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Lenz

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Aus der Reihe: Minis bei Null Papier
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Lenz
Lenz
Hörbuch
Wird gelesen Wolfgang Gerber
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Des Tags saß er ge­wöhn­lich un­ten im Zim­mer. Ma­da­me Ober­lin ging ab und zu; er zeich­ne­te, mal­te, las, griff nach je­der Zer­streu­ung, al­les has­tig von ei­nem zum an­de­ren. Doch schloss er sich jetzt be­son­ders an Ma­da­me Ober­lin an, wenn sie so da­saß, das schwar­ze Ge­sang­buch vor sich, ne­ben ei­ner Pflan­ze, im Zim­mer ge­zo­gen, das jüngs­te Kind zwi­schen den Kni­en; auch mach­te er sich viel mit dem Kin­de zu tun. So saß er ein­mal, da wur­de ihm ängst­lich, er sprang auf, ging auf und ab. Die Tür halb of­fen – da hör­te er die Magd sin­gen, erst un­ver­ständ­lich, dann ka­men die Wor­te:

Auf die­ser Welt hab’ ich kein’ Freu­d’,

Ich hab’ mein Schatz, und der ist weit.

Das fiel auf ihn, er ver­ging fast un­ter den Tö­nen. Ma­da­me Ober­lin sah ihn an. Er fass­te sich ein Herz, er konn­te nicht mehr schwei­gen, er muss­te da­von spre­chen. »Bes­te Ma­da­me Ober­lin, kön­nen Sie mir nicht sa­gen, was das Frau­en­zim­mer macht, des­sen Schick­sal mir so zent­ner­schwer auf dem Her­zen liegt?«

»Aber Herr Lenz, ich weiß von nichts.«

Er schwieg dann wie­der und ging has­tig im Zim­mer auf und ab; dann fing er wie­der an: »Sehn Sie, ich will ge­hen; Gott, Sie sind noch die ein­zi­gen Men­schen, wo ich’s aus­hal­ten könn­te, und doch – doch, ich muss weg, zu ih­r – aber ich kann nicht, ich darf nicht.« – Er war hef­tig be­wegt und ging hin­aus.

Ge­gen Abend kam Lenz wie­der, es däm­mer­te in der Stu­be; er setz­te sich ne­ben Ma­da­me Ober­lin. »Sehn Sie,« fing er wie­der an, »wenn sie so durchs Zim­mer ging und so halb für sich al­lein sang, und je­der Tritt war eine Mu­sik, es war so eine Glück­se­lig­keit in ihr, und das ström­te in mich über; ich war im­mer ru­hig, wenn ich sie an­sah oder sie so den Kopf an mich lehn­te … Ganz Kind; es war, als wär ihr die Welt zu weit: sie zog sich so in sich zu­rück, sie such­te das engs­te Plätz­chen im gan­zen Haus, und da saß sie, als wäre ihre gan­ze Se­lig­keit nur in ei­nem klei­nen Punkt, und dann war mir’s auch so; wie ein Kind hät­te ich dann spie­len kön­nen. Jetzt ist es mir so eng, so eng! Sehn Sie, es ist mir manch­mal, als stieß, ich mit den Hän­den an den Him­mel; o, ich er­sti­cke! Es ist mir da­bei oft, als fühlt ich phy­si­schen Schmerz, da in der lin­ken Sei­te, im Arm, wo­mit ich sie sonst fass­te. Doch kann ich sie mir nicht mehr vor­stel­len, das Bild läuft mir fort, und dies mar­tert mich; nur wenn es mir manch­mal ganz hell wird, so ist mir wie­der recht wohl.« – Er sprach spä­ter noch oft mit Ma­da­me Ober­lin da­von, aber meist in ab­ge­bro­che­nen Sät­zen; sie wuss­te we­nig zu ant­wor­ten, doch tat es ihm wohl.

Un­ter­des­sen ging es fort mit sei­nen re­li­gi­ösen Quä­le­rei­en. Je lee­rer, je käl­ter, je ster­ben­der er sich in­ner­lich fühl­te, de­sto mehr dräng­te es ihn, eine Glut in sich zu we­cken; es ka­men ihm Erin­ne­run­gen an die Zei­ten, wo al­les in ihm sich dräng­te, wo er un­ter all sei­nen Emp­fin­dun­gen keuch­te. Und jetzt so tot. Er ver­zwei­fel­te an sich selbst; dann warf er sich nie­der, er rang die Hän­de, er rühr­te al­les in sich auf – aber tot! tot! Dann fleh­te er, Gott möge ein Zei­chen an ihm tun; dann wühl­te er in sich, fas­te­te, lag träu­mend am Bo­den.

Am 3. Hor­nung3 hör­te er, ein Kind in Fou­day sei ge­stor­ben, das Frie­de­ri­ke hieß; er fass­te es auf wie eine fixe Idee. Er zog sich in sein Zim­mer und fas­te­te einen Tag. Am 4. trat er plötz­lich ins Zim­mer zu Ma­da­me Ober­lin; er hat­te sich das Ge­sicht mit Asche be­schmiert und for­der­te einen al­ten Sack. Sie er­schrak; man gab ihm, was er ver­lang­te. Er wi­ckel­te den Sack um sich, wie ein Bü­ßen­der, und schlug den Weg nach Fou­day ein. Die Leu­te im Tale wa­ren ihn schon ge­wohnt; man er­zähl­te sich al­ler­lei Selt­sa­mes von ihm. Er kam ins Haus, wo das Kind lag. Die Leu­te gin­gen gleich­gül­tig ih­rem Ge­schäf­te nach; man wies ihm eine Kam­mer: das Kind lag im Hem­de auf Stroh, auf ei­nem Holz­tisch.

Lenz schau­der­te, wie er die kal­ten Glie­der be­rühr­te und die halb­ge­öff­ne­ten glä­ser­nen Au­gen sah. Das Kind kam ihm so ver­las­sen vor, und er sich so al­lein und ein­sam. Er warf sich über die Lei­che nie­der. Der Tod er­schreck­te ihn, ein hef­ti­ger Schmerz fass­te ihn an: die­se Züge, die­ses stil­le Ge­sicht soll­te ver­we­sen – er warf sich nie­der; er be­te­te mit al­lem Jam­mer der Verzweif­lung, dass Gott ein Zei­chen an ihm tue und das Kind be­le­ben möge …; dann sank er ganz in sich und wühl­te all sei­nen Wil­len auf einen Punkt. So saß er lan­ge starr. Dann er­hob er sich und fass­te die Hän­de des Kin­des und sprach laut und fest: »Ste­he auf und wand­le!« Aber die Wän­de hall­ten ihm nüch­tern den Ton nach, dass es zu spot­ten schi­en, und die Lei­che blieb kalt. Da stürz­te er halb wahn­sin­nig nie­der; dann jag­te es ihn auf, hin­aus ins Ge­birg.

Wol­ken zo­gen rasch über den Mond; bald al­les im Fins­tern, bald zeig­ten sie die ne­bel­haft ver­schwin­den­de Land­schaft im Mond­schein. Er rann­te auf und ab. In sei­ner Brust war ein Tri­umph­ge­sang der Höl­le. Der Wind klang wie ein Ti­ta­nen­lied. Es war ihm, als könn­te er eine un­ge­heu­re Faust hin­auf in den Him­mel bal­len und Gott her­bei­rei­ßen und zwi­schen sei­nen Wol­ken schlei­fen; als könn­te er die Welt mit den Zäh­nen zer­mal­men und sie dem Schöp­fer ins Ge­sicht spei­en; er schwur, er läs­ter­te. So kam er auf die Höhe des Ge­bir­ges, und das un­ge­wis­se Licht dehn­te sich hin­un­ter, wo die wei­ßen Stein­mas­sen la­gen, und der Him­mel war ein dum­mes blau­es Aug, und der Mond stand ganz lä­cher­lich drin, ein­fäl­tig. Lenz muss­te laut la­chen, und mit dem La­chen griff der Athe­is­mus in ihn und fass­te ihn ganz si­cher und ru­hig und fest. Er wuss­te nicht mehr, was ihn vor­hin so be­wegt hat­te, es fror ihn; er dach­te, er wol­le jetzt zu Bet­te gehn, und er ging kalt und un­er­schüt­ter­lich durch das un­heim­li­che Dun­kel – es war ihm al­les leer und hohl, er muss­te lau­fen und ging zu Bet­te.

Am fol­gen­den Tag be­fiel ihn ein großes Grau­en vor sei­nem gest­ri­gen Zu­stand. Er stand nun am Ab­grund, wo eine wahn­sin­ni­ge Lust ihn trieb, im­mer wie­der hin­ein­zu­schau­en und sich die­se Qual zu wie­der­ho­len. Dann stei­ger­te sich sei­ne Angst, die Sün­de wi­der den Hei­li­gen Geist stand vor ihm.

Ei­ni­ge Tage dar­auf kam Ober­lin aus der Schweiz zu­rück, viel frü­her, als man es er­war­tet hat­te. Lenz war dar­über be­trof­fen. Doch wur­de er hei­ter, als Ober­lin ihm von sei­nen Freun­den im El­saß er­zähl­te. Ober­lin ging da­bei im Zim­mer hin und her und pack­te aus, leg­te hin. Da­bei er­zähl­te er von Pfef­fel, das Le­ben ei­nes Land­geist­li­chen glück­lich prei­send. Da­bei er­mahn­te er ihn, sich in den Wunsch sei­nes Va­ters zu fü­gen, sei­nem Be­ru­fe ge­mäß zu le­ben, heim­zu­keh­ren. Er sag­te ihm: »Ehre Va­ter und Mut­ter!« und der­glei­chen mehr. Über dem Ge­spräch ge­riet Lenz in hef­ti­ge Un­ru­he; er stieß tie­fe Seuf­zer aus, Trä­nen dran­gen ihm aus den Au­gen, er sprach ab­ge­bro­chen. »Ja, ich halt es aber nicht aus; wol­len Sie mich ver­sto­ßen? Nur in Ih­nen ist der Weg zu Gott. Doch mit mir ist’s aus! Ich bin ab­ge­fal­len, ver­dammt in Ewig­keit, ich bin der Ewi­ge Ju­de.« Ober­lin sag­te ihm, da­für sei Je­sus ge­stor­ben; er möge sich brüns­tig an ihn wen­den, und er wür­de teil­ha­ben an sei­ner Gna­de.

Lenz er­hob das Haupt, rang die Hän­de und sag­te: »Ach! ach! gött­li­cher Trost – .« Dann frag­te er plötz­lich freund­lich, was das Frau­en­zim­mer ma­che. Ober­lin sag­te, er wis­se von nichts, er wol­le ihm aber in al­lem hel­fen und ra­ten; er müs­se ihm aber Ort, Um­stän­de und Per­son an­ge­ben. Er ant­wor­te­te nichts wie ge­broch­ne Wor­te: »Ach, ist sie tot? Lebt sie noch? Der En­gel! Sie lieb­te mich – ich lieb­te sie, sie war’s wür­dig – o der En­gel! Ver­fluch­te Ei­fer­sucht, ich habe sie auf­ge­op­fert – sie lieb­te noch einen an­de­ren – ich lieb­te sie, sie war’s wür­dig – o gute Mut­ter, auch die lieb­te mich – ich bin euer Mör­der!« Ober­lin ver­setz­te: viel­leicht leb­ten alle die­se Per­so­nen noch, viel­leicht ver­gnügt; es möge sein, wie es wol­le, so kön­ne und wer­de Gott, wenn er sich zu ihm be­kehrt ha­ben wür­de, die­sen Per­so­nen auf sein Ge­bet und Trä­nen so viel Gu­tes er­wei­sen, dass der Nut­zen, den sie als­dann von ihm hät­ten, den Scha­den, den er ih­nen zu­ge­fügt, viel­leicht über­wie­gen wür­de. Er wur­de dar­auf nach und nach ru­hi­ger und ging wie­der an sein Ma­len.

Den Nach­mit­tag kam er wie­der. Auf der lin­ken Schul­ter hat­te er ein Stück Pelz und in der Hand ein Bün­del Ger­ten, die man Ober­lin nebst ei­nem Brie­fe für Lenz mit­ge­ge­ben hat­te. Er reich­te Ober­lin die Ger­ten mit dem Be­geh­ren, er soll­te ihn da­mit schla­gen. Ober­lin nahm die Ger­ten aus sei­ner Hand, drück­te ihm ei­ni­ge Küs­se auf den Mund und sag­te: dies wä­ren die Strei­che, die er ihm zu ge­ben hät­te; er möch­te ru­hig sein, sei­ne Sa­che mit Gott al­lein aus­ma­chen, alle mög­li­chen Schlä­ge wür­den kei­ne ein­zi­ge sei­ner Sün­den til­gen; da­für hät­te Je­sus ge­sorgt, zu dem möch­te er sich wen­den. Er ging.

Beim Nachtes­sen war er wie ge­wöhn­lich et­was tief­sin­nig. Doch sprach er von al­ler­lei, aber mit ängst­li­cher Hast. Um Mit­ter­nacht wur­de Ober­lin durch ein Geräusch ge­weckt. Lenz rann­te durch den Hof, rief mit hoh­ler, har­ter Stim­me den Na­men Frie­de­ri­ke, mit äu­ßers­ter Schnel­le, Ver­wir­rung und Verzweif­lung aus­ge­spro­chen; er stürz­te sich dann in den Brun­nen­trog, patsch­te dar­in, wie­der her­aus und her­auf in sein Zim­mer, wie­der her­un­ter in den Trog, und so ei­ni­ge Mal – end­lich wur­de er still. Die Mäg­de, die in der Kin­der­stu­be un­ter ihm schlie­fen, sag­ten, sie hät­ten oft, in­son­der­heit aber in sel­bi­ger Nacht, ein Brum­men ge­hört, das sie mit nichts als mit dem Tone ei­ner Ha­ber­pfei­fe zu ver­glei­chen wüss­ten. Vi­el­leicht war es sein Win­seln, mit hoh­ler, fürch­ter­li­cher, ver­zwei­feln­der Stim­me.

 

Am fol­gen­den Mor­gen kam Lenz lan­ge nicht. End­lich ging Ober­lin hin­auf in sein Zim­mer: er lag im Bett, ru­hig und un­be­weg­lich. Ober­lin muss­te lan­ge fra­gen, ehe er Ant­wort be­kam; end­lich sag­te er »Ja, Herr Pfar­rer, se­hen Sie, die Lan­ge­wei­le! die Lan­ge­wei­le! o, so lang­wei­lig! Ich weiß gar nicht mehr, was ich sa­gen soll; ich habe schon al­ler­lei Fi­gu­ren an die Wand ge­zeich­net.«

Ober­lin sag­te ihm, er möge sich zu Gott wen­den; da lach­te er und sag­te: »Ja, wenn ich so glück­lich wäre wie Sie, einen so be­hag­li­chen Zeit­ver­treib auf­zu­fin­den, ja, man könn­te sich die Zeit schon so aus­fül­len. Al­les aus Mü­ßig­gang. Denn die meis­ten be­ten aus Lan­ge­wei­le, die an­de­ren ver­lie­ben sich aus Lan­ge­wei­le, die drit­ten sind tu­gend­haft, die vier­ten las­ter­haft, und ich gar nichts, gar nichts, ich mag mich nicht ein­mal um­brin­gen: es ist zu lang­wei­lig!

O Gott! in dei­nes Lich­tes Wel­le,

In dei­nes glüh’n­den Mit­tags Hel­le,

Sind mei­ne Au­gen wund ge­wacht.

Wird es denn nie­mals wie­der Nacht?«

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