Das letzte aller Tage

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Aus der Reihe: Lindemanns #279
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Wenn sich die Fünfzig- bis Sechzigjährigen allerdings noch mehrmals im Monat Sex wünschen, dann frage ich mich, warum ich mir gar nie wieder Sex wünsche. Irgendwas muss doch mit der Libido mit Beginn der Wechseljahre passieren. Bislang wurde der Rückgang der Libido in und nach den Wechseljahren vor allem auf die hormonellen Umstellungsprozesse zurückgeführt. Angeblich können die körperlichen Veränderungen in dieser Zeit, etwa die auftretenden Hitzewallungen oder Schweißausbrüche, für Verunsicherung sorgen. Deswegen fühlen sich viele Frauen dadurch nicht mehr attraktiv und versuchen, sich dem körperlichen Kontakt zu entziehen. Ich verspüre weder mit noch ohne Hitzewallungen Lust auf meinen Mann. Und Schwitzen ist kein Hindernis, oft schwitzt man doch eh bei gutem Sex.

Nachdem zu Beginn der Wechseljahre – der Übergang von der sogenannten Prä-Menopause in die Menopause – die Eierstöcke zunehmend ihre Arbeit einstellen, kommt es durch einen Mangel an weiblichen Geschlechtshormonen, den Östrogenen, auch zur Veränderung der Scheidenschleimhaut. Diese wird weniger gut durchblutet und befeuchtet, wodurch zur Unlust auch noch Schmerzen beim Verkehr entstehen. (Na prima, das auch noch. Alles wird gut – tief durchatmen –, alles wird gut.)

Als Zügler der Libido im eigentlichen Sinne gilt nach aktuellen Forschungen jedoch nicht die Abnahme der weiblichen Geschlechtshormone, sondern der Abfall der männlichen Hormone, also der Androgene wie Testosteron. Denn auch die Androgenspiegel sinken im Laufe der Wechseljahre ab. Und wo soll das enden? „In der totalen Kastration durch Organversagen“– las ich schockiert in einem Buch. Ich zitiere: „Die Begriffe Menopause und Prä-Menopause können auf die unterschiedlichste Weise benutzt werden und bedeuten immer etwas anderes. Es ist eindeutiger und verständlicher, von einem Versagen oder einer Insuffizienz der Eierstöcke und nicht mehr funktionierenden Eierstöcken zu sprechen. Ob die Eierstöcke durch Verletzung, Operation, medikamentöse Behandlung oder Organversagen ohne Einwirkung von außen insuffizient werden – es handelt sich immer um eine Kastration. Jede Frau, die länger lebt als ihre Eierstöcke, lebt bis zu ihrem Tod als Kastratin. Der Gedanke, dass man alle Männer über fünfzig Jahre kastrieren würde, ist ungeheuerlich. Doch dass alle Frauen ihr Leben als Kastratinnen beenden, wird nicht nur hingenommen, sondern auch noch von der Ärzteschaft unterstützt. Man erzählt uns Frauen, dass das eben unser Los sei.“

Bin auch ich zur Kastratin geworden und weiß es noch gar nicht? Bei mir hat die Libido definitiv und abrupt abgenommen, und dieser Verlust belastete mich unglaublich. Wer kann mir helfen? Beate Uhse, mein Frauenarzt oder meine Freundin Claudia?

Ich wollte es erst mal mit Claudia versuchen. Also rief ich sie an und wir verabredeten uns zum Kaffeeplausch. Claudia ist beziehungsweise war mal einsdreiundsiebzig groß (jetzt ist sie nur noch einseinundsiebzigeinhalb), ist aus Kleidergröße achtunddreißig rausgewachsen und hat sich auf vierzig Schrägstrich zweiundvierzig eingependelt und Dank L’Oréal hat sie immer noch glänzendes, tiefschwarzes Haar.

Nachdem wir uns zuerst über banale Dinge wie Schuhe, Handtaschen, Musik und Kino ausgetauscht hatten, lenkte ich das Thema sanft in mein Interessengebiet.

„Und wie sieht es bei Euch mit dem Sex aus?“, fragte ich beiläufig.

„Schlecht!“, kam es prompt.

Auch das noch! Ich wollte doch über mein eigenes, persönliches Sexdesaster reden und jetzt hat sie auch eins – toll, das wird ja eine super Unterhaltung!

„Mmhh“, machte ich an meinem Latte schlürfend, „was ist denn los?“

„Nichts mehr“, sagte Claudia genervt.

„Wie, nichts mehr?“

„Seit drei Monaten nichts mehr. Keinen Sex, nur kuscheln.“

„Kuscheln?“

„Ja, kuscheln!“, sagte Claudia und zog dabei leicht angewidert ihre Mundwinkel nach unten.

„Du und nur kuscheln! Seit drei Monaten keinen Sex? Ist das ein Witz? Du bist doch eine Testosteronfrau par excellence...“

„Eine was?“ Claudia stutzte.

„Testosteronfrau“, wiederholte ich.

„Was ist das denn?“

„Ich hab neulich einen Hormontest gemacht um herauszufinden, was für ein Hormontyp ich bin“, erklärte ich.

„Und wozu soll das gut sein? Seit wann verschwendest du deine Zeit mit Psychotests? Konnte man bei dem Test was gewinnen, Auto, Staubsauger, Waschmaschine?“

„Nein, ich wollte einfach nur wissen, welcher Hormontyp ich bin.“

„Und? Welcher Hormontyp“, das Wort Hormontyp sprach sie übertrieben langsam aus, „bist du? Und was hat das zu bedeuten? Und was hat das mit meinem Sex zu tun?“

„Pass auf“, begann ich, „es gibt drei unterschiedliche Hormontypen: Gestagen-, Östrogen- und Testosteron-geprägte Frauen – die Letztere bist du. Schließlich kennen wir uns schon über dreißig Jahre, also kann ich das beurteilen.“

„Und was macht die?“

„Wie, was macht die?“

„Na, was macht die Testosteron-geprägte Frau so? Was machen überhaupt die Hormone in unserem Körper und wie viel haben wir davon und wie heißen die?“

„Gute Fragen!“, antwortete ich. „Der Begriff Hormon kommt aus dem Altgriechischen und bedeutet in etwa antreiben, bewegen. Bei einer Anzahl von über dreißig Hormonen handelt es sich einfach gesagt um Stoffe, die in unseren Hormondrüsen, wie zum Beispiel Hypophyse, Schilddrüse, Bauchspeicheldrüse und Eierstöcken, gebildet werden, um sie über den Blutkreislauf in Organe abzugeben. Da sollen sie eine spezifische Wirkung erzielen.“

„Wow, du bist aber klug“, lachte Claudia, „Resch-pekt!“

„Das kommt vom vielen Lesen“, sagte ich stolz und konnte es gar nicht erwarten, mein Wissen weiterzugeben. „Die für Frauen interessantesten Hormone und ihre Funktionen solltest du auch ein bisschen kennen. Das erklärt nämlich einiges und hilft uns, unseren Frauenkörper besser zu verstehen.“

Ich begann zu erzählen und fing mit dem Hormon Östrogen an, welches ein Oberbegriff für Hormone wie Östradiol oder Östron ist. In erster Linie ist das Östrogen dafür zuständig, die Männer verrückt zu machen, und das macht es gut (wenn man es hat). Man glaubt es kaum, aber Männer können den Eisprung und die damit höchste Konzentration des Östrogens im Frauenkörper regelrecht riechen. Zudem macht das Östrogen die Haut geschmeidig und sorgt für schöne weibliche Rundungen. Die Östrogene haben aber auch einen biologischen Zweck: Sie regulieren den monatlichen Zyklus. In der ersten Hälfte (circa zehn bis vierzehn Tage, je nach Zykluslänge) sorgen sie beispielsweise dafür, dass sich die Schleimhautschicht in der Gebärmutter nach der Menstruation wieder aufbaut. In der zweiten Zyklushälfte (nach dem Eisprung) kommt dann das Progesteron, auch Gelbkörperhormon genannt, ins Spiel. Der sogenannte Gelbkörper produziert auch kleine Mengen Östrogen, aber vor allem Progesteron. Das wiederum ist für die Aufrechterhaltung der Gebärmutter-Schleimhaut und für das Wachstum eines eventuellen Embryos verantwortlich. Tja, und mit den Wechseljahren stellen die Eierstöcke die Produktion des Progesterons einfach ein. Das muss man sich als Frau mal klarmachen – in der Mitte unseres Lebens stellen die doofen Eierstöcke einfach ihre Funktion ein: Ich habe fertig!

Damit nicht genug, ebenso wird nämlich auch die Produktion von Testosteron in den Wechseljahren fast komplett eingestellt. Ja, richtig: Testosteron. Nicht nur Männer haben dieses Hormon, auch Frauen besitzen es (bis zu den Wechseljahren), wenn auch in kleineren Mengen. Dieses Testosteron will nicht kuscheln und ist schon gar nicht auf Gefühlsduselei aus. Es steuert die sexuelle Lust, bei Männern und Frauen gleichermaßen. Und wenn kein oder nur noch geringe Mengen an Testosteron zur Verfügung stehen, braucht man in Bezug auf sexuelle Aktivitäten nur noch eins und eins zusammenzuzählen.

Auch noch erwähnenswert, weil für Frauen mit Kinderwunsch ganz wichtig, sind FSH und LH. Hinter diesen beiden Abkürzungen verstecken sich zwei wichtige Hormone. FSH ist die Abkürzung für follikelstimulierendes Hormon. Es ist ein Sexualhormon und Steuerstoff der Eizellenreifung und spielt im weiblichen Zyklus eine wichtige Rolle. Zusammen mit dem luteinisierenden Hormon (LH), das den Eisprung beeinflusst, reguliert es den Zyklus. Um nicht nur Sex zu haben und Kinder zu kriegen – die wir dann alleine aufziehen müssten, weil die Männer nach getaner Arbeit, der Befruchtung, das Weite suchten –, schwirrt das Hormon Oxytocin durch unseren Körper, der Botenstoff der Liebe. Wenn wir so richtig verliebt sind, ist das Hormon dafür verantwortlich, dass wir vergesslicher werden und unter dem Einfluss der tanzenden Schmetterlinge im Bauch nicht klar und vernünftig denken können. Ein Freund von mir hat einmal gesagt, dass Verliebte unzurechnungsfähig seien und man diesen Durchgeknallten eigentlich während der Dauer ihres Verliebtseins den Führerschein entziehen sollte. Er kann seine Aussage als gefestigt betrachten. Das Hormon wird vor allen Dingen beim Sex in großen Mengen ausgeschüttet und sorgt für Müdigkeit und gelöste Entspannung. Seinetwegen hält man sich nachdem Sex gerne gegenseitig in den Armen und stammeln Männer wirre Liebesbezeugungen wie Ich ruf dich an. Versprochen!

In Untersuchungen haben Wissenschaftler herausgefunden, dass Frauen, die mit Oxytocin behandelt wurden, eine bessere Orgasmusqualität erlangten und mehr Lust auf Sex verspürten. Um allerdings erst mal an einen Sexpartner zu kommen, müssen wir wie Tiere Lockstoffe verströmen. Die Lockstoff-Hormone nennen sich Pheromone. In den fruchtbaren Tagen produziert der weibliche Körper vermehrt das Pheromon Copuline, das zur Paarung animiert. Pheromone entscheiden auch grundlegend darüber, ob wir einander riechen können. Frauen, die die Pille einnehmen, locken weitaus weniger Männer an als pillenfreie, da sie einen „unnatürlichen Hormonhaushalt“ haben und dadurch weniger Pheromone produzieren. Das wiederum hat zur Folge, dass „Pillenfrauen“ von Männern weniger wahrgenommen werden. Nüchtern betrachtet würde das Folgendes bedeuten: Nimmt eine Frau die Pille, um befruchtungsfreien und ungezügelten Sex haben zu können, wird sie von potenziellen Sexualpartnern weniger wahrgenommen und das wiederum bedeutet folglich weniger Sex. Im schlimmsten Fall gar keinen. Wozu dann also die Pille nehmen?

 

Anders herum funktioniert die Biologie ebenso: Bei Frauen, die das im Männerschweiß enthaltene Pheromon Androstenon riechen, steigt der Blutdruck. Würde das heißen, dass sich beim Vorüberziehen eines verschwitzten Bauarbeiters unser Blutdruck selbst bis unter die Decke jagt? Wenn ja, dann kann man nur hoffen, dass sich in diesem Fall rechtzeitig das Hormon Serotonin einschaltet. Das lebenswichtige Hormon macht gelassen, ausgeglichen und führt zur inneren Ruhe und Zufriedenheit (Ommm!). In erster Linie bekämpft das Serotonin aber die Angst. Einen Mangel an Serotonin haben Menschen, die an Migräne oder an schweren Depressionen leiden. Außerdem beeinflusst Serotonin unseren Sexualtrieb und den Schlafrhythmus.

„Natürlich gibt es noch weitaus mehr Hormone, die für Leib und Seele, beim Abnehmen und beim Sex eine Rolle spielen“, erzählte ich munter meiner staunenden Claudia weiter. „Und jetzt kommt der Hammer“, sagte ich mit schlauer Stimme, „stell dir vor, die Hormone, die bei uns Frauen überwiegen, bestimmen unseren Körperbau und unser Wesen.“

„Ist nicht wahr! Ich bin platt!“, sagte Claudia verblüfft.

„Ja, das war ich auch“, sagte ich nickend, „als ich anfing, mich in die Hormon-Sache einzulesen.“ Ich erinnerte mich daran, wie mich sofort eine unbändige Neugierde zu diesem Thema packte, als ich zum ersten Mal wieder (seit dem Gymnasium) etwas über das Hormonsystem des Menschen las. „Nun, das ist alles ganz schön kompliziert und nicht auf die Schnelle zu erklären, das kann ich dir sagen.“

„Macht nichts. Jetzt bin ich schon angefixt. Erkläre mir das mal mit dem Körperbau und dem Wesen.“

„Okay. Der Einfachheit halber fang ich mit meinen Hormonen an. Ich bin eine sogenannte Gestagen-geprägte Frau. Eher androgyn, so mit wenig Busen (mürrisch sah ich auf meine Minimöpse hinab), schmaler Taille (bis vor Kurzem) und schlanken Oberschenkeln (bis vor Kurzem). Figürlich also ein Mitteltyp zwischen Östrogen- und Testosteron-Frau.“

„Und wie sehen die anderen Typen aus?“

„Jetzt warte halt mal ab und sei nicht immer so ungeduldig. Den Körperbau der beiden anderen Hormontypen erkläre ich dir gleich. Lass mich erst mal die Gestagen-Frau zu Ende erzählen. Also, Frauen, die zu meinem Hormontyp gehören, sind vom Wesen her eigentlich recht ausgeglichen, ausdauernd und belastbar. Das kommt vom hohen Gestagenspiegel, der einen beruhigenden Effekt hat, weil die Wirkstoffe des Hormons die Nervenzellen stabilisieren. Östrogenfrauen hingegen sind eher die weiblichen Typen, die mit den berühmten Sanduhrfiguren. Auffällige Oberweite, gebärfreudiges Becken, runde Hüften, kräftige Schenkel, pralles Hinterteil ... recht füllig eben. Östrogene sorgen für rundliche, weichere Figuren und stellen zudem das Gemüt ruhig. Deswegen sind solche Frauen meist mitfühlend, hilfsbereit und insgesamt ziemlich unaufgeregt. Steigt allerdings der Östrogenspiegel zu sehr an, zum Beispiel vor der Periode, dann kann man sich auf Reizbarkeit, Stimmungsschwankungen und Heißhungerattacken gefasst machen. Tja, und das wirkt sich dann zusehends auf die Figur aus ... so wie ... hmmm... lass mich nachdenken ... so wie bei der Kardashian.“

„Kardashian? ... Kardashian? ...“, Claudia stocherte hörbar in ihrem Gedächtnis rum. „Ach so! Die! Bei der ist ja auch jeder Donut sofort für’n Arsch, hahaha!“

„Böses Mädchen! Sind wir heute ein bisschen gehässig?“, rügte ich.

„Okay, entschuldige. Hast ja recht“, Claudia räusperte sich kurz, „erzähl weiter.“

„Gut, wo waren wir? Ach ja, Östrogenfrauen sind übrigens auch ein perfektes Beuteschema paarungswilliger Männer.“

„Mag ja sein, jetzt kommen wir aber mal zu mir! Was bin ich noch mal für ein Typ? Was hast du gesagt?“

„Testosteron“, wiederholte ich. „Deinen Körperbau kennst du ja selbst am besten. Ich sag dir jetzt dazu ein paar Stichwörter und wenn ich mich täuschen sollte, dann sagst du mir das.“

„Alles klar. Okay. Ich bin so weit“. Claudia setzte sich kerzengerade auf den Stuhl, hob den Kopf und sah mir aufmerksam in die Augen.

„He, wir sind nicht in einer Quizshow, entspann dich.“

„Bin hochkonzentriert! Los, jetzt fang schon an. Sonst platze ich noch vor Ungeduld!“

„Also los“, begann ich, und Claudias Blick wanderte von meinen Augen auf meine Lippen, an denen sie hängen blieb wie ein Kolibri an einer Blüte.

Ich fing mit meiner Aufzählung an und brillierte so mit meinem neu erlangten Wissensschatz zum Thema Hormontyp.

„Athletischer Körperbau“, begann ich.

Claudia nickte.

„Breite Schultern.“

Claudia nickte.

„Mittelgroßer Busen.“

Claudia nickte zunächst, schüttelte aber gleich darauf den Kopf, um gedehnt „grooooßer Buuuuusen“ zu sagen. Dabei wippte sie schwungvoll mit ihrem Oberkörper auf und ab, sodass alles Vorhandene nur so hüpfte. Wir lachten.

„Konzentrier dich!“, ich erhob meinen Zeigefinger. „Weiter im Text: Kaum Hintern und schmale Hüften?“

Claudia nickte wieder, schüttelte aber gleich darauf erneut ihren Kopf, um wiederum übertrieben lang gezogen und mit einem rollenden R „geeeeiiiilerrr Hiiiinterrrrrrn“ zu sagen.

Bevor sie aufstehen konnte, um vielleicht auch mit ihrem Hintern auf- und abzuwippen, ermahnte ich sie streng, sitzen zu bleiben. Ansonsten, drohte ich ihr an, würde ich nicht weitererzählen.

„Starke Körperbehaarung.“

„Ja, sogar im Gesicht“, sagte Claudia traurig nickend. „Weißt du noch, wie ich damals wie eine Verrückte auf der Suche nach einem Färbemittel für meine dunklen Gesichtshaare war? Eine Drogerie nach der anderen habe ich abgeklappert. Damals gab es doch kein Internet. Gott, wie haben wir ohne eigentlich leben können?“

„Ja, ich kann mich erinnern. Hätte es nicht auch einfaches Rasieren getan?“

„Du bist gut. Ich hatte ja keinen simplen Damenbart. Kannst du dich nicht mehr an meine dunklen Haare im Gesicht erinnern?“

„Hmm, vage. Aber dafür hast du heute immer noch deine wahnsinnstolle Mähne! Um deine Haare habe ich dich schon immer beneidet.“

„Aber bestimmt nur um meine Haare auf dem Kopf“, sagte Claudia und sah etwas traurig in die Ferne.

„Ich wusste gar nicht, dass das so schlimm für dich war.“ Mitfühlend legte ich meine Hand auf ihren Arm. „Du hast nie so deutlich darüber gesprochen. Ist das nicht komisch? Jetzt kennen wir uns schon so lange und wir haben noch nie so ausführlich über diese Dinge gesprochen“, stellte ich nachdenklich fest.

Hierauf folgte ein kleiner Moment des Schweigens.

„Lass gut sein ... ich hab’s ja überstanden“, unterbrach Claudia die Stille dann mit einem Lachen. „Erzähl mir lieber mehr über mich als Testofrau. Das interessiert mich jetzt doch sehr. Also, meine körperlichen Attribute stimmen ja so weit. Und wie ist meine Psyche? Leg los.“

„Also Sahnetörtchen bei dir als Lustfaktor ist schon mal gar nicht!“, ich grinste. „Kleine Einführung zum besseren Verständnis: Testosteron ist das wichtigste männliche Geschlechtshormon, das beim Mann im Hoden und bei Frauen in geringen Mengen in den Eierstöcken und in der Nebennierenrinde produziert wird. Testosteron regelt den Haar- und Bartwuchs und – jetzt kommt’s – die Libido! Du als Testofrau bist quasi der Urtyp unter den Hormontypen.“

„Wunderbar, ich bin ein Urtyp!“, freute sich Claudia.

„In jeder Hinsicht!“, bestätigte ich augenzwinkernd. „Ja, und nachdem du körperlich so bist, wie ich dich eben beschrieben habe, und du schon immer für deinen Männerverschleiß bekannt warst, war es mir sofort klar, dass du eine geborene Testosteron-Frau, nämlich eine Jägerin, bist. Nun, und was deine Psyche anbelangt, so trifft die Beschreibung auch auf dich zu. Ein hoher Testosteronspiegel fördert die Wettkampfbereitschaft und macht scharf auf Erfolg. Du bist ja auch eine taffe und knallharte Geschäftsfrau. Von uns beiden warst du schon immer die Bestimmerin und hast lauthals den Ton angegeben. Deine Männer habe ich nie beneidet. Immer das letzte Wort und keine Kompromisse, stimmt’s?“

„Na ja, das musste ich ja. Mir blieb in meinen Beziehungen auch nie was anderes übrig“, schmollte Claudia ein bisschen.

„Warum blieb dir nichts anderes übrig? Vielleicht hättest du dich mal ein wenig auf die starken Arme deiner jeweiligen Partner verlassen sollen? So schwach werden diese ja nicht immer gewesen sein, behaupte ich mal.“ (Gespräche über Claudias Beziehungschaos hatten schon unzählige Abende gefüllt und schon unzählige Rotweinflaschen geleert.)

„Wenn man nicht alles selber macht, dann läuft doch nichts. Das weißt du doch auch nur zu gut!“, kam prompt von ihr als Antwort.

„Das ist auch typisch für Testosteron-Frauen, keine Kompromisse, lieber unabhängig bleiben, lieber alleine kämpfen, jagen und Karriere machen. Bloß nicht zu sehr auf einen Mann einlassen. Und Familie? Windeln wechseln? Du auf jeden Fall nicht. Du kriegst doch schon beim Wort Kinder einen Ausschlag.“

„Na, weil ich keine Kinder mag! Das beruht übrigens auf Gegenseitigkeit. Hab ich was verpasst? Gibt es irgendetwas Interessantes an Kindern? Irgendwas?“, empörte sich Claudia. „Die paar gemeinsamen Gene ... und wenn es irgendwann unter vierzehn Jahren zum Verbrecher wird, wirst du auch noch dafür haftbar gemacht.“

„Aber Babys findest du doch süß, oder?“

„Süß? Ist jetzt nicht dein Ernst? Babys? Die Dinger brechen doch jeden Lautstärkenrekord, und das mit Vorliebe in der Nacht. Dazu kommen noch die weitläufig beschissenen Meinungen anderer Frauen: Bekommst du eins und bleibst zu Hause, dann wirst du als arbeitsfaule Hausfrau beschimpft, und wenn du arbeiten gehst, dann wirst du als Rabenmutter beschimpft und die Tagesmutter frisst dein halbes Gehalt. Was ist daran jetzt süß?“

„Die Frage willst du jetzt nicht wirklich beantwortet haben?“ Ich sah Claudia eindringlich an.

„Was Kinder anbelangt, bin ich seit ein paar Tagen eh tierisch genervt“, sagte Claudia. „Neben uns war doch die Wohnung frei, und ich dachte eigentlich, dass ein schnuckeliger Junggeselle einzieht. Aber nein! Was krieg ich? Kinder!“

„Wie, du kriegst Kinder?“

„Muss doch nebenan eine Großfamilie mit zwei Kindern einziehen. Wie ist das denn auszuhalten?“, stöhnte Claudia.

„Zwei Kinder? Das ist doch keine Großfamilie“, lachte ich.

„Wieso? Findest du es etwa normal, in heutigen Zeiten überhaupt noch Kinder zu haben? Und wenn es denn schon sein muss, wieso gleich mehr als ein Kind? Mit Überbevölkerung retten wir die Welt garantiert nicht. Schau dir die Chinesen an, die limitieren schon lange. Das nenne ich mal vernünftig. Du hast doch auch nur ein Kind!“

„Na, das hat ja wohl in erster Linie mit meinem furchtbaren Geburtserlebnisschock und mit meiner gescheiterten Ehe zu tun. Danach war erst mal Schluss mit Familienplanung. Hätte ich allerdings jemals wieder ein Kind gewollt, dann wäre bestimmt nur eine Leihmutter infrage gekommen!“

„Für mich wäre schon eins zu viel gewesen, glaub mir. Da war mir mein unabhängiges Leben schon immer viel wichtiger“. Claudia nickte dabei energisch mit dem Kopf. „Stell dir vor, der Typ, mit dem ich vor Klaus zusammen war, sprach andauernd von Kindern. Furchtbar! Einmal sagte ich zu ihm, wenn er will, dann könnten wir welche haben. Er solle dann zu Hause bleiben und die Kinder erziehen. Und ich gehe arbeiten und unterhalte mich weiterhin mit klugen Leuten in meinem Alter, mit denen ich dann abends und an Wochenenden Fortbildungen besuche und mächtig Spaß dabei habe.“

„Und was hat der Typ dazu gesagt?“, fragte ich neugierig.

„Er dachte über eine Vasektomie nach!“

„Ist nicht wahr!“

„Ja, stimmt jetzt nicht so ganz“, sagte sie gedehnt, „aber Kinder waren bei diesen Aussichten urplötzlich dann doch kein Thema mehr für ihn. Außerdem verstehe ich auch gar nicht, warum Frauen ohne Kinder so angefeindet werden. Jeder soll doch seine Lebensplanung so gestalten, wie es ihm passt. Die ganzen Spießer um mich herum regen mich schon seit meiner Gebärfähigkeit mit dummen Sprüchen und Fragen auf. Die meisten Frauen waren doch immer nur neidisch auf mich, weil ich jederzeit überall hingehen konnte, wonach mir der Sinn stand, anstatt wie die mit ausgebeulten Jogginghosen vor dem Fernseher mit Kochsendungen zu verblöden oder im verregneten Siebentageurlaub im Allgäu zu versauern, weil das Geld mit all den Gören nicht mehr für die Karibik reicht. Also versteh mich jetzt nicht falsch. Von mir aus kann jeder so viele Kinder bekommen, wie er will, aber hängt mir dann bloß nicht mit eurem neidischen Vollgequassel in den Ohren, weil ich fünfmal im Jahr Urlaub mache und Cabrio fahre!“ Nach diesem Vortrag, ohne Punkt und Komma, schnaufte Claudia heftig durch, weil sie jetzt in Atemnot geriet.

 

„Halleluja! Es gibt sie tatsächlich: ehrliche Frauen mit ehrlichem Nichtkinderwunsch“, sagte ich lachend.

„Jawohl, es gibt sie und mir ist es egal, was die anderen denken!“, bestätigte Claudia. „Aber weißt du, was ich auch saublöd finde? Du kennst doch Bea, oder?“

„Die mit Norbert zusammen ist?“

„Ja, genau! Und Bea musste sich schon Anfang dreißig einer OP unterziehen, die sie die Gebärmutter kostete. Lange Zeit litt sie furchtbar darunter, hat sich dann aber voll in ihren Beruf gestürzt und ist mächtig erfolgreich geworden.“

„Ja, ich kann mich erinnern, aber warum erzählst du mir das?“

„Stell dir vor, Bea war letzte Woche mit ihrem Mann bei einem Geschäftsessen und die Dame des Hauses fragte sie nach ihren Kindern. Als Bea sagte, sie hätten keine, fragte die Hausdame schnippisch, ob sie auch so eine Karrieristin sei. Und das vor allen Leuten! Stell dir das mal vor!“

„Das ist ja unverschämt“, protestierte ich. „Wie kann man nur so taktlos sein? Die arme Bea.“

„Das hat sie nicht zum ersten Mal gehört, sagte sie mir. Und so was finde ich dermaßen zum Kotzen, verstehst du? Da haben die Leute keine Ahnung, quasseln dumm raus und verletzen andere damit.“

„Das stimmt. Aber das wird sich nie ändern. Und beim Thema Kinder scheiden sich eh die Geister. Ja, nein, vielleicht ... Die einen wollen und können nicht, die anderen wollen nicht und können, und die nächsten sollten nicht.“ Etwas hilflos zuckte ich mit den Achseln.

„Ja, das stimmt. Verrückte Welt. Am schlimmsten finde ich die Menschen, die plötzlich zu Eltern geworden sind. Von heute auf morgen meinen die dann, für alles Verantwortung übernehmen zu müssen. Für unsere Umwelt, Tempolimit, mehr Fußgängerampeln, keine Kraftausdrücke benutzen, keine laute Musik und was weiß ich nicht alles.“

„Stimmt. Als ich meinen Sohn geboren habe, machte ich es mir zur Aufgabe, die Welt für ihn zu retten.“ Ich musste in mich hineinlachen, als ich mich daran erinnerte, dass ich tatsächlich für einige Zeit zur durchgeknallten Ökotante mutiert war. Als ich allerdings bald merkte, dass mir in meinem Öko-Schlabber-Look die bewundernden Blicke der Männer fehlten, überließ ich die Rettung des Planeten anderen engagierten Müttern.

„Apropos Rettung des Planeten, da fällt mir eine Geschichte ein, die ich im Allgäu erlebt habe. Vor ein paar Wochen bin ich auf dein Anraten hin mit Klaus zum ersten Mal in meinem Leben ins Allgäu gefahren. Ich hab dir doch davon erzählt.“

„Ja, hast du. Ich finde es toll, dass du mal das wunderschöne Allgäu kennengelernt hast“, sagte ich verzückt, „und gefallen hat es dir ja auch.“

„Ja, hat es. Hör zu, was ich dir jetzt erzähle. Also, Klaus und ich hatten eine kleine Bergtour hinter uns und irgendwann war die Luft raus. Ich hatte keine Lust mehr. Also nahmen wir die Abkürzung über irgend so eine Wiese. Plötzlich blieb eine komplette Familie am Rand stehen und der bescheuerte Familienvater applaudierte uns zu. So ein Depp! Im ersten Moment dachte ich: Claudia – ignoriere das! Aber im zweiten Moment dachte ich: Claudia – wieso eigentlich? Das wäre doch eine gute Gelegenheit, ein bisschen von meinem Frust und meiner Aggressivität abzubauen, also steuerte ich direkt auf den Kerl zu. Klaus rief mir noch hinterher, was ich denn vorhabe. Ich gab ihm zur Antwort, dass heute sein Glückstag sei.“

„Wieso das denn?“, unterbrach ich Claudia.

„Das hat mich Klaus auch gefragt! Ganz einfach. Ich war auf dem besten Weg, mich mal so richtig auszukotzen. Das bedeutete folglich, dass Klaus an diesem Abend von meinen Attacken verschont bleiben würde. Alles klar?“

Ich nickte lachend.

„Ich also auf den Typ zu. Der hat vielleicht geguckt, als ich angedampft kam. Seine Frau hatte sich schon etwas abseits gestellt. Kluge Frau! Als ich dann knapp vor ihm stand, verschränkte er erst mal großkotzig seine Arme vor der Brust. ,Sagen Sie mal‘, sagte ich ruhig und leise zu ihm, ,wo kommen Sie eigentlich her?‘ ,Aus Hamburg‘, antwortete er. ,Aber was geht Sie das an?‘ Seine Frage ignorierend erkundigte ich mich, ob er Fleischesser oder Vegetarier sei. Verblüfft sah er mich an und antwortete, dass mich das auch nichts angehe und dass so wie er aussehe, wohl bestimmt kein Vegetarier aussehe. Was auch immer das heißen mag. Dann sah ich seine drei kleinen Gören der Reihe nach an und fragte ihn, ob das seine eigenen Kinder seien. Worauf er mit ,Ja, und jetzt ist aber Schluss mit der Fragerei. Was soll das überhaupt?‘ antwortete. ,Was das soll?‘, wiederholte ich. ,Nun, ich erkläre Ihnen, was das soll! Ich fasse mal zusammen: Sie fahren einmal quer durch Deutschland von Hamburg ins Allgäu, ja? Verpesten mit Ihrer Mistkarre die Luft und vergrößern das Ozonloch, ja? Erwarten aber, hier reine und klare Bergluft zu finden, ja? Zudem sind Sie Fleischesser und zerstören damit unser Ökosystem, ja? Und dann wagen Sie es auch noch, drei Kinder in die Welt zu setzen, obwohl unser Planet total überbevölkert ist, ja? Und Sie spielen sich als Feld- und Wiesenretter auf, indem Sie meinen, uns ironisch applaudieren zu müssen, weil wir fünf Gänseblümchen und drei Grashalme geknickt haben? Na Klasse! Wenn die Retter unseres blauen Planeten so wie Sie aussehen, na dann gute Nacht!‘ Dann wünschte ich ihm noch einen schönen Tag und zog äußerst befriedigt ab.“

„Ups! Und was hat er dann gesagt?“

Claudia grinste. „Na, nichts mehr. Als ich weiterlief, hörte ich noch seine Frau zischen, dass sie ihm doch gleich gesagt habe, dass er sich mit einer Frau in meinem Alter nicht anlegen solle. Was auch immer sie damit gemeint hat. Eins der Kinder fragte noch, was denn die Frau von Papa wollte, aber keiner der beiden gab darauf eine Antwort.“

„Kein Wunder. Das war echt überzeugend. So schlagfertig wäre ich nicht gewesen“, stellte ich fest. „Nur so zum Spaß noch eine klitzekleine Frage, wer soll denn mal deine Rente bezahlen?“

„Rente, Rente, Rente ... glaubst du etwa, das Kleinkind da hinter uns mit den verfaulten Zähnen im Mund, das pausenlos Schokolade in sich reingestopft bekommt, zahlt mir mal meine Rente? Mit vierzig sind die heutigen Zuckerkinder doch schon todkrank und leben vom Krankengeld! Wie sollen die dann noch für meine Rente aufkommen? Ne, ne ... also das Argument Rente zieht bei mir auch nicht mehr. Da musst du dir schon was Besseres einfallen lassen.“

„Aber jetzt bitte hier nicht explodieren, ne!“, lachte ich. „Siehste! Das hab ich mir doch gedacht, dass die Beschreibung für testosteronlastige Frauen exakt auf dich zutrifft. Du bist gerade wieder voll auf Testosteron. Du bist geradezu ein Paradebeispiel! Rauf aufs Pferd und losgeprescht ... auf klare Ansagen folgen sofort Taten. So hast du das auch früher schon gemacht, wenn dir nach Sex war.“

„Tja, as time goes by! Schluss mit Sex!“, sagte Claudia hart.

„Wie jetzt? Du bist doch mit Klaus noch zusammen, oder?“

„Ja, bin ich“, bestätigte Claudia.

„Und wo ist dann jetzt das Problem?“

„Ich hab’s dir doch gesagt! Wir haben seit drei Monaten keinen Sex mehr!“

„Oh mein Gott“, stöhnte ich. „Echt jetzt? DREI Monate? Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich netter zu dir gewesen“, witzelte ich.