Dialog über die beiden hauptsächlichsten Weltsysteme

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

FORTSCHRITTLICHE KALENDERREFORM DANK DER BESTEN ASTRONOMEN

Papst Gregor XIII. (geb. 1502, 1572–1585) wollte den Kalender reformieren. An der Spitze des wissenschaftlichen Fortschritts. Der alte Julianische Kalender (von Cäsar, aus dem 1. Jh. v. Chr.) war aus dem Sonnentakt geraten und sorgte für fehlerhafte Datierung, zum Beispiel des christlichen Osterfestes, eigentlich am Sonntag nach dem ersten Frühlingsvollmond. So verfügte der Papst, im Oktober 1582 zehn Datumstage ausfallen zu lassen. Daher folgte auf Donnerstag, den 4. Oktober, gleich Freitag, der 15. Oktober, doch nur in denjenigen katholischen Ländern, die diese Reform sofort annahmen. Länder der Reformation brauchten länger für den Fortschritt; die protestantischen deutschen Reichsstände passten sich 1700, England und die amerikanischen Kolonien 1752, Sowjetrussland 1918 und zuletzt die Volksrepublik China 1949 dem genaueren System des Papstes an. Konfession oder Ideologie waren ihnen offenbar wichtiger.

Gregor XIII. standen dabei die besten Astronomen zur Verfügung, zumeist Priester aus dem Jesuitenorden. Diese »Gesellschaft Jesu« wollte nach dem Beispiel ihres Gründers, des Basken Ignatius von Loyola (1491–1556), mit Macht, das heißt, mit Schulen und Universitäten, mit Wissen und noch mal Wissen die Bildung der Katholiken heben, in Treue zum Papst. Die bedeutendsten Jesuiten-Astronomen waren:

• Christophorus Clavius aus Bamberg (1537/8–1612) hat in Rom die wissenschaftliche Leitung der Kalenderreform inne.

• Matteo Ricci aus dem mittelitalienischen Macerata (1552–1610) überzeugt als Missionar den Kaiserhof in China von der Überlegenheit der römischen Astronomie.

• Christoph Scheiner, ein bayerischer Schwabe (1573–1650), wird in Rom (1624–1633) – etwa im Konflikt um die Entdeckung der Sonnenflecken – zum Konkurrenten Galileis. Deren persönliche Rivalität wird schon von berühmten Zeitgenossen, wie René Descartes und Pierre Gassendi (»Beide sind gut, streben nach Wahrheit, sind gleich ehrlich und rechtschaffen. Beide haben sich gegenseitig beleidigt.«), bedauert. Scheiner verlangt im Prozess von Galilei »Beweise«, vielleicht, weil er seine eigenen Zweifel (an der Geozentrik) besiegen wollte. Gleichviel. Es gilt das Fehl-Urteil der Inquisition.

• Athanasius Kircher aus Fulda (1602–1680 in Rom), universal gebildet, ein Forscher ersten Ranges auf vielen Gebieten, als »der erste Gelehrte mit weltweiter Reputation« (Findlen) bezeichnet, leitet als Professor am Collegium Romanum (seit 1634) eine Revision des römischen Weltbildes ein. Er beschreibt das geozentrische System von Tycho de Brahe (geb. 1546 in Dänemark, gest. 1601 in Prag) und das heliozentrische des kaiserlichen Hof-Astronomen Johannes Kepler (geb. 1571 in Württemberg, gest. 1630 in Regensburg) auch als Theologe so behutsam, dass beide mit der Heiligen Schrift vereinbar scheinen.

VORLIEBE FÜR DAS GEOZENTRISCHE SYSTEM

Eine Vorliebe der Offenbarungstheologen, jüdischer, christlicher und muslimischer, für das geozentrische System war wohl unvermeidbar. Dass die Erde im Mittelpunkt der Welt stehe, muss Religionen gefallen, deren Gott hier auf Erden sich die Juden als Volk erwählt, der »seinen eingeborenen Sohn« als Jesus von Nazareth hat Mensch werden lassen – der schließlich im Islam seine Worte einem Mohammed aus Mekka überantwortet hat. Die Einzigartigkeit Gottes im Judentum, der Erlösung durch Christus – auch der Offenbarung im Koran – schien mit der Einzigartigkeit der Erde im Universum verbunden zu sein und am schönsten zu harmonisieren. Vorausgesetzt, man denkt darüber nach – was die Frommen nicht taten – und sieht dann darin ein Problem – was heute wohl wegfällt.

Deshalb reagierte Martin Luther, wie berichtet wird, unwirsch auf die Kopernikanische Wende: »Der Narr will mir die ganze Kunst Astronomia umkehren! Aber wie die Heilige Schrift zeigt, hieß Josua (10,12-13) die Sonne stillstehen und nicht die Erde!« Damit spielt er auf Bibelstellen an, die ausdrücklich die Sonne als mobil voraussetzen. So auch der »Prediger« (Kohelet 1,5): »Die Sonne geht auf und geht unter und läuft an ihren Ort, dass sie dort wieder aufgehe.« Aber es besteht kein Zweifel, dass das gesamte Weltbild der jüdisch-christlichen Bibel das Geozentrische voraussetzt. Auserwählung und Erlösung auf Erden scheinen schlechthin zentral-religiös. Und astronomisch? Für das Weltbild?

HELIOZENTRIK – EINE ZUMUTUNG

Die Wissenschaftstheoretiker wie Hans Blumenberg (1920–1996) und Paul Karl Feyerabend (1924–1994) sind sich der Dramatik dieses Wandels gerade im »Fall Galilei« bewusst. Aber niemand hat wohl einfühlsamer als Goethe erfasst, was den Menschen zwischen 1450 und 1650 in Europa zugemutet wurde, und am dramatischsten beschrieben:

»In jedem Jahrhundert, ja in jedem Jahrzehnt werden tüchtige Entdeckungen gemacht, geschehen unerwartete Begebenheiten, treten vorzügliche Menschen auf, welche neue Ansichten verbreiten … Doch unter allen Entdeckungen und Überzeugungen möchte nichts eine größere Wirkung auf den menschlichen Geist hervorgebracht haben als die Lehre des Kopernikus. Kaum war die Welt als rund anerkannt und in sich abgeschlossen, so sollte sie auf das ungeheure Vorrecht Verzicht tun, der Mittelpunkt des Weltalls zu sein. Vielleicht ist noch nie eine größere Forderung an die Menschheit geschehen: denn was ging nicht alles durch diese Anerkennung in Dunst und Rauch auf: ein zweites Paradies, eine Welt der Unschuld, Dichtkunst und Frömmigkeit, das Zeugnis der Sinne, die Überzeugung eines poetisch-religiösen Glaubens; kein Wunder, dass man dies alles nicht wollte fahren lassen, dass man sich auf alle Weise einer solchen Lehre entgegensetzte, die denjenigen, der sie annahm, zu einer bisher unbekannten, ja ungeahnten Denkfreiheit und Großheit der Gesinnungen berechtigte und aufforderte.« (»Geschichte der Farbenlehre, 16. Jh.«, Zwischenbetrachtung.)

Doch unvereinbar waren jüdisches Auserwählungsselbstbewusstsein und christlicher Erlösungsglaube mit dem heliozentrischen Weltbild nicht. Denn seit Jahrtausenden gab es in der jüdisch-christlichen Tradition nie nur eine allgemeine wortwörtliche Auslegung der Heiligen Schriften – im Unterschied etwa zum offiziell-amtlichen Islam, für den der Koran schlechthin das undiskutierbare »Wort Gottes« ist. Rabbiner lehrten in den Synagogen die fromme Unterscheidung und die orthodoxe Auslegung im Alltag. Die Kirchenväter, wie etwa Origines im 3. Jahrhundert, unterschieden einen dreifachen Sinn, den buchstäblichen, den moralischen und den pneumatischen. (So konnte etwa jemand einen anderen wirklich umbringen, ihn aber auch nur moralisch vernichten oder geistig erledigen.) Diese Unterscheidungsfähigkeit war wohl begründet. Die Kundigen wussten, dass die Heiligen Schriften der Bibel nicht plötzlich vom Himmel gefallen waren, sondern im Lauf von Jahrhunderten und Jahrzehnten (nach Christus) allmählich entstanden und zum Kanon zusammengefasst worden waren. Für Juden und Christen war die Bibel kein Physikbuch, sondern die Gewähr von Auserwählung und Erlösung. Eigentlich.

Aber im »Fall Galilei« platzt diese Revolution des Weltbildes auf. Zwischen einem Astronomen, der das Richtige sieht und der Kirche sagen will, wie sie die Bibel auszulegen hat. Die römischen Theologen der Inquisition besaßen nicht die Klugheit zu erwägen, was wäre, wenn Galilei richtig gesehen hätte. Stattdessen hielten sie in der Borniertheit der »Fundamentalisten« ihre Sicht für die einzig mögliche, allein seligmachende.

DISTANZ ZUR RÖMISCHEN THEOLOGIE

Als ich vor Jahren in Rom an der »Päpstlichen Universität Gregoriana« Philosophie und Theologie studierte, dazu verwandte Fächer wie Kirchenhistorie und Geschichte, war eine gewisse Distanz zur »Römischen Theologie« fast selbstverständlich. Die meisten Professoren, allesamt Jesuiten, hatten im Gefolge des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965) diese, kurz gesagt »fundamentalistisch« geprägte Theologie, mit einer wortwörtlichen Bibelauslegung, hinter sich gelassen. Ziemlich geräuschlos, weil sie keine Revolution hatten ausrufen müssen, sondern an die große katholische Theologie der Vergangenheit, die Ursprünge des Christentums, die Kirchenväter der ersten Jahrhunderte anknüpfen konnten. Sie nahmen eine in Rom etwas vergessene oder vernachlässigte Tradition wieder auf, wie es auch die Bischöfe und Theologen des Konzils taten. Darunter auch der deutsche Professor Joseph Ratzinger, später Erzbischof von München, Kardinals-Präfekt der vatikanischen Glaubenskongregation, der Nachfolge-Institution jener Behörde, die einst Galilei zum Widerruf gezwungen hatte, und Papst Benedikt XVI. Er machte kein Hehl daraus, dass die »Römische Theologie«, wie sie im »Fall Galilei« zum Zuge kam, eine Verengung des Katholischen bedeutete.

ZWEI NEUE PROZESSE

Nach dem Ende des Prozesses vor dem römischen Tribunal im Juni 1633, nach der Abschwörung Galileis und dem Urteil der Inquisition zu Haft und Buße beginnen zwei neue Prozesse; die Mythologisierung des Astronomen und die Revision durch die Kirche. Beide unmerklich, sehr langsam. Galilei lebte ja noch. Im Unterschied zu dem anderen berühmten oder berüchtigten Kopernikaner, Giordano Bruno (geb. 1548), an dessen Scheiterhaufen am 17. Februar 1600 auf dem Campo de’ Fiori sich die Römer noch erinnern konnten. Dessen Verbrennung war – auch nach päpstlichem Urteil, so von Johannes Paul II. im März 2000 – ein »Unrecht«.

Aber dessen »Ketzerei« war von ganz anderer Art: Schmähungen, als ungeheuerlich empfunden, gegen Christus und das Christentum; provozierende Blasphemie, noch dazu mit schändlichem Antisemitismus, wenn Giordano schreibt:

»Wenn also … einer (Jesus Christus) aus dem unwürdigsten und schmutzigsten Geschlecht der Welt, ein Mensch von niedrigster und gemeinster Natur und Denkart als Zeus angebetet wird, so … erwerben sich, die ihn anbeten, dadurch Geringschätzung und Tadel. Niemals also wird ein Schurke deshalb ehrwürdiger erscheinen, weil er mit Hilfe feindlicher Genien zum Affen und zum Popanz dient für den blinden Pöbelglauben.« Bruno nennt Jesus »einen verächtlichen, gemeinen und unwissenden Menschen … durch welchen alles entwürdigt, geknechtet, in Verwirrung gebracht und das Unterste zuoberst verkehrt, die Unwissenheit an Stelle der Wissenschaft … der echte Adel zu Unehren und die Niederträchtigkeit zu Ehren gebracht« worden sei. Die Juden seien »eine so pestilenzialische, aussätzige und gemeingefährliche Rasse, dass sie schon vor ihrer Geburt ausgerottet zu werden verdienen«. (aus »Die Vertreibung der triumphierenden Bestie«.) Diese Worte rechtfertigen nicht ein Todesurteil, sind freilich auch nicht denkmalswürdig. Sie zeigen, dass Galilei ein ganz anderer war.

 

Knapp 70 Jahre alt, wird Galilei nach der Verurteilung »zu formaler Haft« – »Kerker« wird es nicht – in den Palazzo der toskanischen Gesandtschaft zu Rom gebracht, kommt im toskanischen Siena unter die gastfreundliche »Aufsicht« des Erzbischofs, einer seiner Bewunderer, und nimmt dann seine Wohnung in einer geräumigen Villa oberhalb von Florenz, in Arcetri. Er ist kein freier Mann, verurteilt und soll auch als Strafe die sieben Bußpsalmen beten – was er an seine Ordensschwester-Tochter delegiert. Keine Frage, »er hatte viel zu leiden durch Männer und Institutionen der Kirche« (Johannes Paul II., 1979). Aber er kann arbeiten, beobachten, forschen, schreiben, bis seine Augen schlechter werden; seinem Sekretär diktieren. Vor allem sein naturwissenschaftliches Hauptwerk, die »Discorsi, über zwei neue Wissenszweige«, die 1638 im holländischen Leiden veröffentlicht werden. Er stirbt zu Hause, in der Villa zu Arcetri, am 8. Januar 1642, im Alter von knapp 78 Jahren. Seine sterblichen Überreste finden zunächst eine provisorische Grablege.

War damit der »Fall Galilei« abgeschlossen? Zumindest war es wohl still geworden um den Italiener. Die Urteile der Römischen Inquisition beschwerten weiter nördlich ebenso wenig wie einige Jahre später der (missverständliche) Protest Papst Innozenz’ X. gegen den Westfälischen Frieden am Ende des Dreißigjährigen Krieges (1648). Die Naturwissenschaften und neue, von den Kirchen emanzipierte Philosophien der europäischen Gelehrten nahmen ihren Lauf, einen immer schnelleren.

• Der Engländer Isaac Newton, ein Jahr nach Galilei, am 4. Januar 1643 geboren, 1727 gestorben, findet als Physiker und Mathematiker nicht den Willen Gottes, sondern die Gesetze der Natur.

• René Descartes (1596–1650) und Baruch de Spinoza (1632–1677) interessieren sich als erste von vielen modernen Denkern nicht für die in der Bibel berichteten Launen Gottes, sondern für klare Gedanken und schlüssige Ideen.

• Die Jesuiten als Erzieher der Eliten im katholischen Europa suchen Papsttreue und moderne Erkenntnisse zu verbinden.

• Die Anfang des 18. Jahrhunderts in Konkurrenz zum Christlichen sich erhebende Bewegung der Freimaurerei mit vielen prominenten Anhängern weist auf, dass die Kirchen die intellektuelle Führerschaft in Europa – von der mittelalterlichen Vormundschaft zu schweigen – einbüßt.

SKANDAL UND REVISION

Nun war man auch in Rom und Florenz soweit. Benedikt XIV. aus Bologna (1675, 1740–1758), den Erfordernissen der Zeit aufgeschlossen, gestattete 1741 den Druck der ersten Gesamtausgabe der Werke Galileis und widerrief 1757 prinzipiell den Bann gegen das heliozentrische Weltbild. Schon zuvor, 1737, hatte man in der Florentiner Stadtkirche Santa Croce für Galilei ein prachtvolles Grabmal geschaffen, am Anfang des linken Seitenschiffs prominent gegenüber jenem für Michelangelo und Dante. Also hatte sich der Konflikt zwischen Galilei und der Römischen Kirche aufgelöst?

Die bekannte Enzyklopädie der Aufklärung, die »Encyclopédie« von Diderot und d’Alembert, hat in ihren 35 Bänden zwischen 1751 und 1780 kein eigenes Stichwort für Galilei (im Gegensatz zu »Copernic« und »Kepler«), erwähnt ihn unter »Astronomie« und nennt ihn »le grand Galilé«, aber macht kein Aufhebens von seinen Inquisitionsprozessen. Auch ein knappes Jahrhundert später berichtet ein deutsches »Conversations-Lexikon zum Handgebrauch« (Leipzig, 1846) ohne Aufregung: »Da diese (Galileis) Entdeckungen die Eifersucht u. den Unwillen der heftigen Aristoteliker erregten, (und) wegen der Behauptung, die Erde drehe sich um die Sonne, musste (G.) d. Strenge der Inquisition fühlen. Noch lauter erhob sich die Stimme der Ketzerei gegen ihn, als er 1632 seine ›Gespräche über die zwei größten Systeme, das Ptolomäische u. Kopernikanische‹ herausgab, worin er die Gründe beider Systeme vorträgt, ohne dass er sich für eins entscheidet, obschon seine Hinneigung zu dem Kopernikanischen nicht zu verkennen ist. Vor die Inquisition zu Rom gefordert, musste er seine Lehre abschwören …« Da geht es nur als Kuriosum durch, dass erst 1822 ein Kleriker, der Kanoniker Giuseppe Settele, die kirchliche Druckerlaubnis für ein Buch mit dem heliozentrischen System als bewiesen erhielt.

FORTSCHRITTSGLÄUBIG UND RELIGIÖS-MODERN KONSERVATIV UND REAKTIONÄR

Man lebte gleichsam mit einem theologischen (populären, alltagstauglichen) Geozentrismus – der Fortschritt wurde dadurch nicht aufgehalten – und einem wissenschaftlichen (elitären) Heliozentrismus. Es war weniger die vielbeschworene Aufklärung, die nun im 18. Und 19. Jahrhundert den Widerruf Galileis im fernen Jahr 1633 der Kopernikanischen Wende – was war seitdem nicht alles gewendet worden! – als Skandal empfand. Vielmehr gerieten die jeweils moderne Gesellschaft und die dem Traditionellen verhafteten christlichen Gemeinschaften, doch vor allem die Römische Kirche, immer mehr in Gegnerschaft. Sie suchten ihre Stellung wechselseitig zu sichern, durch vielerlei Mittel, durch Propaganda und Macht, durch Bündnisse mit den Mächtigen, durch Angriffe auf den Gegner. In der Französischen Revolution (1789) brach das Ancien Regime zusammen, die enge Verbindung zwischen Thron und Altar verlor ihre Selbstverständlichkeit. Napoleon degradierte in großem Stil Kirche und Religion zu nützlichen politischen Herrschaftsmitteln. Im Rückpendel sahen die Päpste in den revolutionären modernen Parteien und ihren Anhängern Feinde. Die Römische Kirche suchte ihr Heil politisch in der Restauration mit konservativen Staaten und ideologisch im Bund mit reaktionären Kräften.

• Pius VII. (1742, 1800–1823) ist in den Napoleonischen Stürmen über Europa zu diplomatischer Klugheit gezwungen; das Papsttum wird für seine Festigkeit als moralische Autorität auf dem Wiener Kongress (1815) belohnt.

• Gregor XVI. jedoch (1765, 1831–1846) holt zum Rundumschlag gegen die Moderne aus. In seiner ersten Enzyklika, »Mirari vos« von 1832, klagt er über »die Verwirrungen in Kirche und Staat«, »schlimm ist die Zeit für den Glauben«, und verurteilt nicht nur religionsfeindliche neue Ideologien, sondern auch »unrechte, dreiste Wissenschaften und zügellose Freiheit«, verdammt mit der Buchdruckerkunst auch Presse- und Meinungsfreiheit. Eine Kriegserklärung an die vorwärtsdrängenden Kräfte Europas, verzweifelte Wehr gegen den gewaltigen Strom des Zeitgeistes.

• Pius IX. (1792, 1846–1878) setzt noch mehrere drauf. Mit dem Dogma von der Unbefleckten Empfängnis Mariens (1854), mit dem »Syllabus« von 1864, einer Zusammenfassung aller – nach seinem Verständnis – Zeitirrtümer, mit der Erklärung des Ersten Vatikanischen Konzils (1869/70) über die päpstliche Unfehlbarkeit, mit dem Verbot an die italienischen Katholiken, sich im neuen einigen Königreich politisch zu betätigen, ruft er den offenen »Kulturkampf« aus, den Großen Krieg zwischen Kulturen, der religiösen und der »liberalen«. Der kirchliche Kreuzzug fand seine Gegner.

Da war es ein probates Kriegsmittel, den »Fall Galilei«, der bekannt war und immer bekannter wurde, aus den Archiven zu holen und zum Skandal hochzutreiben. Hier war offensichtlich: Die Römische Kirche konnte als wissenschaftsfremd, fortschrittsfeindlich und bibel-töricht beiseitegeschoben werden. Am Nasenring der Inquisitionserklärung – sie dreht sich nicht, die Erde – konnte man die Kirche durch die Manege ziehen.

EIN KULTURKAMPF

Mit dieser Alternative war der Kulturkampf kulturell für die Kirche verloren. Politisch fand man Kompromisse, weil die Katholiken Bürger der Staaten waren und immer noch eine »Volkskirche« bildeten. Diese suchte Pius X. (1835, 1903–1914) zu festigen. Mit Geschick. Auch indem er die Ambivalenz der Moderne aufwies und deren menschliche Verlierer, die mit dem Fortschritt Nicht-Mitgekommenen, umwarb. Er wandte sich gegen das Eindringen des »Modernismus« in die Kirche, zwar mit überholten Mitteln, doch nicht ohne Erfolg. Für die Bibelauslegung – mit einer eigenen vatikanischen Kommission – erließ er Bestimmungen, die hinter den historischen Erkenntnissen zurückblieben und den Ruf der Römischen Theologie weiter herabsetzten. Die Römische Kirche unter den Päpsten hielt durch und wuchs, weil in Europa die Moderne durch Kriege und Wahnsinnsideologien in Trümmer ging.

Der »Skandal Galilei« verschärfte sich, weil die Gegner nicht lockerließen. Pius XII. (1876, 1939–1958) beauftragte zum 300. Todestag Galileis, 1942, durch die Päpstliche Akademie der Wissenschaften, den italienischen Kirchenhistoriker und Priester Pio Paschini, den »Fall Galilei« noch einmal gründlich zu erforschen. Als die Arbeit vorlag, erschien ihre Veröffentlichung dem Papst und führenden Kurialen peinlich, blamabel, bestenfalls unnötig; warum sollten sie sich in Rom selbst bloßstellen. Erst die Bischöfe des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965) waren dazu bereit. In der Pastoralkonstitution »Gaudium et Spes« (»Freude und Hoffnung«) schrieben sie: »Deshalb sind gewisse Geisteshaltungen, die einst auch unter Christen wegen eines unzulänglichen Verständnisses für die legitime Autonomie der Wissenschaft vorkamen, zu bedauern. Durch die dadurch entfachten Streitigkeiten und Auseinandersetzungen schufen sie in der Mentalität vieler die Überzeugung von einem Widerspruch zwischen Glauben und Wissenschaft.« Damit jedermann wusste, dass vor allem der »Fall Galilei« gemeint war, ehrten sie Paschini und sein 1964 im Vatikan erschienenes zweibändiges Werk, »Vita e opere di Galileo Galilei«, durch eine Fußnote. Immerhin. Die Progressiven beklagten damals noch die Mentalität der Konservativen, die nicht die Schuld der Kirche eingestehen wollten und die Wahrheit scheuten.