Volk Gottes

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Aus der Reihe: Bonner dogmatische Studien #58
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3. Beispiele für die ekklesiologische Diskussion im Übergang zur Nachkonzilszeit: „Volk Gottes“ bei Yves Congar, Karl Rahner und Hans Küng

Ziel dieses Kapitels ist es, die im Konzil zum Ausdruck gebrachte Veränderung der Ekklesiologie am Beispiel des „Volk Gottes“-Begriffs in den systematischen Ansätzen dreier Theologen zu illustrieren. Alle drei gehören vor dem Konzil zu den Befürwortern einer Erneuerung der Lehre von der Kirche und haben diese durch ihre Arbeit beeinflusst. Yves Congar ist so maßgeblich an der Entstehung des Textes von „Lumen gentium“ und anderer Konzilsdokumente beteiligt, dass einige Bischöfe am Ende des Konzils ihm gegenüber äußern, das Konzil sei zu weiten Teilen sein Werk gewesen.443 Karl Rahners Beitrag dürfte von ähnlich großer Bedeutung sein. In Bezug auf die Kirchenkonstitution ist er seit Beginn des Konzils in alle wichtigen Kommissionen und Diskussionen eingebunden und als Hauptverfasser des sog. „Deutschen Schemas“ entscheidend an der Etablierung des „Sakraments“-Begriffs beteiligt. Hans Küng, der als Peritus dem Konzil beiwohnt, plädiert vor und während des Konzils energisch für eine Erneuerung der Kirche und wird durch seine Veröffentlichungen und Vorträge für viele zu einer „Symbolfigur für das Konzil“444. Congar, Rahner und Küng sind Theologen des Übergangs. Durch ihre Veröffentlichungen in der vorkonziliaren Phase haben sie, teils unter argwöhnischer Beobachtung, zum ekklesiologischen Neuaufbruch beigetragen, diesen auf dem Konzil mitgestaltet und durch ihre Kommentierung des Konzils Impulse für die weitere theologische Entwicklung und Rezeption des Zweiten Vatikanums gesetzt. Die folgenden Ausführungen beschäftigen sich mit der Frage, wie Congar, Rahner und Küng „Volk Gottes“ als Schlüsselbegriff der Kirchenverständnisses in ihrem Werk vor, während und in der unmittelbaren Zeit nach dem Konzil verwenden und beurteilen. In der Unterschiedlichkeit mit der dies geschieht, sind die Anlagen für die vielstimmige und heterogene Rezeption des Kirchenverständnisses in den folgenden Jahrzehnten bereits zu erkennen.

3.1 Yves Congar

Der Beitrag Yves Congars zur Dogmatischen Konstitution „Lumen gentium“ ist von entscheidender Bedeutung für die Endfassung des Textes. Congar wird als theologischer Berater bereits 1960 zur theologischen Kommission eingeladen, die mit der Vorbereitung des Schemas „De ecclesia“ befasst war und nimmt als Peritus des Straßburger Erzbischofs Jean Weber am Konzil teil.445 Seit dem 3. März 1963 gehört er anstelle des ursprünglich vorgesehenen Jean Daniélou zur Redaktionsgruppe, die mit der Neufassung des Kirchenschemas unter der Leitung Gerard Philips’ beauftragt ist.446 Dieser vertraut ihm die Textarbeit am neu gestalteten Kapitel II über das „Volk Gottes“ an. Congar ist nach eigener Darstellung persönlich für die Abfassung der Artikel 9 (Heilsgeschichtliche Sendung des Gottesvolkes), 13 (Einheit und Katholizität des „Volkes Gottes“), 16 (Verhältnis der Kirche zu den Nicht-Christen) und 17 (missionarischer Auftrag der Kirche) von „Lumen gentium“ verantwortlich. Außerdem ist sein Einfluss auf LG 3 und 48 nachzuweisen, welche die Kirche im Erlösungswerk Christi und die eschatologische Dimension der Kirche in der Geschichte behandeln.447

Yves Congar misst dem II. Kapitel der Kirchenkonstitution, wie auch seiner Einfügung in das Gesamt des Textes an dieser Stelle, vor dem Kapitel über den hierarchischen Aufbau der Kirche, eine hohe Bedeutung zu.448 Das Konzil verfolgte damit, so Congars Interpretation, im Wesentlichen drei Absichten. Es wollte zeigen,

„[…] 1. wie sich diese Kirche innerhalb der menschlichen Geschichte aufbaut, 2. wie sie sich gegenüber den verschiedenen Menschen verhält, die an der Fülle des Lebens in Christus, deren Sakrament die von ihm gestiftete Kirche ist, in (je) verschiedener Weise Anteil haben und 3. was allen Gliedern des Gottesvolkes im Hinblick auf die Würde der christlichen Existenz gemeinsam ist, noch vor jeder Unterscheidung von Amt und Stand.“449

Die Auswahl dieser Schwerpunkte in Bezug auf eine vom Konzil vorgelegte Kennzeichnung der Kirche als „Volk Gottes“ spiegelt zu einem guten Teil zentrale Aspekte und Einsichten der ekklesiologischen Forschung Congars aus den dem Konzil vorangehenden Jahrzehnten wieder. Auch wenn Yves Congar keinen eigenen systematischen Traktat zur Ekklesiologie verfasst hat, betrachtet er seine zahlreichen kirchengeschichtlichen und ekklesiologischen Studien als Beitrag zu einer Gesamtschau, die er zu seinem eigenen Bedauern allerdings nie fertigstellen konnte.450 Dieses Vorhaben ist vielleicht auch deshalb nie verwirklicht worden, weil Congar im Laufe seines Lebens mehrfach Akzentverschiebungen in seinen ekklesiologischen Ansätzen vorgenommen hat451 und methodisch bestrebt ist, theologische Fragestellungen im Rahmen ihres jeweils aktuellen Zeitkontextes und im immer neuen Rückgriff auf die Tradition zu durchdenken.452

Vor der systematischen Darstellung der in Bezug auf den Begriff „Volk Gottes“ wesentlichen Gedanken Congars können einige biographische Anmerkungen hilfreich sein453: Yves Congar, geboren 1904, legt bereits in seinem Studium 1926–1931 an der Dominikanerschule Saulchoir (Belgien, später Verlegung der Institution nach Paris) seinen Schwerpunkt auf die Kirchengeschichte und die Ökumene. Der Frage der „Einheit der Christen“ widmet er seine theologische Abschlussarbeit, ebenso seine erste große theologische Studie „Chrétiens désunis“ (1937). 1932 beginnt er seine Lehrtätigkeit als Dozent für Ekklesiologie in Saulchoir. Zudem ist er seit den 30er Jahren in der Katholischen Aktion in Frankreich aktiv.454 Diese Einflüsse haben Auswirkungen auf sein theologisches Werk. Das Engagement im ökumenischen Dialog, auch als Delegierter bei zahlreichen ökumenischen Kongressen, konfrontiert ihn mit den ekklesiologischen Ansätzen anderer Konfessionen und ihren Anfragen an eine zu dieser Zeit eher hermetische und apologetische Theologie der katholischen Kirche.455 Die Tätigkeit in der Katholischen Aktion führt Congar die konkrete und pastorale Dimension kirchlichen Tuns vor Augen. Angesichts des großen Einsatzes der Laien für die Kirche fragt er nach ihrem Platz in einer weitgehend durch hierarchische Strukturen dominierte Kirche. Congar ist, ganz im Geist der 20er und 30er Jahre, Repräsentant des erwachenden neuen kirchlichen Lebens, gerade in den Jugendbewegungen. Er ist ein begeisterter Leser der „Einheit“ J.A. Möhlers und Verfechter des neuen Kirchenbildes unter dem Leitbegriff des „Leibes Christi“.456 Dieser Begriff wird, so Cornelis van Vliet, für Congar deshalb besonders wertvoll, weil er zu einem Motiv der Laienfrömmigkeit und der christlichen Gemeinschaft durch die Zugehörigkeit zu Christus als dem Mittler des göttlichen Lebens geworden ist und mit dem Modell der „Inkarantion“ die „Fleischwerdung“ des christlichen Glaubens im täglichen Leben des Christen in den Mittelpunkt stellt.457 In einem Beitrag für ein katholisches Jugendmagazin empfiehlt Congar 1938 in diesem Sinn eine Neuentdeckung der Kirche aus den Quellen des kirchlichen Lebens heraus, zu denen er das tägliche christliche Handeln, die brüderliche Gemeinschaft der Christen und das Studium der Kirchenväter zählt.458 Congars Betätigung als Kirchenhistoriker und Patristiker, wie auch sein waches exegetisches Interesse wecken seinen Sinn für die geschichtliche Dimension und Wandlungsfähigkeit der Kirche. Die Geschichte ist für ihn ein Erkenntnisort der Theologie.459

Aus diesen kurzen Anmerkungen wird bereits deutlich, wie sich Yves Congar um eine Neubelebung der katholischen Ekklesiologie bemühen möchte, die aus den von ihm attestierten theologischen Engführungen seit dem hohen Mittelalter ausbrechen kann. Im Zuge der gregorianischen Reform und des Kampfes gegen schismatische Strömungen und Irrlehren habe sich die Kirche, so Congar, zu stark auf ihre äußere Struktur, ihre juridische und hierarchische Seite beschränkt und einseitig den Begriff der Gesellschaft im Sinne der „societas perfecta“ in den Vordergrund gestellt.460 Congar formuliert als einen zentralen Vorwurf, dass „die aus der Scholastik hervorgegangene Theologie an der Kirche kaum mehr als die Wesensstruktur untersucht [habe] und sehr wenig das Leben“461. Eine Überarbeitung der Ekklesiologie und ihre Öffnung auf bislang weniger beachtete Themen sind daher notwendig. In seiner programmatischen Schrift über die wahre und falsche Reform in der Kirche, zu deren aufmerksamen Lesern auch Papst Johannes XXIII. gehört haben soll462, stellt er vier Bedingungen für eine gelingende Erneuerung der Kirche vor: 1. Primat der Liebe und der Pastoral (Reformen entspringen pastoralen Fragestellungen und Notwendigkeiten), 2. Bewahrung der Einheit („sentire cum ecclesia“ und Suchen des Ausgleichs mit der Hierarchie anstelle von Spaltung), 3. Geduld und Dialog mit den Reformern, 4. eine wirkliche Erneuerung durch den Rückgriff auf die Grundlagen und die Tradition, nicht durch die Adaption einfacher „Neuheiten“ Einzelner.463 Diese Prinzipien sind für das Werk Congars, wie auch sein späteres Vorgehen auf dem II. Vaticanum leitend. Es sucht von den Quellen her neue Ansätze einer zeitgemäßen Ekklesiologie, die aber behutsam und mit Rücksicht auf die Tradition und das Lehramts eine schrittweise Fortentwicklung der Lehre zum Ziel haben.464

Im Folgenden soll nun der Denkweg Yves Congars in Bezug auf die Verwendung des „Volk Gottes“-Begriffs dargestellt werden. Dabei stehen die von ihm für „Lumen gentium“ genannten Schwerpunkte im Vordergrund (s.o.): 1. Der (heils-)geschichtliche Ort der Kirche, 2. die gnadentheologischen Fragen nach der Heilswirksamkeit und Zugehörigkeit zur Kirche, 3. die Gemeinschaft des Gottesvolkes und seine Gliederung.

 

Einen guten Einblick in das heilsgeschichtliche Denken Yves Congars bietet die 1954 fertiggestellte biblisch-patristische Studie „Das Mysterium des Tempels“465, die nicht weniger als die „Geschichte der Gegenwart Gottes von der Genesis bis zu Apokalypse“ darstellen möchte. Gott zeigt sich in der Offenbarungsgeschichte zugleich als der nahe, sich mitteilende Gott und der transzendente, unverfügbare (15). In dieser Spannung ist auch sein Verhältnis zum Volk Israel zu sehen. Gott ist zeichenhaft in Israel anwesend, etwa in der leuchtenden Wolke, dem Offenbarungszelt oder der Bundeslade, im Gegensatz aber zu den heidnischen Göttern nicht an einen bestimmten Ort zu binden (19–23). Eigentlicher Ort seiner Gegenwart ist sein Volk. Das Volk ist allerdings als Kollektivperson zu sehen. Die Gegenwart Gottes ist noch nicht im Sinne Einwohnung in den Seelen der Einzelnen zu verstehen (24f). Sein Innewohnen ist noch nicht vollständig. Das Volk bleibt auf die Vermittlung des göttlichen Wortes und Willens durch Moses angewiesen (26). Die feste Wohnstätte, der Tempel, in dem die göttliche Herrlichkeit wohnt, ist in erster Linie Gabe Gottes an sein Volk (37). Der Tempel ist mehr als ein Gebäude. Vielmehr werden die Verheißungen des Tempels als Ort der dauerhaften Präsenz Gottes immer auch auf das Haus David, sein Volk bezogen, das er zum Ort seiner eschatologischen Gegenwart erwählt. Der Messias als endzeitlicher König des Volkes ist gleichzeitig Mittler des Heiles (37, 40ff). Der salomonische Tempel ist zunächst Menschenwerk, das dann in einem souveränen Akt von Gottes Präsenz erfüllt wird (55f). Dieser Tempel wird zum Ausdruck der Verbindung Gottes mit seinem Volk. „Eine vollkommene Transzendenz gibt sich in einer vollkommen menschlichen Geschichte kund“ (56). Die menschliche Geschichte ist frei, aber doch ganz von Gottes Willen und seiner Gnade abhängig (57). Die prophetische Kritik verdeutlicht diese unverfügte Souveränität Gottes. Angesichts der Untreue des Volkes kann Gott seine Herrlichkeit entziehen. Er will sie im neuen, vollkommenen Tempel und im erneuerten und reinen Volk endzeitlich wieder neu und endgültig etablieren (68f, 71, 73). In dieser Endzeit werden Königtum, Tempel und Volk zu einer Wirklichkeit der göttlichen Herrschaft neu zusammengeführt (66f, 74, 76f) Dies wird das Werk des Messias sein (77). Zugleich wird hierbei die Festlegung auf die Grenzen des Volkes Israels in eine universelle Sendung Gottes zur ganzen Menschheit aufgehoben. Die Bildung des neuen Gottesvolkes entsteht über die ethnischen Grenzen hinweg aus dem Glauben als individueller Gabe Gottes (82f).466

In Jesus Christus tritt die entscheidende heilsgeschichtliche Wende ein. In Bezug auf den Tempel findet eine Umdeutung statt, die sich in besonderer Weise in der Szene der Tempelreinigung zeigt. Jesus spricht hier vom „Haus für alle Völker“ und hebt damit die Grenze zwischen dem Vorhof der Heiden und dem der Juden auf. Zudem propagiert er den innerlichen Kult einer neuen Hinkehr zu Gott und deutet sein eigenes Leben auf das Schicksal des Tempels hin. Neuer Tempel und damit Ort der göttlichen Präsenz Gottes in seinem Volk ist der „Leib Christi“ (129, 139). Das NT illustriert dies in der Schilderung der Leidensgeschichte: In der Kreuzigung wird ein neues Heiligtum außerhalb der Stadt errichtet (125). Das Allerheiligste des Tempels ist durch das Zerreißen des Vorhangs nun allen zugänglich. Das System der Vermittlung durch die Priester entfällt (137). „Das Neue und Entscheidende, das sich in Jesus Christus vollendet, hat also alle Formen der Gegenwart Gottes in seinem Volk ersetzt und somit hinfällig gemacht: durch sein Wort, durch seine Herrlichkeit, in der Wohnung des Zeltes oder des Tempels“ (129). „Jerusalem ist nunmehr überall, wo man im Glauben an Jesus Christus und im Gehorsam für den Willen des Vaters, sowohl in der Kirche, dem Leib Christi, als auch im Geist und in der Wahrheit weilt“ (126). Die Christen haben als Priester unmittelbaren Zugang zu Gott (137f). Aus dem Mysterium Christi entspringt somit das Mysterium der Kirche. In Tod und Auferstehung Jesu „ist die Menschheit gerettet, verwandelt, zu einem neuen Leben gebracht [..]“ (145). Als zweiter Adam gründet Christus die Menschheit neu. Analog zum Lebensatem Adams, geschieht das Einhauchen des Lebens hier durch den Heiligen Geist (147, 173).467 Zur Einfügung in den „Tempel aus lebendigen Steinen“ (1 Petr 2,5) braucht es die individuelle Hinwendung zu Christus in Glaube und Taufe und die gnadenhafte Verbindung zu ihm in der Eucharistie (168f, 186). Hierin erfüllt sich der göttliche Plan, „in allen durch einen einzigen zu wohnen“ (173). Die Kirche als „Leib Christi“ tritt nach außen geschichtlich in Erscheinung, ist wie eine Person in eine konkrete Lebenssituation, die Weltgeschichte hineingestellt (149, 181f). Die Kirche drückt ihr inneres Leben durch äußere Handlungen und Zeichen, durch ihre Lehrtätigkeit und Organisation aus (178).

Christus, als das „Omega“ Abschluss der endzeitlichen Verheißung Gottes, ist das „Alpha“ der erneuerten Schöpfung geworden und führt sie ihrem Ziel entgegen (191). Die Offenbarung des Johannes verdeutlicht diese Dynamik, indem sie gleichzeitig den himmlischen Tempel der vollendeten Herrschaft Gottes und die streitende Kirche in ihrem Kampf für das Reich Gottes und gegen die Mächte seines Gegenreiches zeigt (193). Die irdische und göttliche Sphäre haben wechselseitigen Einfluss aufeinander (198f).468 Die Vollendung findet die Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen am Ende ihrer Pilgerschaft (204) darin, dass sie selbst zur Wohnung Gottes wird. Der endzeitliche Tempel Gottes ist Jesus Christus und die Gläubigen in ihm (204, 214). Die Kirche vollzieht in der Heilsgeschichte den inkarnatorischen Weg Jesu nach und legt auf dem Weg zur Vollendung das Fleischliche und Sündige ab, um im neuen Leben aufzuerstehen (209).

Yves Congar versteht die Heilsgeschichte als eine Geschichte der sich verdichtenden Einwohnung Gottes in der Menschheitsgeschichte.469 Von diesem Gedanken her erkennt er im Christusgeschehen den entscheidenden Bruch innerhalb der Geschichte. Während Israel als Volk Gottes eine Beziehung zu Gott pflegt, die immer auf Vermittlung und Zeichen angewiesen bleibt (die Gegenwart Gottes aber unverfügbar und frei ist), geschieht die unumkehrbare Bindung Gottes an die Menschen durch seine Einwohnung im Heiligen Geist und die Inkorporation in den „Leib Christi“.470 „Die Geschichte Israels ist eine rein menschliche – man könnte sagen, profane – Geschichte, in die der transzendente Gott eingreift. Die Ordnung nach der Inkarnation ist grundverschieden.“471 Jesus vereinigt das heilige Volk Israel mit den profanen Völkern, um sie zu einem Leib zu machen.472 Daher widerspricht Congar den Vorstellungen einer einfachen Kontinuität zwischen Israel und der Kirche, als sei die Kirche nicht mehr als ein universal erweitertes und messianisch beschenktes Israel.473

„Infolge der Inkarnation gibt es nunmehr in der Welt eine geheiligte Tatsache: den Leib Christi. Wohl war Israel geweiht (Ex 19,5–6) und dadurch heilig, wie es seit dem persönlichen Kommen Gottes der Leib Christi ist, in dem Er wohnt. Dieser Leib ist die einzig heilige Tatsache in dieser Welt, die einzige, die, der Welt entnommen, ontologisch verändert wurde, obgleich sie während des Harrens der Schöpfung auf die Offenbarung der Kinder Gottes (Röm 8,19; 1 Joh 1,1–3) die äußere Erscheinung der Dinge noch behält.“474

Das Christusereignis als zentraler Bezugspunkt von dem her die Geschichte der Kirche betrachtet werden muss, spielt für Congar zweifellos eine entscheidende Rolle.475 Somit kommt es zu Yves Congars zentraler Aussage, dass die Kirche mit dem Begriff „Volk Gottes“ unvollständig beschrieben ist.476 Das in Christus begonnene Neue kommt im Begriff des „Leibes Christi“ zum Ausdruck. Die christologische Verortung der Kirche ist allein in diesem Begriff voll ausgesagt. In der Kennzeichnung der Kirche kann vom „Volk Gottes“ nicht ohne Bezug zum „Leib Christi“ gesprochen werden.477 Dies bringt Congar mit Blick auf das zweite Kapitel von „Lumen gentium“ wie folgt zum Ausdruck:

„Der hl. Paulus hat sich nicht damit zufriedengegeben, dem aus dem Judentum übernommenen Begriff ‚Volk Gottes‘ einfach nur das Attribut ‚Leib Christi‘ hinzuzufügen. Sondern gerade in den Wesensbegriff, den er anwandte, wenn er von der Kirche sprach, hat er den Gedanken des Leibes Christi eingeführt. Und das war notwendig, um sich darüber klar zu werden, was das Volk Gottes nach der Menschwerdung, nach Ostern und Pfingsten geworden war, es war wirklich der Leib Christi. Und so allein besitzt es die ihm angemessene christologische Beziehung.“478

Trotzdem bleibt der „Volk Gottes“-Begriff als Bezeichnung der Kirche von hohem Wert. Gerade die geschichtliche und universale Dimension der Kirche lässt sich in Anlehnung an Israel durch diesen Begriff verdeutlichen. Es ist ein Vorteil durch ihn, „Israel mit einzuschließen und die Kontinuität der Kirche mit dem von Gott unter dem Alten Bund vollzogenen Werk auszudrücken, in dem der Grundstein der Kirche gelegt wurde.“479 Der Begriff führt, so Congar, gewissermaßen ein „dynamisches Element“ in die Betrachtung der Kirche ein.480 Indem die Kirche als „messianisches Volk nach der neuen und endgültigen Bundesordnung“481 mitten in der Welt und Geschichte von Gott Zeugnis gibt und in seinen Zeichen die gnadenhafte Zuwendung Gottes verdeutlicht, wird sie „gleichsam das allen Menschen angebotene Heilssakrament“482. Dabei steht die Kirche als „Volk Gottes“ in der Spannung zwischen ihrer idealen Verwirklichung und ihrer jeweils fehlbaren geschichtlichen Gestalt.483 Sie bleibt im Kampf bzw. in der Pilgerschaft auf dem Weg zu ihrer Vervollkommnung.484 Sie bleibt in der heilsgeschichtlichen Spannung zwischen der bereits eingetroffenen Erlösung durch Christus und der ausstehenden Vollendung im Reich Gottes.485 Im Hinblick auf das II. Vaticanum ist Congar daher überzeugt, dass im neuen Schema über die Kirche einem heilsgeschichtlichen Prolog „Ausführungen zum Volk Gottes [folgen sollen], das als alt- wie neutestamentliches Bild das bevorzugteste sein müsse.“486

Die heilsgeschichtliche Bedeutung des „Volkes Gottes“ ist nicht von seiner gnadentheologischen zu trennen. Dieser Aspekt, der vor allem in LG 13 und in der Frage des Verhältnisses der Nicht-Katholiken zum Gottesvolk (LG 14–16) und dem Missionsauftrag der Kirche in LG 17 einen Schwerpunkt der Kirchenkonstitution bildet, wird in Congars Theologie an verschiedenen Stellen vorbereitet. Hier können nur einige Hinweise auf seine Anwendung des „Volk Gottes“-Begriffs in diesem Zusammenhang gegeben werden: Wie gesehen, versteht Yves Congar die Heilsgeschichte als Geschichte der zunehmenden Einwohnung Gottes und damit seiner zunehmenden gnadenhaften Präsenz. Von der ursprünglichen Einheit der Schöpfung und der Menschheit geht es nach der babylonischen Zerstreuung im Plan Gottes um die Sammlung und Zusammenführung der ganzen Menschheit im endzeitlichen Reich Gottes.487 Israel als „Volk Gottes“ ist Zeichen der Präsenz Gottes für die anderen Völker. In eschatologischer Perspektive spricht das Alte Testament von der Sammlung aller Völker um das wahre Israel.488 Im Pfingstereignis wird diese Zusammenführung der Völker unter der von nun an einzigen und endgültigen Gnadenvermittlung Gottes im „Leib Christi“, dem neuen Gottesvolk, praktisch vollzogen.489 Das Werk Gottes zur Vereinigung der Menschheit ist in der Geschichte fortan das Werk der Kirche. Ihr ist von Jesus Christus der Missionsauftrag zur Verkündigung des Evangeliums und der Sammlung des Gottesvolkes gegeben.

Yves Congar nähert sich der Frage einer möglichen Heilszugehörigkeit der Nicht-Katholiken mit großem Bedacht. In der Auseinandersetzung mit der biblischen Botschaft verweist er auf die alttestamentlichen Zeugnisse der „Gerechten“, die nicht formal dem Volk Israel angehörten, ihm wohl aber der Gnade nach zugeordnet werden können. Ihnen wird der Glaube und eine Zuordnung zum göttlichen Heilsplan attestiert, außerdem ein moralisches Verhalten, dass den Maßgaben Gottes entspricht.490 Ähnliche Beispiele finden sich auch im Neuen Testament.491 Congar sucht zudem nach patristischen Belegtexten, die von der Möglichkeit eines außerkirchlichen Heils sprechen.492 Auch wenn er betont, dass das Konzil zu diesen Fragen nur vorsichtige Aussagen macht, bleibt gerade durch den „Volk Gottes“-Begriff die Offenheit für eine außerkirchliche Heilsvermittlung bestehen. Die Perspektive der Kirchenkonstitution ist, so Congar, in dieser Frage eher die der Offenbarungsgeschichte, die sich in den konkreten Heilsgemeinschaften Israels und der Kirche zeigt. Die gnadentheologischen Optionen, die der „Volk-Gottes“-Begriff bietet, sind daher bloß angedeutet.493

 

Mit Bezug auf „Lumen gentium“ äußert Congar, dass das „Volk Gottes“ „de iure“ deckungsgleich mit der Menschheit ist, allerdings nur in seiner konkreten geschichtlichen Verfassung als solches bezeichnet werden kann.494 Der „Volk Gottes“-Begriff bietet in der gnadentheologischen Fragestellung insofern einen guten Anknüpfungspunkt, als dass das alttestamentliche Israel auf die unverfügbare Zuwendung Gottes angewiesen ist, also von vermittelten Elementen der Gnade lebt. Die Kirche als „Leib Christi“ ist der Gnadenraum des Heiligen Geistes selbst.495 Die Zugehörigkeit zum „Leib Christi“ ist für Congar an Glaube, Taufe und Eucharistie gebunden.

Congar rechnet aufgrund des Zeugnisses der Schrift und der Kirchenväter mit einer göttlichen Heilswirklichkeit auch außerhalb der Kirche. Das Diktum „extra ecclesiam nulla salus“ wird laut Congar missverstanden, wenn es als Aussage über die Heilsmöglichkeit der Nicht-Katholiken gelesen wird. Vielmehr handelt es sich hierbei um eine „Aussage über die exklusive Bedeutung der katholischen Kirche als einer im göttlichen Auftrag handelnden Einrichtung, um allen Menschen das Heil in Jesus Christus zu verschaffen.“496, also um eine Definition der Kirche als Institution.

„Lumen gentium“ öffnet für Yves Congar gerade durch den „Volk Gottes“-Begriff die Möglichkeit zu einer erneuerten Sichtweise. In einer universalistischen und dynamischen Perspektive wird die Frage nach der Einheit der Menschheit als „Volk Gottes“ gestellt.497 Hinsichtlich der Nichtkatholiken verwendet das Konzil eine neue Terminologie, indem es in Bezug auf die anderen christlichen Konfessionen von einer wirklichen, wenn auch noch unvollkommenen Einheit mit der katholischen Kirche spricht, hinsichtlich der Nicht-Christen von einer Hinordnung und Beziehung zum „Volk Gottes“.498 Congar weist darauf hin, dass die Kirche nur Sakrament des Heiles sein kann, sofern sie auch „Volk Gottes“ ist. Dies bedeutet für ihn, dass der göttliche Heilsplan zur Rettung der Menschen nicht auf eine Institution beschränkt ist.

„It is the People of God that transmits through the world the offer of grace and of the Covenant; it is the community of the Christians united to their pastors that is the sign and the instrument of the ‘dialogue of salvation’, a dialogue which transpires within the framework of the People of God through the use of the objective means of salvation […]“499

Mit dem dritten Themenkreis, der Gemeinschaft der Gottesvolkes und seiner Gliederung, wird ein zentrales Anliegen Yves Congars aufgenommen. Auch durch seinen Einsatz in der Katholischen Aktion angeregt500, beschäftigt sich der Dominikanertheologe intensiv mit der Rolle der Laien in der Kirche. In seinem Hauptwerk zur Theologie des Laientums weist er bereits 1952 darauf hin, dass es zur Verortung des Laien in der Ekklesiologie einer neuen Gesamtschau auf die Kirche bedarf, „in die das Geheimnis der Kirche in allen Erstreckungen, bis hin zum vollen Einschluss des Laientums als kirchlicher Wirklichkeit aufgenommen ist“ (13f). Der dogmatische Traktat von der Kirche müsse unter dieser Hinsicht neu geschrieben werden (58).501 Eine verkürzte Theologie habe bislang hauptsächlich das Amt in den Vordergrund gestellt (14) und den Laien eine allzu passive Rolle zugewiesen bzw. sie gar nicht beachtet (80f). Eine klerikale Kirche entspricht allerdings nicht der Wirklichkeit des „Volkes Gottes“ (14). Bereits zu Beginn seines Werkes verweist Congar auf diesen Begriff als Ausdruck einer erweiterten Sicht auf die soziale Wirklichkeit der Kirche. Dies hat zunächst mit der formalen Kennzeichnung des Laien als Angehörigem des „heiligen Volkes Gottes“ („λαος Θεου“) zu tun (21). Darüber hinaus deutet der Begriff auf die gemeinschaftliche Dimension der Kirche. Diese ist zunächst eine Gemeinschaft von Personen, Gemeinschaft des auserwählten Volkes (52f), „Lebensgemeinschaft der Menschen mit Gott und aller einzelnen untereinander in Christus“ (52).502 In Christus bildet sich das neue Israel, das messianische Gottesvolk (56). Zu diesem gehören als konstitutive Elemente die Offenbarung des trinitarischen Geheimnisses und des Reiches Gottes, ebenso Taufe und Eucharistie, welche die neue Lebensgemeinschaft mit Christus ermöglichen. Zudem ist die Berufung der Apostel formgebend für die Gemeinschaft, da sich von ihr her Amt und Vollmachten der Kirche ableiten (56f).

Kirche und Welt haben das gleiche Ziel: die Vollendung im Reich Gottes (150f). Dabei trägt die Kirche die Quellen der Erneuerung und Vollendung bereits in sich: die königliche, priesterliche und prophetische Gewalt Christi und den Heiligen Geist. Sie arbeitet so bereits am Aufbau des Reiches Gottes mit (151) und wird zum „Organ Gottes“, zum „Samen“ und zur „Keimzelle“ (153). Dabei tragen die Gläubigen durch „Gebet, Teilnahme an den messianischen Ämtern und die tätige Gegenwart des Heiligen Geistes und seiner Gaben“ Wesentliches zum Werk der Kirche bei (151). Congar widmet sich ausführlich der Frage nach dem gemeinsamen Priestertum der Gläubigen (197ff, 201–218). Dieses gemeinsame Priestertum entfaltet sich im Opfer der Gläubigen (Hinwendung zu Gott, Lobpreis), im moralischen und sakramentalen Sinn (heiligmäßiges Leben), sowie im Gebet (208f).503 Der Christ hat durch seine „Taufweihe“ Anteil an diesem Priestertum (212).

„Volk Gottes“ ist für Congar demnach besonders geeignet, die gemeinschaftliche Dimension der Kirche zum Ausdruck zu bringen. Die Balance zwischen Gemeinschaft (communio, congregatio) und Gesellschaft, grundlegender Einheit der Gläubigen und ihrer hierarchischen Struktur wird von Congar im Laufe der Zeit immer wieder neu ausgelotet.504 Zugleich betont er, dass die Begriffe „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ zu einem verzerrenden soziologischen Verständnis der Kirche beitragen können. Daher ist es Congar wichtig, die Ekklesiologie unter einem theologischen Gesichtspunkt zu betrachten, um das Spezifische der Unverfügbarkeit und der gnadenhaften, inneren Dimension der Kirche zum Ausdruck zu bringen.505 Die Basis der Kirche bilden Menschen, die sich dem Anruf Gottes öffnen und die Gemeinschaft der Gläubigen bilden.506 Hervorgehoben wird zunächst die fundamentale Gemeinsamkeit der Gläubigen, die bei gleicher Würde mit unterschiedlichen Gaben und Charismen beschenkt und in verschiedenen Funktionen in der Kirche tätig werden.507 Congar hält für diese Aussage die biblischen Bilder von „Volk Gottes“ und „Leib Christi“ in gleicher Weise für geeignet.508 Gegenbild ist die „societas“ in ihrer Engführung auf die hierarchische, zuweilen auch „übernatürliche“ Gesellschaft“.509 Daher beurteilt Yves Congar die Einfügung des zweiten Kapitels in „Lumen gentium“ auch als entscheidenden Schritt des II. Vatikanums. Das Konzil ordnet mit der von ihm gewählten Reihenfolge der Kapitel die Ontologie der Gnade und die Realität der christlichen Existenz der hierarchischen Ordnung vor.510 Dabei widersteht es der Versuchung einer rein sozialen Beschreibung der Kirche511, eine Gefahr, die laut Congar bei der ersten Fassung des Philips-Schemas noch gegeben war.512 Hier ist wohl der besondere Wert des theologischen „Volk Gottes“-Begriffs bei Congar zu sehen. Er lässt die heilsgeschichtliche und gnadenhafte Dimension der Kirche, wie auch ihre soziale Grundgestalt gleichermaßen anklingen.513

Abschließend sei noch auf zwei Aspekte hingewiesen, die sich für Congar mit der Verwendung des „Volk-Gottes“-Begriffs verbinden und für die Zukunft der Kirche fruchtbringend sein werden. Zum einen verweist er auf die Anschlussfähigkeit des Begriffs im ökumenischen Dialog. Durch die starke Rezeption des Begriffs im Protestantismus kann „Volk Gottes“ eine Brücke zum Kirchenverständnis anderer Konfession bauen. Dabei spielt etwa der Gedanke der Berufung und Erwählung eine wichtige Rolle. Durch die Betonung des freien Gnadenhandeln Gottes, der gemeinsamen Basis der Gläubigen und den Blick auf die charismatische Begabung der Einzelnen wird die Kirche zunehmend als Ergebnis des göttlichen Gnadenhandelns in der Geschichte verstanden. Damit gewinnt die Kirche eine stärker biblische Orientierung für ihre Selbstbeschreibung.514 Sie bietet eine Öffnung für ein geschichtliches Bewusstsein, das ihre eigene Reformierbarkeit und partielle Unvollkommenheitheit einschließt.515 Der „Volk Gottes“-Begriff hilft so, einen starken Institutionalismus und die Vorstellung einer statischen, unfehlbaren Gesellschaft zu überwinden.516

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