Henriette Jacoby

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Und der Tag schwand; die kahlen Wipfel der Rüstern und Pappeln hinten am Graben klagten in der Dämmerung, wenn sie der Wind schüttelte, bis zu Kößling herüber. Heimlich und vorsichtig streckte die Nacht ihre schwarzen Hände nach den Dächern und Schornsteinen, nach den Figuren auf der Kolonnade und wischte alles, eines nach dem anderen, aus. Und sie griff zugleich hinein in das Zimmer und breitete schwarze Gazeschleier in den Winkeln aus, hüllte sie um das Bett und den Lehnstuhl, nagelte sie über die paar Bilder, die Lithographie der Sonntag als Rezia und über die paar Silhouetten der längst verschollenen Studienfreunde ... diese schwarzen, dichtgewebten, freudlosen Gazetücher. Und nur jenen Flecken auf der Diele ließ die Nacht noch unberührt, das kurze Stück, auf dem Kößling auf und ab schritt, immer wieder rastlos hin und her. Aber auch hiervon nahm die Nacht Zoll für Zoll und breitete darauf ihre dumpfen Teppiche. Und mit der Dunkelheit kam über Kößling selbst durch das Frösteln im kalten Zimmer die Schwüle sinnlicher Vorstellungen und der Haß und Ekel gegen den, den er nicht kannte, diesen kleinen, feisten Menschen, an dem er nur einmal auf der Straße vorübergegangen und der nun das ganz besaß, was ihm das einzige auf dieser Welt erschien, und der sich den Besitz erzwungen hatte, den er sich nicht einmal in seinen Träumen gönnte. Und das erste Mal tauchten vor Kößling wie rote, feurige Kugeln in der Dunkelheit die Gedanken der Selbstvernichtung auf, die gierige Sehnsucht, ein Ende zu machen; Gedanken, die ihn nicht mehr völlig verlassen sollten, die er erst haßte und mit denen er sich dann aussöhnte, um sie endlich fast liebzugewinnen. – Noch waren sie ganz fern; aber schon leuchteten sie grell und schreckhaft, so daß Kößling vor ihrem Glanz sein Gesicht gegen das schwarze, kalte Wachstuch des Lehnstuhls pressen mußte.

Und die Stunden tropften hin, eine zur anderen, müde und nutzlos in frostiger Dunkelheit, schwankend zwischen Klagen, Sehnsucht, Beteuerungen und Vorwürfen; bis Kößling endlich von seinem Stuhl sich hochriß, weil er draußen jemanden sprechen hörte.

Jason Geberts Stimme! – Der Schrecken packte Kößling, daß er die Tür aufriß und ihm entgegenschrie, was es gäbe. Denn Jason Gebert, das wußte Doktor Kößling, war nicht der Mann, der ohne Grund zu jemandem ging – und vor allem noch jetzt, nach seiner Krankheit und an einem Tage wie dem heutigen.

Aber Jason Gebert beachtete die Frage nicht.

»Nun«, sagte er, »Sie sind im Dunkeln, Doktor!«

»Ja«, meinte Kößling, »was soll man? Wünschen Sie, daß ich Licht mache?«

»Wie Sie wollen, Doktor.«

Das hieß, »ich bitte«. Und Kößling tastete an seinem Bett herum und entzündete auf dem hohen, glatten Zinnleuchter die Kerze, die knisterte und sprühte und unruhige Lichter und große Schatten im Zimmer umherjagte.

»Die Lampe kommt gleich«, meinte Kößling und seufzte.

»Das ist nicht nötig«, sagte Jason. Er war an den Tisch gehinkt, der am Fenster stand, und blätterte, wie das seine Art war, in einem der Bücher, aber er konnte den Titel nicht entziffern. Wie kalt das hier war und wie ungemütlich! War denn überhaupt ein Ofen im Zimmer?

Eine ganze Weile blickte Jason Gebert in das Buch.

»Es sind wohl die ›Unterhaltungen mit einer Heiligen‹?« sagte Kößling.

»Ach ja«, sagte Jason, als besänne er sich, wo er war, und blickte Kößling über den Rand des Buches scharf an mit seinen grauen Augen, die so hart und ernst sein konnten. »Ach ja ... aber Sie wollten den Christian Garve für mich suchen; wissen Sie, ›Gesellschaft und Einsamkeit‹«

»Ich bin in diesen Tagen wirklich nicht dazu gekommen«, meinte Kößling müde.

»Ich verstehe«, sagte Jason. »Meine Nichte Jettchen hat heute geheiratet.«

Kößling biß sich auf die Lippen, senkte den Kopf und wiegte ihn ein paarmal. »Ich weiß«, sagte er und kämpfte mit den Tränen.

Jason war auf Kößling zugehinkt, der da an der kahlen Wand beim flackernden Licht auf einem der dünnbeinigen Stühle saß, ganz weit vorgebeugt, die Hände auf den Knien.

»Mann«, schrie er und schlug Kößling auf die Schulter, »Doktor«, schrie er und schüttelte ihn, »wenn ich Sie wäre – ich wüßte ja nicht, was ich täte!«

Kößling blickte ihn verständnislos an.

»Ich wüßte schon«, sagte er; aber Jason ließ ihn nicht los.

»Mann, wenn ich Sie wäre«, schrie er wieder, »so alles vor sich haben; aber Sie sind das ja nicht wert! Kein Mensch ist das wert! Wer sind Sie denn, daß man Ihretwegen so etwas tut? Oder wenn es nicht Ihretwegen geschehen ist – auch dann? Wer sind Sie? Doch nur ein ganz netter Junge, wie es Hunderte gibt!«

Kößling sah Jason Gebert an, ohne sich zu rühren. Was hatte Jason Gebert nur, daß er so alles vergaß, sogar seine spöttische Überlegenheit?

»Und seit Stunden bin ich in einer Erregung, ich spiele mit den Fäden wie der Puppenspieler Richter; Herrgott, was habe ich alles getan und für wen?«

Durch Kößlings Gesicht ging ein fragendes Leuchten. »Was ist?«

»Meine Nichte hat geheiratet.«

Kößling sank wieder zusammen.

»Das weiß ich«, sagte er.

Aber da schüttelt ihn Jason Gebert, er kam ihm ganz nahe.

»Was ... Sie wissen, Doktor? Gar nichts, gar nichts wissen Sie! Wissen Sie, daß meine Nichte fortgelaufen ist, von der Hochzeitstafel fort? – Ja? – Wissen Sie, daß ich sie gefunden habe? Wissen Sie, daß sie jetzt bei mir ist, in meinem Hause? Oben in meinem Zimmer? Und daß sie nicht zu ihrem Mann gehen wird, nie und nimmer? – Ja? – Wissen Sie das?«

Kößling war aufgesprungen, er hätte beinahe Jason Gebert umgerissen. Er wollte das nicht glauben, es wäre nicht wahr! Es wäre unmöglich! Er könnte es gar nicht fassen. Jason Gebert ahne ja gar nicht, was das für ihn bedeute; er hätte plötzlich das Gefühl von ungeheuren Weiten, so hell, daß das Licht ihn taumeln mache, so hell, daß er fast lichtblind würde! Er wolle zu ihr, er müsse sie sofort sprechen, ihr alles sagen.

»Sie irren, Doktor«, sagte Jason Gebert und richtete sich steil auf. Jetzt war er wieder ganz er selbst, und er mußte lächeln. »Sie irren, Doktor, meine Nichte empfängt jetzt nicht. Ich bitte Sie – wie es in der Diplomatensprache heißt –, all diese Mitteilungen diskret zu behandeln. Ich wollte Sie nur ganz vertraulich von den Ereignissen in Kenntnis setzen. Was Sie daraus folgern wollen, ist Ihre Sache. Ich vertrete Ihre Interessen nicht, sondern nur die meiner Nichte – und, doch das können Sie nicht verstehen, auch in gewissem Sinne die der Geberts. Ich kann auch deshalb nicht Ihre Partei ergreifen, ich nehme nur die Partei meiner Nichte. Und wenn ich Ihnen damit endlich auch nützen sollte ... nun gut, mein Freund, so kann ich es eben nicht hindern. Aber, aber, Kößling, das eine sage ich Ihnen schon jetzt, es wird schwerhalten ... schwer ... sehr schwer!«

Und Jason erzählte von seinen Zweifeln und Bedenken, wie er alles daransetzen wollte, daß Jettchen nicht zu ihrem Manne ginge und daß sie, wie sie gerichtlich getraut waren, nun auch gerichtlich getrennt würden, und wie das heute so einfach und klar erschiene und so sicher und so aussichtsreich; wie er aber glaube, daß schon morgen alles ein ganz anderes Gesicht hätte. Jettchen sei dem nicht gewachsen, und er fürchte weiter schlimme Zeiten für sie. Es kämen noch materielle Dinge hinzu, über die er hier nicht reden wolle.

Jason war indessen wieder an den Tisch, an das Fenster getreten und sprach und sprach in die Dunkelheit hinaus. Hinten in den Straßenzügen flackerten die Lichtscheine zwischen den Dächern unbestimmt in die Nacht hinein. Die kahlen Baumwipfel drüben hatten sich noch nicht ganz verloren, schwarz hoben sie sich vom schwarzen Himmel. Ein paar tiefe Sterne blinkten durch das Netzwerk ihrer Äste, und über ihnen stieg die ganze hohe Nacht empor, blank ausgestirnt, kalt und unerbittlich herzlos. Jason preßte die Stirn gegen die Scheiben, während er weitersprach und all seine Bekümmernis in die frostige Dunkelheit hinausredete. Hinter ihm im halb erleuchteten Zimmer knisterte und zuckte dabei das Licht der gelben Kerze und zitterte über die kahlen Wände hin, und durch den stillen Raum vernahm Jason die langen Schritte Kößlings auf den knarrenden Dielen.

Kößling achtete in seiner Erregung kaum auf das, was Jason Gebert zu ihm sprach. Er wiederholte sich nur immer wieder das eine, daß nun doch nichts, noch gar nichts verloren sei und daß er sich umsonst abgeängstigt habe und daß er zu Jettchen müsse, um alles Unrecht, welches er ihr in Gedanken angetan, vor ihr wiedergutzumachen. Er war stolz auf sie, aber zugleich peinigte ihn die Furcht, daß sie nun krank sei. Doch was wog diese Furcht gegen die tiefe Lust am Leben, die ihn plötzlich durchflammte, so unerhört und berauschend, daß es ihm in allen Muskeln zuckte, sich auszurasen, bis er vor Müdigkeit niedersänke.

»Nun«, sagte Jason, wandte sich und ergriff seinen Hut – den breiten Spenzer hatte er nicht abgelegt –, »nun, lieber Freund, mein Wagen wartet unten. Vielleicht sehe ich Sie bald einmal bei Drucker; oder treffen wir uns lieber bei Stehely in der Nachmittagsstunde?«

Kößling erschrak. »Und den Christian Garve?«

»Ich hole ihn mir einmal von Ihnen, Doktor«, sagte Jason und ging grüßend an Kößling vorüber.

Kößling nahm das Licht, um dem anderen zu leuchten, und schritt hinter ihm her die schmale Stiege hinab. Noch an der Haustür trug er Jason Grüße auf. Morgen früh würde er selbst kommen.

»Lieber Doktor«, sagte Jason, während er schon den Wagenschlag in der Hand hielt, »die Grüße werde ich gern ausrichten, ich vergesse es nicht. Wissen Sie, Doktor, die beiden zartesten Worte, die die Menschheit je ersonnen hat, meine ich immer, sie sind ›grüßen‹ und ›sehnen‹. Aber – hm – darf ich Sie bitten, mich nicht zu besuchen.«

 

Kößling wurde rot bis in die Haarwurzeln und zitterte, daß das Licht fast verlöschte.

»Nicht, lieber Doktor, daß ich Sie nicht bei mir haben will; aber Sie wissen nicht, wie die Dinge liegen. Frau Jacoby durfte ich bei mir aufnehmen – ihren Liebhaber darf ich nicht bei mir empfangen, verstehen Sie? Wenigstens nicht jetzt; aber wir sehen uns ja so ...«

Und damit lehnte sich Jason in die Polster seines Wagens zurück und schloß müde die Augen. War das ein Tag gewesen! Und langsam und wie verschlafen zogen die Pferde wieder an.

Kößling stand einen Augenblick wie betäubt, dann aber lief er nach oben, seinen Hut und Mantel zu holen. Er mußte noch Luft haben, sich ausrasen, und wenn er bis zum Morgengrauen durch die Straßen laufen sollte ...

Und während nun Jasons Wagen gemächlich die kurze Strecke bis zu seinem Hause weiterschwankte, da ratterte noch ein anderer Wagen durch die Straßen Berlins; von Haus zu Haus. Ratterte die Königstraße herauf und die Spandauer Straße vom Molkenmarkt bis zur Garnisonkirche hinab, die Poststraße, die Burgstraße entlang, ja, er vergaß nicht einmal den Hohen Steinweg und den Neuen Markt. Er schwankte um die Marienkirche und kam bis nach der Münzstraße, ja, selbst in der Neuen Roßstraße hatte er zu tun. Aber dieser Wagen war nicht aus dem Fuhr- und Wagengeschäft Onkel Ferdinands, kein Break und keine Britschka, kein Char à bancs und kein Tandem, sondern ein ganz altmodischer Wagen mit geschweiften Federn war es und mit einem himmelhohen Bock und mit einem Tritt für betreßte Lakaien in Dreimastern und weißen Perücken. Vier schwere, reichbehangene Gäule zogen ihn, und mit Trompeten ritten Vorreiter voran; und Tuben und Hörner bliesen vom Kutschbock – und kleine bösartige Pikkolos und Flageoletts zwitscherten vom Trittbrett. Und drinnen in dem Wagen, faul und lügnerisch, in den alten Seidenpolstern saß sie selbst, sie, die alte Vettel, Frau Fama. Und von Haus zu Haus wurde sie fetter, breiter, wohlgenährter, runder und lachender. Ihre kleinen Augen verschwanden beinahe in dem feisten Gesicht; immer mehr wuchs sie, und die Fugen ihrer alten Karosse krachten ordentlich unter ihrer Fülle. Und in alle Häuser, bis in die letzten Winkel, bis unter die Himmelbetten mit den Mullvorhängen drangen die Tuben und Hörner, die kleinen, bösartigen Flöten und Flageoletts, und immer neue, ungehörte und unerhörte Weisen raunten, zischelten, bliesen und flüsterten sie ...

Und alles kam, wie es kommen mußte. Man freute sich auf Frost und klare Tage, aber das Wetter hielt nicht an. Am nächsten Morgen war schon wieder der Himmel umzogen, und der weiße Reif auf den Dächern der Remisen, auf dem hölzernen Gartenzaun am Lagerhaus, in dem Winkel unter der Königsbrücke, dort, wo im Frühjahr die paar Veilchen standen und wo jetzt der Wind das welke Laub zusammengetrieben hatte – der weiße Reif mit seinen kleinen, weißen, blitzenden Zinken und Zacken, der verging, gerade als wäre er zu fein und zu stolz dazu, sich allen Blicken preiszugeben. Nur ein paar Jungen, die Milch trugen, nur ein paar Bauernwagen, die von draußen zum Gänsemarkt kamen, nur der Barbier, der mit fliegenden Rockschößen beim ersten Morgengrauen von Tür zu Tür lief, der durfte ihn sehen, und er durfte die Nachricht von Ort zu Ort tragen, daß es draußen wirklich Winter würde. Aber bloß bei den ersten Kunden kam er dazu, hiervon zu sprechen. Nachher gab es Wichtigeres für ihn mitzuteilen. Und die Jungen mit den Milchkannen, die durften sogar mit den Stiefelhacken noch versuchen, ob das Eis auf den Pfützen, das mit seinen langen, blanken Kristallnadeln so schön glatt aussah, etwa schon zu einer Schlitterbahn hergäbe. Doch ehe sie es recht bedauern konnten, daß es das nicht tat, ehe sie noch von ihren Stulpenstiefeln die letzten Spuren ihrer vergeblichen Versuche getilgt hatten, da war an Reif und Eis und Winter gar nicht mehr zu denken. Wie ein grauer Rauch zog es von den niederen Dächern, Zäunen und stillen Winkeln und überzog dafür alles mit einer glitschigen Nässe. Und nicht ein Bröckelchen Eis duldete es mehr auf den Pfützen, sondern es sorgte dafür, daß sie ihren zähen Schlamm bis an den Bürgersteig schoben und daß die Kopfsteine und Platten, die sich so schmal dahinzogen, ganz wie in klebriger Feuchtigkeit gebadet waren. Und aus dem Nebel wurde ein Triefen und Sprühen; und aus dem Triefen und Sprühen wurde langsam ein zäher, gleichmäßiger Regen, der aus dem grauen Rauch herabsank und alles überzog mit seiner blanken Feuchtigkeit; der bis in die Häuser und Nischen und Torbogen drang und auf den alten Höfen nicht einmal die Ecken vergaß, an denen, nach Möglichkeit geschützt, die leeren Geschäftskisten zu Pyramiden aufgeschichtet standen.

Aber dieser Regen und die Unfreundlichkeit des Tages machten es gerade heute doch nicht, daß die Straßen deswegen weniger belebt waren. Die Postwagen natürlich, die mußten kommen mit ihren ganz bespritzten Ledern und über und über grau vom Schmutz der Landstraßen, und die Lastwagen, die hinausgingen nach Frankfurt an der Oder, hochbepackt und von schweren, dampfenden Gäulen mit klirrenden Geschirren gezogen, für die gab es gleichfalls kein schlechtes Wetter, und wenn der Schnee zehn Zoll hoch gelegen hätte. Aber warum dieser oder jener und mehr noch diese oder jene, die gewiß kein Geschäft auf dieser Welt hatten, nichts versäumten und ruhig auf angenehmere und stillere Tage warten konnten, auf der Straße sein mußten und Besuche machen mußten, bei denen man den Leuten doch nur die gebohnten Stuben vertrat – das, ja, das konnte einen schon in Staunen setzen! Soviel Kunden hatte der Tischler Löwenberg noch nie gesehen. Und das Haus, in dem das alte Fräulein mit den Pudellöckchen wohnte, in der Poststraße – es war beinahe so klein und schief wie sie selbst –, das wurde rein zur Wallfahrtskapelle. Betagte Damen in großen gestickten Umschlagtüchern, die jahrelang nicht mehr aus der Tür gegangen waren, erkannten plötzlich, daß sie schon lange sehr ungezogen wären und die Frau Minchen Gebert auf dem Hohen Steinweg nicht einmal besucht hätten; und sie meinten, daß Tag und Stunde gerade günstig wären, um das nachzuholen. Und alte Herren, die sich wegen des Reißens vor jedem Windzug und vor jedem Regentropfen hüteten und vormittags nie weitergingen als bis zur nächsten Tabagie, zeigten plötzlich hippologisches Interesse und wandelten bedächtig unter ihren großen Regenschirmen die Königstraße hinauf und hinab und betrachteten aufmerksam die ostpreußischen Wallache vor den Prenzlauer Wagen, als müßte diese Anteilnahme den alten Elias Gebert herbeilocken. Vielleicht konnte man von dem etwas erfahren.

Aber sei es, daß der alte Onkel Eli wirklich sein Reißen in der Schulter hatte, sei es, daß ihm ausnahmsweise das Wetter zu schlecht war – die alten Grauköpfe mochten straßauf, straßab gehen –, Onkel Eli war nicht anzutreffen. Und ebensowenig kamen die betagten Damen bei Tante Minchen auf ihre Rechnung, denn wenn Minchens Minna auch ein bißchen taub war, soviel verstand sie doch, daß die alten Herrschaften gerade heute keinen Besuch wünschten.

Hannchen hingegen fühlte sich geehrt durch die Leute, die zu ihr kamen – es war doch ein Zeichen von Teilnahme, daß sie in diesen schweren Tagen an sie dachten; und Tante Hannchen hatte deshalb, gerade wie zu einem Trauerfall, ein schwarzes Taftkleid angezogen; in dem saß sie nun breit in der Mitte vom Sofa, eine Fußbank unter den gestickten Morgenschuhen und ein Kissen im Rücken. Und in einer Stunde sprach sie mehr, als sie in einer Woche verantworten konnte. Wenn Ferdinand dagewesen wäre, so hätte er das wohl nicht geduldet. Aber Ferdinand war nicht da.

Doch während sonst Tante Hannchen klüglich von den Gängen ihres Mannes schwieg und dem Besuch stets sagte, daß ihr Mann in den Remisen oder in der Lackiererei beschäftigt wäre, nahm sie heute kein Blatt vor den Mund, wo er hingegangen war. Ganz früh – sie sei noch gar nicht aufgewesen – habe schon der Lakai vom Prinzen Karl bestellt, ihr Mann möchte um zehn Uhr ins Palais kommen und Muster vorlegen. Und es sei gut gewesen, daß ihr Mann gerade in dieser Woche die Neuheiten aus Paris bekommen hätte: göttliche Wagen, von einer Eleganz und einem Pli, wie sie das hier gar nicht machen könnten.

Aber trotz Tante Hannchens Beredsamkeit erfuhr doch keiner etwas Rechtes und Befriedigendes über den Fall. Immer wieder hörte man die paar Dinge, die man schon längst wußte. Gar keine pikanten Einzelheiten waren in Erfahrung zu bringen. Wie das nun zusammenhing, wie es sich eigentlich ereignet hatte, darüber bekam keiner Klarheit. Nichts Derartiges war vorher von Jettchen geäußert worden, keine Silbe; keiner hatte etwas Ähnliches erwartet, alles war beim Schönsten und Besten – und plötzlich hieß es, die junge Frau sei fort. Herrgott, gab das einen Schrecken! Daß der alte Junggeselle, Jason Gebert, dem überhaupt nicht recht zu trauen war, dabei seine Hand im Spiele hatte und sicherlich in ganz anderer Weise, als er es darstellte, das sähe jedes Kind.

Und die, die ganz kühn waren und zu Salomon Gebert ins Geschäft gingen, um ihn an irgendwelche Lieferungen zu erinnern oder um ihm mitzuteilen, daß das offerierte Packpapier um einen Dreier billiger zu beschaffen sei, und die dabei so nebenher und linksherum etwas zu hören hofften, die erfuhren nun schon gar nichts. Denn der Chef, hieß es, wäre nicht da; und der alte Demcke nahm zwar von der Notierung des Packpapiers freudig Kenntnis, knurrte aber, daß ihn die andere Sache nichts anginge und er nichts davon wisse.

Salomon Gebert war wirklich nicht ins Geschäft gekommen, den ganzen lieben langen Tag nicht, trotzdem schon Weihnacht vor der Tür und man noch mit der Lieferung und mit dem Versand im Rückstand war. Solange das Geschäft bestand, war Salomon nie ohne Grund auch nur eine Stunde fortgeblieben. Ganz gleich, was gestern gewesen, ganz gleich, was heute war. Immer und allezeit war Salomon Gebert in seinem Geschäft der erste, der kam, und der letzte, der ging. Er war dabei, wenn der Hausdiener aufschloß, und er nahm die Schlüssel ihm beim Weggehen aus der Hand. Er hatte es so getan, als es nötig war; und er tat es noch jetzt, als es schon längst nicht mehr nötig war, gleichsam aus einer abergläubischen Gewöhnung – gerade, als ob daran das Geschick seines Hauses hinge. Und heute hatte er das erste Mal seit Jahrzehnten die Gewöhnung durchbrochen; aber hätte er es auch nicht getan, es hätte wohl keiner eine Antwort von ihm erhalten, und vielleicht hätte auch keiner, der ihn gesehen, ihn zu fragen gewagt.

So also war das Neuigkeitsbedürfnis aller näheren und weiteren Freunde und lieben Bekannten der Geberts – und wer zählte sich plötzlich nicht dazu! – keineswegs gestillt worden. Und als gut eine Stunde früher denn sonst der Tag verdämmerte und gut eine Stunde früher denn sonst in Salomons Kontor der Hausdiener Gustav die hohen Lichte auf den hohen Stehpulten anzündete, vor denen sich die Buchhalter auf den Füßen wiegten wie Pferde vor der Krippe – da, ja, da war zwar die Nachricht von dem Geschehnis wohl sechsmal um die Mauern der Stadt geflogen, hatte jedes Ohr gestreift, gestreift und wieder getroffen, man hatte die abenteuerlichsten Vermutungen ausgetauscht und für wahr ausgegeben; aber klüger war eigentlich niemand geworden. Niemand wußte mehr als gestern abend, da zuerst die Flageoletts und Pikkolos zwitscherten und die Tubenstöße der Frau Fama bis unter Himmelbetten und Mullvorhänge drangen und diese schwanken und flattern machten. Nun wartete man auf die Zeitungen, ob die etwas geben würden. Der »Beobachter« würde sich das sicher nicht entgehen lassen und Krauses »Berlin« wohl auch nicht ... oder Sommerfeld? Irgendwo würde man schon Sicheres erfahren.

Und während nun so das Geschehnis alle Welt erregte und immer weitere Wellen schlug – denn alle erinnerten sich mit einemmal, daß die Geberts doch eigentlich einst recht angesehen waren, und alle gönnten es ihnen und freuten sich innerlich, ihren Namen und ihren Ruf so recht durch den Mund zu ziehen, vor allem, da ja, wie sie meinten, die Sache eines lustigen Beigeschmacks nicht entbehrte –, währenddessen ... ja, währenddessen waren eigentlich die, die am nächsten betroffen wurden, ziemlich ruhig.

Nun, peinlich war es immerhin für Julius Jacoby gewesen, denn er hatte etwas anderes erwartet. Aber da sich für ihn ein gutes Gewissen mit manchem Glase guten Weins – vom Champagner ganz zu schweigen – und mit einem guten, neuen Bett vereinten, so konnte er doch am nächsten Morgen von sich sagen, daß er eigentlich nicht gerade schlecht geschlafen hatte. Und als er sich gar in der Frühe in seiner neuen Wohnung – warum hätte er etwa da nicht hingehen sollen, auch ohne Frau? – etwas umtat und sah, wie alles aus dem vollen geschöpft war und mit Liebe bereitet, gleich einem guten, hausbackenen Butterkuchen, da wurde ihm, bei aller pflichtschuldigen Bekümmernis – auch ohne Frau –, ganz warm ums Herz. Doch als nun erst Tante Hannchens Mädchen ihm den Kaffee brachte, der sich an Güte und Ausgiebigkeit – sie hatte für zwei Personen gekocht – merklich von dem seiner letzten Zimmerwirtin unterschied, und als sie ihn da so mitten hineinpackte in ein ganzes Feldlager von frischen Brötchen, von Butter, Honig, Marmelade und von silbernen Sahnenkännchen, von bauchigen Zuckerdosen und durchbrochenen Zuckerzangen – da konnte sich der Vetter Julius doch nicht enthalten, das Liedchen zu pfeifen, das man gestern in so vielen Versen bei seiner Hochzeit gesungen hatte, das Liedchen von dem »Ei, was braucht man, um glücklich zu sein«. Und er pfiff es immer noch, als er schon aus der Tür trat, um ins Geschäft zu gehen. Denn jetzt, sagte er sich, müsse er im Ernst der Arbeit Vergessenheit suchen.

 

Tante Rikchen hingegen hatte den ganzen Tag Tränen in den Augen und ging unruhig von einem Zimmer ins andere. Aber gewiß hätte sie auch Tränen in den Augen gehabt und wäre durch alle Räume gependelt, wenn alles gut und glatt gegangen wäre. Denn ohne von dem zu reden, was ihr Jettchen angetan hatte – sie fehlte ihr, und ihre Abwesenheit schmerzte sie. Auf ihre Art nämlich hatte die Tante Rikchen ihre Nichte Jettchen, die so lange wie Kind im Haus gewesen war, ganz liebgewonnen, und nichts lag ihr ferner, als ihr Böses zu wollen. Eigentlich war Tante Rikchen nur traurig, daß das Gute, das sie bereitet hatte, von Jettchen so mißachtet worden war. Nun, sie würde sich schon fügen. An ihren Mann aber richtete Tante Rikchen heute kaum das Wort, und nicht mit einer Silbe erwähnte sie das Vorgefallene. Auch er sprach nicht davon. Sie gingen beide umeinander herum wie zwei Räder in einem Uhrwerk, die eng beieinander sich drehen und sich doch nicht berühren und sich doch nicht begegnen. Salomon war matt, hatte gerötete Augen; in Morgenschuhen schlurfte er umher, setzte sich vom Lehnstuhl auf den Korbstuhl und von da auf das schwarze Ledersofa und vom Sofa wieder an seinen Fensterplatz – die Ellbogen auf den Knien und den Kopf zwischen den Händen. Wie war die Wohnung ihm leer und öde! Ihm war es gerade, als ob Jettchen gestorben wäre. Und mehr als einmal war er drauf und dran, zu Jason zu gehen und Jettchen sich zurückzuholen. So sehr fehlte ihm ihre Gegenwart, ihre stille Nähe und die feine, kluge Sorgfalt, mit der sie ihn umgeben hatte. Warum wollte sie denn nicht wiederkommen? Hier gehörte sie doch her! Und er würde doch gewiß nicht darauf bestehen, daß sie zu ihrem Manne ginge. Wo hatte er nur die ganze Zeit seine Augen gehabt? Und wie hatte er nur je glauben können, daß das gut würde? Hin und wieder kam ihm der Gedanke an die Leute draußen und daß sein Name und der gute und ehrliche Name seiner Familie jetzt schon sicherlich in aller Munde sei und daß man lächle und tuschle und klatsche und Lügen über sie alle verbreite. Dann packte ihn ein solcher Zorn, daß er beinahe die roten, geschliffenen Gläser vom Büfett herabgerissen und sie auf die Erde geschleudert hätte, nur um an irgend etwas seine Erregung auszulassen. Und als er nach dem Essen, das er, ohne ein Wort zu reden, in sich hineingewürgt hatte, sich nicht zu Tante Rikchen aufs Sofa setzte, um in seiner Ecke mit dem Papagei auf der Schlummerrolle sein Schläfchen zu machen, sondern, mit dem letzten Bissen im Mund, aufstand und in sein Zimmer ging, da konnte Tante Rikchen nicht anders: sie mußte sich in den Lehnstuhl setzen und ihre beiden dicken Hände in die Augen bohren und weinen. Wenn er mit ihr geschimpft hätte, wenn er ihr wenigstens Vorwürfe gemacht hätte!

Ferdinand nun hatte sich die Angelegenheit mit Jettchen, als seine erste Erregung geschwunden war, nicht gerade sehr zu Herzen gehen lassen, und das Kopfweh und die Migräne, mit denen er erwacht war, kamen durchaus nicht aus den Gebieten des Seelischen, sondern waren etwas tiefer begründet und beheimatet – ein wenig rechts unter dem Herzen. Aber als der Lakai erschien und Ferdinand die freudige Botschaft vernahm, da war dieses Mißbefinden wie weggeblasen. So schnell schwand es selbst nicht, wenn Ferdinand Gebert sich Gurkenscheiben auf den Kopf legte, und hiervon hielt er viel. Wie weggepustet war es, dieses Mißbefinden, und aus dem grauen, katzenjämmerlichen Morgen wurde Ferdinand ein Himmel voller Geigen. Richtig, er bekam die Bestellung: einen Jagdwagen, eine Britschka und ein Tandem. Drei Wagen auf einmal – und in allerbester Ausführung. Und dazu noch vom Hofe! Das würden natürlich nicht die einzigen bleiben, und irgendwelche Auszeichnung würde für ihn noch abfallen. Wie hatte er immer wieder und wieder seine Angel ausgeworfen danach, seit Jahren! Und jetzt, als er es am wenigsten vermutete, hatte plötzlich der Fisch angebissen. Er hatte ja schwere Zeiten durchgemacht. Denn als das mit der Eisenbahn kam, vor ein paar Jahren, da hatte er fest geglaubt, daß bald niemand mehr einen Reisewagen oder überhaupt eine Chaise sich kaufen oder leihen würde. Und alle hatten das gleiche prophezeit. Und nun? Dieser oder jener mochte schon »kaputtgegangen« sein. Aber er, er stand jetzt größer da als je. Denn der Hof, der preußische Hof – was das bedeutete: der preußische Hof! –, die andern würden dann schon von selbst kommen. Und ganze Marställe sah Ferdinand vor sich, mit endlosen Reihen von rotlackierten Prunkwagen und von himmelblauen Kaleschen, die alle aus seinen Werkstätten gekommen waren. Daß an einem solchen Tag ihn das Ereignis mit seiner Nichte Jettchen nicht allzusehr beschäftigte, kann man ihm nicht verargen.

Und wenn es sich wirklich einmal in seinen Gedanken etwas zu weit nach vorn schob, dann kamen wieder der Hof, der kleine, hochrädrige Jagdwagen, der Prinz selbst, der sogar »lieber Gebert« gesagt hatte – er war ein Mann ganz nach dem Geschmack Ferdinands –, und all das versetzte dem armen Jettchen einen solchen Stoß, daß es in seinem Kopf, in seinen Gedanken ganz weit nach hinten flog, alldahin, wo es gut aufgehoben war und sich in keiner Weise unangenehm bemerkbar machte.

Eli und Minchen aber sprachen viel darüber, und sie hatten Meinungsverschiedenheiten. Dabei saßen jedoch die beiden Alten einträchtig nebeneinander wie zwei Vögel auf einer Stange. Minchen war mit Jettchen nicht zufrieden. Sie hatte noch nie gehört, daß eine so etwas gewagt hätte, und deshalb mißbilligte sie es. Das heißt recht betrachtet: innerlich mißbilligte sie es gar nicht. Sie wußte nur noch nicht, wie sich die andern dazu stellen würden und wie man sich, ohne anzustoßen, Jettchen gegenüber zu verhalten habe. Eli hingegen sagte, seit langer Zeit hätte ihn nichts mehr so gefreut wie gerade das. Jetzt, eben jetzt müsse man zeigen, daß man auf Jettchens Seite stehe und sie nicht etwa im Stich lasse. Ja, auch für alle »allenfallsigen Nebenseiten« des Problems – denn mit ihnen rechneten jetzt auch die Nächsten – zeigte der alte Onkel Eli ein tiefgehendes, zustimmendes und verzeihendes Verständnis. Er verstieg sich sogar dahin, es ganz natürlich zu finden. Aber soweit konnte ihm die kleine Tante Minchen nicht folgen. Ihr weibliches Gemüt, sagte sie, sträube sich gegen alles Unmoralische. Das wollte wieder Onkel Eli nicht gelten lassen, und er versuchte ihr zu erklären, daß es unmöglich wäre, da Unterschiede herauszufinden, wo in der Natur gar keine beständen. Und als seine Argumente nicht überzeugten – denn man kann fünfzig Jahre und über fünfzig Jahre mit einer Frau verheiratet sein, und sie wird den Feinheiten und der Folgerichtigkeit der männlichen Logik ebenso ungläubig und verständnislos gegenüberstehen wie am ersten Tage –, da begann er zu poltern und auf die Frauensleute – die Seinige inbegriffen – zu schimpfen; während er doch sonst bei seinen Anwürfen diese auszuschließen beliebte. Und ein Mal über das andere schrie er mit ganz rotem Kopfe: »Kann man so etwas wohl in so ä Frauensmensch reinbringen!« Minchen schwieg natürlich auch nicht, und es gab das schönste, doppelseitige Ärgernis. Bis Minchen endlich klein beigab und damit bewirkte, daß der Himmel sich klärte.