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Reise zur deutschen Front

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Noch eine kurze Fahrt und ich bin am ersten Ziel meiner Reise, im Großen Hauptquartier. Auf dem Bahnhof ein liebenswürdiger Empfang. Es ist sieben Uhr abends. Für acht Uhr bin ich zur kaiserlichen Tafel geladen.

Das Wetter will sich klären. Der Regen hat aufgehört. Helle Sterne glänzen aus den Wolkenklüften, während ich den großen, stillen Bahnhofplatz überschreite. Ein Automobil mit Offizieren saust vorüber, und wie langgestreckte Lichtvögel flattern die Scheinbündel der Autolaternen in die Finsternis. Schlagbäume und Schilderhäuschen in den deutschen Farben leuchten auf, Wachen schreiten hin und her, und überall ist ein leises Klirren, ein Gefunkel von Metall.

Hinter dem laublosen Astgewirre hoher Bäume strahlt eine Reihe von erleuchteten Fenstern.

3

17. Januar 1915.

Zwischen den hohen Bäumen eines stillen Parkes steht eine schmucke Villa. Ihre Besitzer sind geflohen, als das deutsche Heer erschien und das französische sich auch auf die Socken machte. Es waren wohlhabende Leute, die stolz waren auf ihr Haus; das merkt man schon am Äußern des Baues, an der Gepflegtheit des Parkes, den jetzt eine schweigsame Nacht umträumt, und an der etwas großtuenden Freitreppe, auf der jetzt im Flackerschein der Laternen zwei regungslose Schildwachen mit blanken Klingen stehen. Und es waren Leute, die es liebten, an regenreichen und stürmischen Winterabenden behaglich am Kamin zu sitzen und amüsant zu plaudern, vielleicht nach etwas altmodischem Stil, so ähnlich, wie Konversation in einem Lustspiel von Scribe oder Pailleron gemacht wird; das vermutet man beim Anblick der Räume, deren Komfort eine wunderliche Mischung von gutem Geschmack und provinzialer Anbequemung zeigt, von ererbter Gediegenheit und wahllos Gesammeltem.

Diese Leute, die nicht mehr da sind und irgendwo im Süden von Frankreich sitzen, in Bordeaux oder bei Nizza, denken wohl in ruheloser Sorge an ihr verlassenes, unbeschütztes Haus und glauben es verwüstet durch alle »Barbarengreuel«, die sie in ihren Journalen als Zugabe zu jedem Frühstück genießen. Ihre Sorge ist ein Irrtum, ist eine von jenen halb grauenhaften und halb lächerlichen Verzerrungen der Wahrheit, wie sie rings um unsere Grenzen üblich wurden, »seit Deutschland diesen schaudervollen Krieg über die ganze Welt heraufbeschwor« – so sagen unsere Feinde, obwohl sie es besser wissen. Das Haus dieser entflohenen Leute – statt »entflohen« gebraucht man hier in Frankreich die mildere Wendung »abgereist« – dieses Haus, das sie aller Verwüstung ausgesetzt vermuten, ist in Wahrheit sorglicher behütet, als sie selbst es vor jedem Vernichtungsschreck des Krieges hätten behüten können, wenn sie geblieben wären. Denn unter diesem verlassenen Dache, in dessen Räumen jetzt aus allen Richtungen der Erde die Fäden eines großen Weltgeschehens zusammenlaufen, wohnt heute der Deutsche Kaiser, der Führer unseres in Begeisterung und Lebenstrotz geeinten Volkes, der oberste Kriegsherr unseres siegreichen Millionenheeres, das der deutschen Heimat erspart, was unsere Feinde unter den Schlägen des von ihnen entfesselten Krieges zu leiden haben.

Zwischen den Mauern dieses stillen, gutbehüteten Hauses ist nichts von einem großzügigen Hofhalt zu gewahren. In dieser ernsten Zeit ist auch das Leben des Kaisers von feldmäßiger Schlichtheit, ist wie gekleidet in ruhiges, unauffälliges Feldgrau.

Die wenigen Gäste der Abendtafel versammeln sich in einem kleinen Empfangsraum. Schon das begrüßende Wort, das jeder Kommende mit den schon Anwesenden tauscht, ist der Beginn eines lebhaft bewegten Gespräches über die jüngsten Vorfälle des Krieges, über den verheißungsvollen Stand der Dinge im Osten, über den Fortschritt im Westen.

Nun verstummt das Gespräch, und man tritt von der Türe zurück, die ein Diener öffnet.

Heftig schlägt mir das Herz unter dem Touristenkittel, schlägt mir vor Erregung fast bis an den Hals herauf. Aller Wirbel meiner Gedanken drängt auf die Frage hin: »Wie wird der Kaiser aussehen, was werde ich lesen können aus seinen Zügen, was wird herausklingen aus seinen Worten, was werde ich fühlen müssen unter dem Blick seiner blanken Augen, jetzt, in dieser Zeit des Ringens, in der jedes deutsche Herz sich sehnt nach dem aufrichtenden Orakel eines Wissenden, nach einem Halt und einer Stütze in jenen beklommenen Minuten, die heute auch dem Gläubigsten und Vertrauensvollsten nicht völlig erspart bleiben können?«

Es war mir seit einem Jahrzehnt vergönnt, den Kaiser zu sehen in manch einer heiteren Stunde des Friedens, den er liebte und bis zum äußersten zu erhalten suchte, er, der diese Friedensliebe durch ein Vierteljahrhundert in zahllosen Taten der Versöhnlichkeit und des Entgegenkommens erhärtete, und den unsere Feinde jetzt in grotesker Gehirnverwirrung als Friedensstörer und Eroberungslüstling bezeichnen, als Hunnenmogul und zweiten Attila.

Immer hab ich am Kaiser das von jedem Schwanken freie Gleichmaß seiner aus Ernst und Frohsinn gemischten Art verehrt und bewundert, habe mich erfreut an dem klaren Seelenspiegel seines Blickes, an der temperamentvollen Offenheit seines Wortes, an seinem kräftigen Lachen, an der freien Menschlichkeit und Frische seines persönlichen Wesens, wie an der gesunden Innerlichkeit, die ihm eine besonnene, für jeden deutschen Bürger vorbildliche Lebensführung und sein unerschütterliches Vertrauen auf Gott, Welt und Menschen bis über die Reife des Mannesalters bewahrte. Mein Glaube an den Kaiser als Menschen vermittelte mir auch immer das Verständnis seiner Eigenart als Herrscher. Ich meine, das ist so unter dem Kronreif: Ganz ein Mensch bleiben, heißt ganz ein Fürst werden.

Aber jetzt? Wie viel Hartes, wie viel gewaltsam Formendes mögen diese fünf Monate seit Kriegsbeginn über den Kaiser gebracht haben, an Verantwortung, an Gewissenskämpfen, auch an schmerzvollen Enttäuschungen? Was hat die Last und das Gewicht dieses Weltaufruhrs ihm gegeben, was ihm genommen? In dieser Zeit, in der die widersinnigsten Gerüchte – aus Haß oder Liebe, aus Furcht oder Hoffnung geboren – so unzählbar aufschnellen, wie die Heuschrecken aus dem Kraut einer Sommerwiese – in dieser letzten Zeit hab ich oft erzählen hören: das Haar des Kaisers wäre weiß geworden, sein Gesicht und seine Haltung um Jahre gealtert. Ich habe das nie geglaubt. Gesunde und starke Bäume erfüllen ihre Zeit, trotz Sturm und Ungewitter. Und dennoch muß ich bekennen: Jetzt, vor dem Augenblick, in dem ich unter dem dröhnenden Glockenschlage einer über Wohl und Wehe unseres Reiches entscheidenden Zeit, hier, in Feindesland, auf erobertem Boden, den Kaiser des deutschen Volkes sehen sollte, befiel mich etwas Bedrückendes, eine fiebernde Erregung, fast eine quälende Angst. Wie werde ich ihn wiedersehen? Wird die frohe Güte, die immer aus ihm redete, gemindert sein, verwandelt in Zorn und Härte? Werden Mißmut, Zweifel und Sorge aus seinen sonst so gläubigen Augen sprechen? Haben die Fäuste des Geschehens ihn gefaßt, ihn umgemodelt, wie sie es mit vielen machen, die der Widerstandskraft entbehren und sich von den Ereignissen zerren lassen? Hat der heiße Atem des Krieges ihn angehaucht und in ihm geweckt, was nie noch in seinem Innern war? Ist in ihm unter dem Donnerdröhnen des Schlachtfeldes ein Neues entstanden, das man beklagen, vor dem man erschrecken müßte? —

Da tritt er ein, in der feldgrauen Generalsuniform, mit dem gleichen ruhig-elastischen Schritt, den ich immer an ihm gesehen. Wohl wahr: sein Haar, mit der kleinen, trotzigen Welle über der rechten Schläfe, ist seit dem Frühjahr ein wenig grauer geworden, kaum merklich. Und eine Furchenlinie, die ich früher nie gewahren konnte, ist in seine Stirne geschnitten und schattet zwischen seinen Brauen. Aber nur eines einzigen Blickes in diese klaren und offen sprechenden Augen bedarf es – und gleich einer glühenden Welle durchströmt mich der sehnsüchtige Wunsch: es möchten alle Tausendscharen der Deutschen, namentlich jene, in denen Sorge und Bangigkeit zu erwachen drohen, jetzt an meiner Stelle stehen! Dann würden sie in freudiger Ruhe aufatmen, wie ich!

Unter allem Sturm dieser vierundzwanzig roten Wochen ist der Kaiser in jeder Wertlinie seines Wesens der gleiche geblieben – nein, nicht der gleiche, er ist einer geworden, der gewann und nichts verlor. Der Kaiser ist ein durch die Zeit Erhöhter! Man empfindet es vor dem Bilde seiner Würde und Haltung, empfindet es bei seinem ruhigen Lächeln, vor seinem ruhigen Blick. Und bevor ich noch ein erstes Wort von ihm höre, strömt etwas Aufrichtendes in mich über. Ein frohes Gefühl der deutschen Sicherheit ist in mir, erneuter Glaube und erhöhtes Vertrauen. Ich weiß: bei uns ist die Wahrheit, bei uns das Recht, bei uns die Kraft und bei uns der Sieg!

Ob der Kaiser ahnt, was in mir vorgeht? Er sieht mich plötzlich mit einem jener forschenden Blicke an, die in seinen stählernen Augen sein können. Dann nickt er freundlich, reicht mir die Hand und erhöht mir die Freude dieser Minute durch ein ebenso herzliches wie impulsives Lob meiner Landsleute: »Na, Ganghofer, Ihre Bayern! Prachtvolle Leute! Die haben feste und tüchtige Arbeit gemacht! Und vorwärts geht es, überall, Gott sei Dank!« Dann ein Erinnern an die letzte Begegnung im Frühjahr, wo zu Berlin im Palais des deutschen Kronprinzen meine kleine Dorfsatire »Tod und Leben« vor dem Kaiser aufgeführt wurde. Nun schweigt er eine Weile, und sein Lächeln mindert sich und verschwindet. Tief atmend sieht er mir ernst in die Augen und sagt mit einer langsamen und strengen Stimme: »Wer hätte damals ahnen können, was jetzt gekommen ist? Und daß wir uns hier in Frankreich wiedersehen würden? So!« – In einem diplomatischen Aktenstücke, das die deutsche Schuldlosigkeit an diesem Kriege zu dokumentieren hat, können dieser Atemzug, dieser ernste Blick und diese Worte des Kaisers nicht aufgezählt werden. Aber Beweiskraft haben sie. Eine überzeugende.

 

Man geht zur Tafel. Das Speisezimmer ist ein gemütlicher Raum, der mich weidmännisch anheimelt. Von den braunverschalten Wänden blinken die weißen Hauer wuchtiger Eberköpfe herunter – Jagdtrophäen, die in den Argonnen erbeutet wurden.

Nur wenige Diener. Und eine kurze, rasche Mahlzeit. Was zur Tafel kam, das weiß ich nimmer. Der Platz an der Seite des Kaisers und der Kreis seiner zehn Gäste, hoher Würdenträger des Heeres und Hofes, gibt mir so viel Beruhigendes, Erfreuliches und Fesselndes zu hören, daß ich der Mahlzeit völlig vergesse, obwohl ich so hungrig wie ein Wolf aus dem Eisenbahnwagen gekommen war und seit vierundzwanzig Stunden auf jagender Reise keinen verschlingbaren Bissen erwischt hatte. Aber wie feldmäßig einfach die Tafel des Kaisers bestellt ist, beweist eine Speisenfolge, die ich mir an einem anderen Abend als Erinnerung mitnahm. Auf dem kleinen Zettelchen, nicht größer als eine Visitenkarte, steht geschrieben:

11. Januar 1915
Königliche Abendtafel
Gebackene Seezungen
Kaltes Fleisch, Kartoffeln in der Schale
Obst

Dazu als Getränk: französischer Landwein und Wasser. Und Kriegsbrot gibt es. Nur Kriegsbrot! Daran könnte sich mancher bei uns daheim, der unsere Soldaten im Felde kämpfen, leiden, bluten und siegen läßt, mit Strenge und Ungeduld die militärischen Tagesberichte kritisiert und nebenbei nicht die Heldenkraft oder nicht den Willen besitzt, sich die gewohnte Frühstückssemmel zu versagen, ein lehrreiches und mahnendes Beispiel nehmen! Wir müssen lernen, unsere kleinen Liebhabereien beiseite zu schieben, jeden der Allgemeinheit schädlichen Eigennutz aus uns herauszuklopfen und jedes Gefühl, jeden Gedanken und jede Lebenshandlung auf das Ziel einzustellen, das wir für Heimat und Volk erkämpfen müssen.

Alles, was ich an des Kaisers einfacher Tafel sehe und höre, wird mir zur Ursache einer sprunghaften Gedankenteilung. Mit Ohr und Herz bin ich bei jedem Worte, das da gesprochen wird, und bin zugleich in der Heimat, um zu schauen und zu vergleichen. Und immer deutlicher wird es mir, daß manches, was wir Daheimgebliebenen zu denken und zu tun lieben, ganz wesentlich anders werden müßte, wenn wir gleichwertig werden wollen mit jenen, die bei harter Arbeit draußen stehen im Felde.

Nach der Mahlzeit kommt eine ernste, manchmal auch von einem Lachen erhellte Plauderstunde in einem kleinen, netten Wintergarten, wie wir ihn auf der deutschen Bühne schon in vielen französischen Komödien gesehen haben. Zigaretten und kurze Pfeifen brennen, und in Kelchgläsern wird Münchner Bier gereicht. Auf dem Tisch, an dem sich der Kaiser niederläßt, stehen blühender Flieder und Rosen, die ihm die Kaiserin aus Berlin sandte. Alles Gespräch dreht sich um den Lauf der Dinge in der Heimat und um wichtige Episoden des Krieges. Das ist eine wesentlich andere Art, vom Kriege zu sprechen, als wir sie daheim bei unserm Bierbank- und Teetischklatsch zu hören bekommen. Hier wird nicht die Welt geteilt, hier werden nicht Länder genommen und Reiche verschenkt, hier gründet man nicht »Pufferstaaten« und korrigiert nicht die Landkarte von Europa mit einem anspruchsvollen Blaustift. Hier gilt alles Denken nur dem Ernst und den Notwendigkeiten der Gegenwart; von der Zukunft ist nicht die Rede. Unausgesprochen klingt aus allen bedeutsamen Worten, die ich höre, das feste und klare Zeitgesetz heraus: »Erst arbeiten und siegen. Alles weitere wird kommen, wie es kommen muß und wie wir es uns verdienen.«

– Ich gestehe, daß ich da manchmal ein bißchen schamrot wurde. Und in meinem Inneren hab' ich heilig geschworen, niemals wieder in phantastischen Nächten meinen Handatlas durch ausschweifende Linien zu verunreinigen und nebulose Zukunftsgeographie von Mittelafrika zu betreiben. Und während ich hier, in einem hundekalten Stübchen zu Peronne, diesen heißen Schwur mit frierenden Fingern niederschreibe, klirrt unter meinem Fenster der feste Taktschritt deutscher Soldaten vorüber, die zu den Schützengräben marschieren, Automobile rasseln vorbei in sausender Fahrt, und unaufhörlich rollt von der nicht allzu weit entfernten Front das Murren schwerer Geschütze zu mir her. Die gaukelnden Kriegsvorstellungen, die ich aus der Heimat mitbrachte, beginnen sich jetzt unter den harten Wirklichkeitsbildern, die mich bei Tag und Nacht umwirbeln, sehr gründlich zu verändern. —

Jener erste Abend, an dem ich Gast des Kaisers war, bescherte mir auch ein eindringliches Exempel der Art, wie im Großen Hauptquartier gearbeitet wird, bis spät in die Mitternacht hinein. Bevor ich davon erzähle – d. h. erzählend alles verschweige – will ich, man liebt als Poet die Kontraste, dem großen Zeitbilde noch ein niedlich-intimes Lichtchen aufsetzen.

Die Gesellschaft im französischen Wintergarten hat sich nach der Mahlzeit noch um einen schweigsamen, höchst wohlerzogenen Gast vermehrt; das ist ein kleiner schwarzer Teckel mit gescheiten Augen, des Kaisers Lieblingshund, augenblicklich ein bißchen invalide, mit verbundener Pfote; so oft er will, darf er es sich auf dem Schoß seines Herrn bequem oder, richtiger gesagt, unbequem machen; manchmal nimmt er auf des Kaisers Knie höchst schwierige und bedrohsame Stellungen ein, die fast an die Kletterkünste einer Gemse erinnern – und dann muß der Deutsche Kaiser so lange stillhalten, bis es dem zappeligen Teckelchen wieder beliebt, auf den Boden zu springen. Von der rührenden Geduld, die der Kaiser an dieser kleinen Quälkrabbe erweist, läßt sich eine Brücke zu einem tiefen Zug seines Charakterbildes hinüberschlagen. Denn er kann eine bewundernswerte Geduld auch mit Dingen und Menschen haben, die ihn viel gröber belästigen, als es der kleine, nette Teckel zu tun gewöhnt ist.

Gegen die elfte Abendstunde wird für den Kaiser und eine Anzahl hoher Offiziere ein militärischer Vortrag angesagt. Eine Neuheit der Kriegstechnik soll in Projektionsbildern vorgeführt werden, die der begleitende Vortrag eines Offiziers erläutern wird.

Durch die dunkle, schneelose Winternacht wandern die Gäste der stillen Villa zu einem nahen Hause hinüber. Der Himmel ist klar geworden und alle Sterne funkeln. Die kleine Stadt liegt in schwarzem Schweigen, ohne Lichter, wie ausgestorben. Nur ein scharf suchender Blick erkennt die regungslos in der Finsternis stehenden Wachen.

Ein verdunkelter Saal, mit etwa vierzig Stühlen; hinter ihnen ein Vergrößerungsapparat mit elektrischen Schnüren, vor ihnen an der Mauer eine große Leinwand. Fest und gleichmäßig klingt in dem matten Zwielicht die Stimme des vortragenden Offiziers, während Ruck um Ruck eine lange Reihe von Bildern über die Leinwand gleitet. Die ersten sind für mich als Laien eine völlig unverständliche Sache; erst nach einer Weile lehrt das gesprochene Wort mich begreifen, was ich sehe, und ich beginne in erregter Spannung zu ahnen, daß es sich hier um eine neue, wichtige und für die Kriegführung hilfreiche Sache handelt. Immer wieder und wieder stellt der Kaiser mit raschen, knappen Worten eine Zwischenfrage; der Offizier gibt Antwort. Bis Mitternacht dauert das. Nach dem letzten Bilde glänzen die Flammen des Lüsters auf. Lebhaft tritt der Kaiser auf den jungen Offizier zu, der den Vortrag gehalten, reicht ihm die Hand und sagt:

»Ich danke Ihnen! Das ist eine gute Sache! Glauben Sie, daß uns die Franzosen das nachmachen können?«

Der junge Offizier in dem verwitterten Feldgrau lächelt: »So schnell nicht, Majestät! Wir haben das erst jetzt gefunden.«

In dem erhellten Saal ein Zusammenstehen von Gruppen, eine mit halblauten Stimmen geführte Debatte.

Während ich diese Gespräche höre, klingt in mir immer wieder das verheißungsvolle Wort, das der junge Offizier gesprochen: »Wir haben das jetzt gefunden!«

Wir! Das sind wir Deutschen! Wir, bei denen das Recht und die Kraft ist, und bei denen der Sieg sein wird!

Ich trage stolz und beglückt dieses Wort in mir davon durch die sternhelle Nacht – dazu die mich heiß erfreuende Einladung: morgen im Auto mit dem Kaiser hinüberzufahren zum deutschen Kronprinzen.

Von den tiefen, meinen deutschen Glauben und mein Vertrauen wie mit eisernen Stäben stärkenden Eindrücken dieses Abends schwirren mir Kopf und Herz, während ich das winzige Stübchen betrete, in dem ich einquartiert bin. Es ist, nach französischer Sparsamkeit mit dem Raume, so klein, daß man beim ersten Schritt über die Schwelle schon gleich mit dem Ellbogen an die Fensterscheibe stößt. Fast vier Fünftel dieses Grillenhäuschens ist bestellt mit dem großen, ganz famosen Bett. Wie herrlich werde ich da schlafen heute nacht, mit aller Verheißung der vergangenen Stunden in meiner Seele!

Aber der Mensch hat neben der Seele auch einen Leib. Während ich im Dunkel liege und mit offenen Augen fröhlich träume, beginne ich, der ich an der Tafel des Deutschen Kaisers speiste – nein, nicht speiste, nur lauschte – einen nagenden Hunger zu fühlen. Und dann knappere ich mit Hochgenuß und Zärtlichkeit an dem Dutzend guter Weihnachtslebkuchen, die mir meine Frau vor der Abreise von München in die Handtasche steckte.

»Wir! Wir Deutschen!«

Mit diesem Wort im Herzen mache ich meine Augen zu. Und mit dem anderen:

»Morgen!«

4

19. Januar 1915.

Der Deutsche Kaiser ist kein Frömmler, aber ein frommer, tiefgläubiger Christ, der seinen Tag mit Gott beginnt und mit Gott beendet.

In der kleinen Stadt, die das Große Hauptquartier beherbergt, wurde ein großer Raum zu einer Feldkirche umgewandelt. Hier wird der Gottesdienst für den Kaiser und die Garnison des Hauptquartiers abgehalten. Den langen, mächtigen Hallenraum füllen in dichten Reihen die Soldaten, deren Abteilungen sich aus Linie, Reserve und Landsturm mischen, feste und stramme Gestalten, mit gesunden und ruhigen Bartgesichtern; dazu die kleine, aus allen Reiterregimentern der deutschen Bruderstämme gebildete Kavallerietruppe der kaiserlichen Wache; nahe dem Altar, zu beiden Seiten des auf den Kaiser wartenden Kirchenstuhles, sind die Plätze der Offiziere und des Orchesters, das aus Harmonium und acht Bläsern besteht.

Das Bild des mit roten Tüchern ausgeschlagenen und durch drei Stufen erhöhten Altars hat etwas freudig Aufwärtsstrebendes. Zur Rechten und Linken schmücken ihn zwei große Banner in den deutschen Farben, zwischen denen das Kreuzbild des Erlösers auf die Reihen der Soldaten niederblickt. Das heilige Zeichen leuchtet freundlich in der durch die Fenster hereinflutenden Morgensonne. Und gleich einem Symbol des vor Gottes Antlitz ruhenden Krieges sind auf beiden Seiten des Altars die mit allen Landesfarben der deutschen Stämme bewimpelten Reiterlanzen zu schlanken, friedsamen Pyramiden aneinandergestellt.

Ein Kommando. Das Zusammenklirren der Soldatenstiefel klingt wie ein einziger harter Eisenschlag. Auf dem Bretterboden die ruhigen Schritte eines einzelnen Mannes. Durch die Reihen der Soldaten schreitet der Kaiser zu seinem Kirchenstuhl. Sein Gesicht ist ernst, fast unbeweglich. Und immer, mit einem sinnenden Blick, sind seine Augen emporgehoben zum Bilde Gottes, auf dessen gerechte Hilfe er hofft und baut.

Harmonium und Bläser beginnen den Choral, und Feldprediger Goens – eine Gestalt wie aus einem Holzschnitt des 17. Jahrhunderts in das Leben von heute herausgetreten – steigt zum Altar empor. Mit gewaltiger, Herz und Nerven durchbrausender Tonwelle schwillt aus zweitausend deutschen Soldatenkehlen das alte fromme Kirchenlied durch die goldenen Sonnenbänder empor in das klingende Hallengewölbe. Und noch weiter, noch höher wird es tönen. Solch ein gläubiges Lied voll Kraft und Christentreue und Inbrunst muß der Himmel erhören. Der schöne machtvolle Klang erschüttert mich bis in die tiefste Seele, und alles Denken in mir ist deutsche Andacht.

Der Prediger liest das Epiphanias-Evangelium, die Geschichte der morgenländischen Magier, die in gläubiger Sehnsucht auszogen, geführt von ihrem Sterne, und in Redlichkeit alle Tücke und Hinterlist des Herodes zuschanden machten und wieder heimkehrten in ihr Land, den gefundenen Gott im Herzen. Tief und warm, in einer ebenso zum anspruchsvollsten Verstande wie zu aller Einfalt der Volksseele sprechenden Weise deutet der Prediger die biblische Überlieferung zuerst in christlichem Sinne. Dann hebt er das Ewig-Menschliche aus dem schönen Gleichnis hervor: das ruhelose Wandern und Streben der irdischen Hoffnung nach allem Höheren und Besseren. Aus der wachsenden Flamme seines Wortes steigen die großen Bilder eines in Sehnsucht und Gottvertrauen suchenden Volkes empor, das in unübersehbaren Scharen und im Gefunkel seiner gesegneten Waffen auszog und Heimat und Herd verließ, um die Freiheit seines bedrohten Lebens zu beschützen. Geführt vom leuchtenden Stern der deutschen Hoffnung, von Wahrheit und Treue geleitet, wird dieses Volk durch Kampf und Prüfung einer Zeit der Blüte und Ernte entgegenschreiten und jede feindliche Tücke und herodianische Hinterlist zuschanden machen. Und heimkehren wird es in sein Land, mit dem Glauben an Gottes Kraft in der Seele, mit der Freude des gewahrten Rechts im Herzen, mit den Kränzen des Sieges an seinen Fahnen.

 

Die heilige Verheißung, die von den Stufen des Altars hinausklang über den weiten, von Feldgrauen dicht erfüllten Raum, scheint wie ein frohes Feuer in diese zweitausend deutschen Soldatenbrüste zu fallen. Ihr Danklied braust wie das feierliche Spiel einer riesigen Orgel, und aus diesem machtvoll schwingenden Seelenliede hör' ich außer Andacht und Gottvertrauen noch andere Klänge heraus: heiße Sehnsucht nach der Heimat, zärtliche Grüße der Söhne an Väter und Mütter, dürstende Liebesträume junger Herzen, glühende Segenswünsche der Graubärtigen für ihre Kinder.

Nun wird es still über alle Köpfe hin. Kein Scharren einer Sohle, kein Räuspern. Ein Schweigen, das lautlos ist. Der Kaiser hat sich erhoben und den Helm vom Haupte genommen. Warmes Leben ist in seinen Zügen, sein Gesicht und seine Augen sind froher und heller, als sie waren, da er kam; das Antlitz emporgehoben zum Kreuzbilde, betet der Deutsche Kaiser stumm zu dem gerechten Gotte, an den er glaubt. Um was er betet, das hört nur ein Einziger. Doch wir Deutschen, die wir ihn kennen, wir wissen alle: er betet als Vater für Frau und Kind, betet als Mensch für die Menschen, betet als Herrscher für Heimat und Volk und Heer.

Immer mußte ich ihn ansehen. Mich erfüllt eine Stimmung voll schöner Weihe und ruhiger Zuversicht. Sie hält noch immer in mir an, während ich schon draußen in der Sonne stehe und die Truppen sich ordnen, um vor dem Kaiser zu defilieren. Trommeln und Pfeifen. Dann der alte, das Blut befeuernde Yorck-Marsch. Mit Klirren und Stampfen geht's vorüber, jeder Truppenteil wie ein festgeschlossener, unzerreißbarer Felsklotz. Die gesunden, straffen Gestalten erzittern von der Wucht des Marsches, und wie Eisenhämmer schlagen die gut deutschen Stiefelsohlen in den französischen Morast.

Da hör' ich ein frohes Auflachen des Kaisers. Er winkt mir. »Ganghofer! Haben Sie sich das angesehen? Wie großartig die Leute marschieren! Ganz famose Menschen!« Wieder lacht der Kaiser, herzlicher als ich es jemals von ihm hörte. Und eine starke Freude glänzt in seinen Augen.

Ein paar Minuten später beginnt die Fahrt im offenen Auto. Schade, daß jetzt die Sonne ein bißchen Verstecken spielt und nur zeitweilig durch die Klüfte der trüben Wolken hinausguckt. Über dem Lande, das ich sehen soll, liegt so viel dunkle Trauer, daß nur reichliche und ausdauernde Sonne sie etwas aufhellen könnte.

Den Kaiser begleiten im Auto zwei Herren des militärischen Gefolges. Und zwei Militärkarabiner, mit den Patronentaschen daneben, lehnen in den Ecken des Wagens. Sonst kein Geleit, kein Schutz. Der Kaiser will es so. Auch haben die Deutschen alles okkupierte Land schon friedlich und ruhig gemacht und haben ihm reichliche Hilfe in seiner wachsenden Not geleistet. Mit flinker Fahrt geht es neben gesprengten Steinbogen über eine hölzerne Notbrücke, gegen deren Balken die rauschende Flut des hochgestiegenen Stromes anstürmt wie ein grimmiger Feind. Nur noch handbreit ist der Brückenbogen über dem schießenden Wasser. Das sieht aus, als müsse man Sorge um die Brücke haben; aber der Kaiser sagt: »Da ist keine Gefahr. Was deutsche Pioniere bauen, das hält.«

Was ich an Landschaft zu sehen bekomme, hat liebenswürdige Linien. Doch keine Ferne will sich richtig aufklären.

An kleinen Dörfern geht es vorüber, in die noch keine deutsche Granate gefallen ist. Auch unbeschädigt sehen sie abscheulich aus. Solch ein Bild von Verwahrlosung und gleichförmiger Geschmacklosigkeit, von Mangel an Hausfreude, von gartenloser Nüchternheit, von bedrückender Aneinanderpferchung, von Schmutz und Unordnung hab' ich außer hier in Nordfrankreich noch nie in einem Lande gesehen, das Anspruch auf Kultur erhebt. Wohin die Deutschen da kommen, überall müssen sie erst Ordnung schaffen und fegen und scheuern, bevor sie sich auf einen Sessel niedersetzen oder in einer Stube ruhen können.

Und dieses Graue da drüben über dem Strom, dieses Leblose, von jedem Atemzug Verlassene, dieses Zerrissene und Zerfetzte, dieses widersinnnig Ausgefranste, durchschlungen von rauchschwarzen Zerrbildern? Was ist das? Wie ein anderes Pompeji sieht es aus, nur ohne Tempel und Säulen, alle Ruinen zu einem grauenhaften Schutthaufen übereinandergerüttelt durch ein neues Erdbeben?

Das ist Donchery gewesen, um dessen Mauern einer der härtesten Kämpfe tobte.

Heimat, Heimat, wehre dich mit allen Kräften deines Volkes, mit jeder Waffe deines Heeres und jedem Opfer deiner Bürger, um solch ein Furchtbares von dir abzuwenden! Dieses Grauen hat mit der Übermacht der Feinde schon hereingezüngelt über unsere Grenzen. Es soll nicht weiterschreiten, wir wollen uns stemmen dagegen mit unseren Leibern, mit unserem Gut, mit allem, was wir sind und was wir haben! Der Gedanke, daß unsere sieghaft vorschreitende Befreiung und Erlösung scheitern könnte am eigennützigen Kleinmut und am kurzsichtigen Egoismus Weniger – dieser Gedanke legt sich wie eine Klammer um mein Herz, wie ein quälender Eisenreif um meine Kehle.

Gibt es Zufälle, die wie geheimnisvolle Gesetze sind? Während ich die Gedanken, die mich durchschüttern, stumm in mir verschließe, beginnt der Kaiser plötzlich, ohne jede Beziehung zu einem vorausgegangenen Worte, von dem herrlichen, wundervollen Zusammenhalt des ganzen deutschen Volkes zu sprechen, von der heiligen Begeisterungsflamme der ersten Augusttage. »Es ist meine schönste Freude, daß ich das erleben durfte.« Und nach kurzem, nachdenklichem Schweigen sagt er: »Wenn es nicht so gewesen wäre – « Er spricht diesen Satz nicht zu Ende, aber er atmet auf und sieht gegen Donchery zurück, dessen Trümmerstätte schon verschwunden ist.

Mir wird leichter um die Brust. Auch die Landschaft, durch die wir fahren, bringt aufrichtende und verheißungsvolle Erinnerungsbilder. Historischer Boden! Heiliger Boden für uns Deutsche! Das Schlachtengelände von Sedan!

»Dort oben«, sagt der Kaiser und deutet nach einer Feldhöhe, »da ist mein Vater gestanden.«

Neben der Landstraße huscht ein kleines, einsames Haus vorüber.

»Hier ist Napoleon mit Bismarck zusammengetroffen.«

Aus einem hübschen, in seiner Laublosigkeit durchsichtigen Wäldchen lugen die Türme und Mauern eines zierlichen Schlosses heraus.

»Das ist Bellevue. Hier war die Unterredung meines Großvaters mit Napoleon.«

Diese Worte des Kaisers wecken in mir das Feuer eines frohen deutschen Stolzes. Gerne hätte ich haltgemacht und wäre ausgestiegen, um diese geweihten Stätten der Reichswerdung als Andächtiger zu besuchen. Aber ich nahm mir heilig vor, noch einmal hierher zurückzukehren.

Nun geht es seitwärts, mitten durch das weite Überschwemmungsgebiet der Maas. Von der Straße wird es auf hohem Damm durchschnitten. Lange Proviantkolonnen knattern vorüber, feldgraue Radfahrer sausen vorbei. Die meisten der Soldaten grüßen, wie man unbekannte Offiziere grüßt, doch mancher, trotz der schnellen Fahrt des Autos, erkennt den Kaiser und ist mit jähem Ruck in eine unbewegliche Säule verwandelt, die zwei groß aufgerissene, freudige Augen hat.

Eine Ortschaft kommt, die sich hell abzeichnet auf dem dunklen Hintergrund des Waldes von Woevre. Und über die Mauer eines Parkes hebt sich ein schmuckes, kleines Schloß empor: das Ziel der Fahrt.

Im Schloßhofe begrüßt der deutsche Kronprinz mit den sechs Herren seines Stabes den kaiserlichen Vater, der den Sohn herzlich umarmt.