucht. Denn darauf wird sie nicht untersucht auf dem Alex ... Und das Fieber setzte um diese Zeit ein. »In de Ecklipaje.« Denn Fremdworte sind Glückssache. Mal trifft man's und mal nicht.

Und dann fielen sie wieder in ihr stilles Elend zurück. Und auch Rosenemil, aber es wäre zu verfrüht, ihn so zu nennen, starrte wieder nach den Häusern und den vornehmen Läden mit all den breiten Spiegelscheiben in Bronzerahmen – das machte man jetzt hier so! – hinüber. Zu den echten Ölbildern und den echten Elfenbeinschnitzereien »Venus züchtigt Amor«. Alles, was man hier braucht, war eigentlich schon in solchen Grüppchen zusammen! Zu Brillanten, die auf dem schwarzen Grund sich drehten. Dem Zauberladen. Dem Korb roter Hummern. Und den Lotterielosen, die gewinnen mußten. Und er ahnte eigentlich wenig davon, daß die Häuser hier so herum genauso wie die Menschen waren. Sie sahen von außen, wenn man an ihnen vorbeiging, ganz gut aus. Man durfte nur nicht hineingehen. Ja, es war sogar besser, wenn man selbst vermied, stehenzubleiben. Dann nämlich wären es nur falsche Brillanten und die Ölbilder übermalte Fotografien und der Kognak verschnittener mit Methylalkohol. Und Lotterielose, die Glück bringen sollten und die so todsichere Nieten waren, wie Lotterielose und Menschen es nur sein können.

Da drüben ha'ck vor fünfzehn Jahren gestanden. Eine Kälte war des, man konnte sie mit Messern schneiden, denkt Rosenemil, grün und blau bin ick jefroren. Und hab' immer jeschrien ... damals bin ick eben elf Jahre jewesen oder so 'rum. »Ausführlicher Proogramm der Beisetzung Seiner Majestät Kaiser Wilhelm des Ersten, ausführlicher Proogramm !« Ihm ist, als hörte er seine eigene, helle Jungenstimme durch die Kälte ... Jott, was man doch so allens jemacht hat, um zu ein paar Jroschen nebenher zu kommen, von früh an: Mit Hampelmänner auf dem Arkonaplatz bin ich herumgezogen.

Seine Mutter fällt ihm ein, die war verdammt hinterher, daß er das Jeld auch richtig zu Hause abgab. Wat hat die doch immer (jetzt ha'ck doch jar keenen Hunger mehr) jesungen immer. Ach ja, wat denn?

»Wat Unter de Linden

Als Hoju kommt in'n Topp,

Dat schmeißt man uff de Frankfurter Linden

Den Schlächter an'n Kopp.

Aber nich so grob. Aber nich so grob!

Schmeißt doch den Schlächter

De Knochen an'n Kopp.«

Plötzlich bekommt er es mit der Scham. Er hat ganz laut vor sich hin gesungen, und er is eigentlich, so keß und frech er auch tut, ein scheuer Mensch, der sich nicht gern vor den Leuten herausstellt. Na, nu werd' ich mir mal dünnemachen, denkt er.

»Das is ja ungemein ulkig, lieber Freund«, sagt, als er eben aufstehen will, der eine der beiden verbummelten Studenten zu ihm. »Wissen Se, wo das eigentlich her is?« sagt es mit einer ganz hohen und dünnen Fistelstimme. »Irgendeine alte Posse?«

»Nee«, meint Emil, »des kann ich Ihnen auch nicht sagen. Des hat nur meine Mutter immer jesungen.«

»Du, Spitzmaus«, brummt der andere, und seine Stimme war so tief unter dem Meeresspiegel menschlicher Stimmen, wie jene über ihm schwebte, »heute gehn wir aber nicht in de akademische Lesehalle mehr und spielen keine Partie Schach mehr.«

»Sie haben aber 'n komischen Namen«, sagt der Kolporteur. (Wenn die Leute mit ihm zu reden anfangen, warum soll er denn da den Mund halten?) »Hieß Ihr Herr Vater und Erzeuger auch Spitzmaus?«

»Recht haste, Laubfrosch, wozu sollen wir den angebrochenen Vormittag mit geistiger Arbeit vergeuden!« piepst der Dünne und grient still vor sich hin mit seinen zwinkernden Äugelchen. »Der Laubfrosch hat nämlich 'ne Schallblase«, sagt die Spitzmaus und zeigt auf den breiten Blähhals seines bierfreudigen langjährigen Kommilitonen. Denn sie waren beide zur gleichen Zeit aus der Suevia geschaßt worden, wenn auch der eine jetzt sechsunddreißigstes Semester und der andere erst fünfunddreißigstes Semester war. Geschaßt und seitdem nie wieder auf die Beine gekommen. »Nu steht doch im großen Brehm, daß sich die Spitzmäuse von Laubfröschen nähren. Aber au, Kontrolleur: er ernährt sich geistig von mir.«

Der kleine Mann in seiner Talentwindel lehnt sich zurück und blickt den Kolporteur überlegen an. Aber er sieht nur viel älter aus. Schnaps bringt 'runter.

»Haben Sie schon mal auf einen Heukahn geschlafen, junger Mann?« fragt er leutselig und feixt vor sich hin. Denn er kennt seinen Dostojewski, und den »Raskolnikow« hat er zehnmal von Anfang bis zu Ende gelesen. Die Spitzmaus ist überhaupt 'ne sehr gebildete Haut. Im Gegensatz zu Laubfrosch, der von Hause her doof war und sein bißchen Verstand längst in Bier ertränkt hat. Und Spitzmaus hat wirklich die letzte Nacht drüben im Humboldthafen auf einem Heukahn geschlafen. Aber auf einem Heukahn schlafen, das wußte Spitzmaus nun, das liest sich zwar bei Dostojewski ganz poetisch und rührend, doch in Wahrheit ist es dumpfig und staubig und stachlig, riecht schlecht und ist zudem nicht mal weich und keineswegs, selbst in einer Juninacht keineswegs (und darauf muß man wieder einen nehmen!), durchaus nicht gerade besonders warm. Und Halme und Grannen und allerhand Schmutz und halbverendetes Ungeziefer kommen einem in Mund, Nase und Ohren dabei. Nur literarisch ist es ein Erlebnis; aber im Leben – wie so vieles! – eine Sache, die, nicht kennengelernt zu haben, einen Vorteil bedeutet.

Heute aber würde er bei Laubfrosch schlafen in der Lothringer Straße. Das heißt in der Lottumstraße. Und das heißt, wenn er es aushielte. Denn wenn Laubfrosch betrunken heimkam, so duldete er nicht, daß man das Fenster aufmachte, wenn er gebrochen hatte. Aber wenn er es aushielt, würde er heute doch lieber bei Laubfrosch schlafen als auf einem Heukahn. Gott ja, gescheite Menschen können auch ebensogut zum Teufel gehn wie dumme; und dumme ebensogut, ja meist besser es zu etwas bringen wie gescheite. Das hängt von Dingen ab, die mit dem Hirn nichts zu tun haben, sondern mit den Trieben.

Hinten, von der Passage in der Friedrichstraße her, kam jetzt so ein dumpfes, so ein dumpfes Rasseln, Klingeln, Murmeln. Blechern und hoch etwas dazwischen. Stampfen und Quietschen. Und so langsam löste es sich daraus: dadada, bumbumbum, dadada-bumbumbum – ein Militärmarsch. Welcher, war noch nicht recht herauszuhören. Auch die Wagen und Menschen drängten sich schneller und mit mehr Rhythmus aus der engen Straße hervor. Wie ein geschlagener Feind flohen sie gleichsam vor der Musik her. Und bei Kranzler und drüben bei Bauer ballten sich die sommerbunten Menschenmassen.

»Tsching, tsching, bumbum und tschingdada kommt im Triumph der Perserschah«, piepste Spitzmaus. »Gehn wir, Laubfrosch«, er weinte fast, »Lilienkron ist es! Lilienkron Ignorant! Nicht Dehmel! Flüchten wir, ehe uns der Militarismus hier überrennt.« Und Spitzmaus zog den Laubfrosch, der sich nur ungern bewegte, von der Bank auf; »rudis indigestaque moles«, piepste er. »Ovid, Ovid! Wenn du noch soviel übersetzen kannst: eine rohe und unbewegliche Masse!« Aber das machte sich nur Spitzmaus so. Denn – indigestus heißt eigentlich gar nicht unbewegt.

»Turgenjew hat gesagt«, kam es von tief unter dem Meeresspiegel des menschlichen Organs herauf, »wenn du auf einem Sofa sitzt, und du sitzt gut da, so stehe nie auf, denn du weißt nicht, ob du es noch mal so gut im Leben haben wirst.«

»Ist das ein Sofa?« quiekste Spitzmaus, und alle Falten um seinen mimmelnden Mund ... denn trotz der Fünfunddreißig war sein Zahnbestand gemach schon wie ein durchgerodeter Wald geworden, den selbst der überhängende ausgefranste Schnurrbart nicht verdecken konnte, der durch Zigarrenstummel angesengt war (wer Zigarren raucht, sengt sich nicht so leicht den Bart an; aber wer Zigarrenstummel raucht, nachdem andere die Zigarre geraucht haben, kommt verdammt leicht in Gefahr, sich den Schnurrbart zu verbrennen; besonders dann, wenn er über den Mund hängt) ... alle Falten und seine angerötete spitze Nase liefen zu einem konzentrischen Grinsen auseinander, als wäre sein Gesicht ein Tümpel, in den ein Junge einen Stein geworfen hätte. »Auf dieser Bank von Holz hat schon der große Kurfürst der Liebe gepflegt. Ich schätze solche historischen Reminiszenzen nicht!«

Rosenemil horchte erstaunt auf – der Mann wäre für seinen Beruf zu brauchen gewesen. Mit der Schnauze kam er nicht mal mit. Aber Rosenemil übersah das eine, daß Spitzmaus überhaupt zu keinem Beruf mehr zu brauchen war.

Und als Spitzmaus den schweren Laubfrosch ohne Hebebaum von der Bank hochbekommen hatte und die beiden Packen ungelesener Bibliotheksbücher unter den Flügeln ihrer Havelocks verschwunden waren (wie ein Mensch das aushält bei der Hitze!), wandte er sich noch mal an Rosenemil. »Junger Mann«, piepste er, »Zukunft des deutschen Landes, Sie haben mir ein Liedchen gelehrt.« Und seine verglasten Augen schwammen über den Kolporteur da unter ihm auf der Bank fort. Denn er liebte es nicht sehr, Leute anzusehen. Und außerdem wäre doch sein Blick etwas unsicher gewesen, weil er sich des Morgens hatte aufwärmen müssen. »Nu, junger Mann, will ich Ihnen eins lehren, ein für Sie sehr, sehr beherzigenswertes und von mir in grünen Jahren sehr beherzigtes Liedchen.«

Und Spitzmaus fistulierte mit seiner dünnen Glasschneiderstimme:

»Unter'n Linden, unter'n Linden

Gehn spazier'n die Mägdelein,

Wenn de Lust hast anzubinden.

Denn spazierste hinterdrein ...

Biste an'n Pariser Platz,

Is se sicher schon dein Schatz.«

Nur die Gesten machte er nicht dazu wie ein italienischer Straßensänger, denn was brauchte die ganze Welt zu sehen, daß er kein Jackett unter dem Havelock hatte.

»Dein Schatz, dein Schatz, dein Schatz«, piepste er immer noch, als er von Laubfrosch schon ein ganzes Stück weggezogen war und die Musik, wie eine alle andern Geräusche der Straße vor sich wegfegende und zudeckende Sturzwelle, drüben zwischen Bauer und Kranzler hervorquoll zwischen den beiden Menschenwällen, die sich da aufgetürmt hatten. Alles war in Erregung, elektrisiert durch »diddadada tamtamtam, didadada tamtamtam, rrre rrrembemrrr emmbemmbemm«. Nur die beiden Paare von Pennbrüdern auf der Bank, bei der Alten mit dem Rock aus dem Türkenschal, wachten nicht auf. Sie wechselten nur etwas die Lagen. Vielleicht dachten die vier Dioskuren, daß der andere doch selbst für eine Penne ungebührlich schnarche.

 

Zuerst tänzelte ein berittener Blauer auf einem pirouettierenden Braunen vorne weg. Dann kam eine ganze Horde von Mitläufern, die schon seit der Belle-Alliance-Straße mitgelaufen waren und deren Scharen sich in Reihen formiert hatten: jeder neue sprang in das Glied und in Tritt ein, sowie er sich vom Bürgersteig gelöst hatte. Und dann kam erst die Musik und die Triangeln, die Posaunen, die Trompeten, die Querhölzer und die Trommeln, die ganze Kollektion jener Tamtam-Instrumente. Und der Tambourmajor mit seinem Stock stelzte wie ein Kronenreiher vorne weg. Der Tambourmajor stelzte mit seinem bepuschelten Stock, den er nur wenig höher in die Luft warf als die Soldaten hinter ihm die Beine in den weißen Leinenhosen. Denn die warfen sie ungefähr, wenn auch nicht ganz so hoch wie die weißen, flatternden Roßschweife auf ihren Paradehelmen mit den blanken Schuppenketten.

Rosenemil sprang auf. Und wenn er noch so müde und verstimmt war, dem konnte er nicht widerstehen. Schon mit acht Jahren damals hatte ihn die Mutter verdroschen, wenn er weggelaufen war, weil er sehen wollte, wie die Wache aufgezogen wurde, und sie sich dann ängstigte, wenn er zum Essen nicht nach Hause kam.

Im Moment war sein Hunger weg. Seine Mißstimmung. Alles. Mindestens ein Jahr war er mit der Wache nicht mehr mitgelaufen. Und er drängte sich durch die Menschen an den Straßenrand, und obwohl der Schutzmann ihn aufhalten wollte, der da stand, um das Militär vor den Belästigungen durch den Plebs zu beschützen – aber wenn man ihm den bunten Rock anzieht, dann heißt der Plebs Stütze von Staat, Thron und Altar –, wutschte es doch da in den Troß, der, mitpfeifend und Beine schmeißend, im Takt der Zirkuspferde vorantrabte. Die Wolliner Straße hatte ihre ganzen vierten Höfe ausgespien und ihnen alles noch nachgeschmissen, was sie an Ballonmützen und Halstüchern und Vorhemden besaß, in denen zwar Kragenknöpfchen, aber auf denen keine Kragen saßen. Einer hatte sogar grünsamtene Morgenschuhe. Ihn mußte die Wache überrascht haben, wie er ging und stand. Wie einen Pompejaner ein Vesuvausbruch. Es war sicher kein Gardematerial, das da mitrannte. Halbwüchsige Jungens, die aus der Fürsorge entlaufen waren, Schulkinder, die die letzte Stunde geschwänzt hatten. Einer sogar, der lahmte und wie eine Wippe machte beim Gehen. Kesse Luden, die Schirmmütze über dem linken Auge und die Haarlocke in die Stirn gedreht. Wirklich, der bessere Teil der Berliner Bevölkerung schien sich nicht daran zu beteiligen. Alle aber schmissen sie die Beine und sahen stier geradeaus. Nicht einer rechts oder links.

Und so sehr auch der Kolporteur, denn er war ja bis vor acht Jahren hundertemal so mit der aufziehenden Wache mitgelaufen; später, wo er ordentlich war, hatte er es dann bleiben lassen, aber in den letzten Jahren, wenn er so vom Treppenlaufen müde war und auf 'ne Bank saß oder 'nen Frühschoppen – aber des kam selten vor! – nahm und die Wache gerade vorbeikam, hatte er doch nicht widerstehen können und war mitgezogen. Mal vom Belle-Alliance-Platz und mal von der Maikäferkaserne. Oder vom zweiten Garderegiment. Wer dran war.

Und das hatte ihm Spaß gemacht und frischte ihn immer auf. Vor allem die Märsche mitzupfeifen. Er kannte jeden Ton besser wie 'n alter Kavalleriegaul. Aber vielleicht, daß der Musikgeneral, der Oberaugust von de Füsiliere, sein Handwerk nicht recht verstand, denn es brachte ihm heute keinen rechten Schwung in die Knochen. Vielleicht, daß da gerade besonders übles Gesindel mittobte und er sich unbewußt klar wurde, wieweit der Abstand zwischen dem vornehmen Patentfatzken da mit den grauen Judenhelm oder jener Dame mit der himmelblauen Federboa war, die da zu dem mahagonibraunen Mann in die Equipage gestiegen war, und dem miesen Gesocks hier (wie er sich sagte), das da die Vorhut des Militarismus bildete – genug, grade vor dem Ollen Fritz da oben, der von seinem Sockel aus zu Pferd griesgrämig und verknurrt und ehern diese Parade abnahm, grade da haute er wieder ab ... Grade davor sprang er wieder aus der Reihe heraus aufs Trottoir herüber. Obwohl ihm der Blaue nachschnauzte: »Aus der Reihe tanzen jibt's hier nich!« Kaum zweihundert Schritt hatte er übern Asphalt mitgestampft. Mochten die da nachher ihre Jriffe vor der Hauptwache zum millionstenmal klopfen, »Jeweeehr app« schreien und ihre blöden Meldungen »melde jehorsamst« sich gegenseitig ins Gesicht brüllen. Wat jeht mir des an, das Affentheater! Dadavon krieg' ick doch keen warmen Löffelstiel in'n Bauch.

Und langsam ließ der Kolporteur, so auch die Mitläufer des Militarismus – denn rechts und links schob sich noch eine bunte Masse die Bürgersteige und den Mittelweg entlang –, nicht die Vorhut aus der Wolliner Straße, sondern die besseren Mitläufer des Militarismus, an sich vorüber; guckte noch mal zum historischen Eckfenster hinauf, an den mit dem grauen Bart erinnerte er sich zwar nicht, aber an »ausfüüührlicher Prooojram der Beisetzung Seiner Majestäät Kaiser Willem des Ersten«, und stand plötzlich vor dem weißen Marmordenkmal seiner alten Frau, die da mit einem Spitzenschleier, lang hingelehnt, in einem sehr absonderlichen Stuhl saß, wie (aber das sagte sich Rosenemil nicht) weiland Agrippina, die Mutter Neros, weiß wie Kandiszucker gegen eine dunkle Wand von Taxusbüschen.

Ja, aber was soll man eigentlich nun machen? dachte er so und sah vor sich, von der alten Augusta fort, die er gesehen und doch nicht gesehen eigentlich hatte, auf das grüne Tuch des Rasens und auf die Kette von Monatsröschen, die gerade hier an dem niedern Eisenzäunchen ihre roten Köpfchen hochstreckten. Jott, wie hübsch die doch waren, dachte er, des is ja doch 'n janz neues Kardinalrot. Des kenne ich noch janich bei die Sorte. Wie des leuchtet, wie'n Kuß im Dunkeln!

Denn das eine war merkwürdig: Der Kolporteur hatte von früh an geradezu eine närrische Vorliebe für Blumen. Wie oft war er von Muttern verkeilt worden, wenn er wieder welche von de Anlagen geklaut und unter die Jacke zu Muttern nach Hause gebracht hatte. Er konnte einfach an keinem Blumenladen vorbei. Und besonders im Winter, wenn's draußen kalt war und die Scheiben beschlagen, ja stückweise sogar gefroren waren, suchte er so lange, bis er ein kleines Guckloch fand, um da hineinzustarren; und jede neue Rose, die aufkam, jede neue kupferrote Chrysantheme im November beim Blumenschmidt freute ihn unbändig. Er hatte auch mal Gärtner werden wollen. Na ja, und jetzt war er sogar was Besseres und Gebildeteres geworden.

Also der Blaue da drüben, der mußte ja nach drüben nach der Wache kieken, der wird sich auch nicht gleich umdrehen, sagte sich der Kolporteur und bückte sich schnell und scheinbar absichtslos herab. Fünf Finger und een Jriff. Das kannte er von früher. Knipste mit den Nägeln ein Zweigchen mit drei Rosendolden ab, schob sie in die Seitentasche und zupfte erst da ein Röschen ab, um es so ganz beiläufig und unauffällig ins Knopfloch sich zu stecken. Klein und leuchtend wie eine Rosette der Ehrenlegion.